Читать книгу In Erinnerung an dich - Jana Eckauer - Страница 5

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Es war 12 Uhr mittags, als Caitlyn schließlich aus dem Schlaf erwachte. Ihr Blick fiel auf den Wecker, bevor sie sich noch einmal umdrehte und die Augen schloss. Doch so sehr sie sich wünschte, noch einmal einzuschlafen, es klappte nicht. Sie hatte bereits zu lange im Bett gelegen. Also richtete sie sich auf und schlüpfte unter der Decke hervor.

Langsam schlurfte sie ins Badezimmer. Danach ging sie in die Küche und setzte sich einen Kaffee auf. Während das Wasser über das Kaffeepulver floss und als eine braune Flüssigkeit in die darunter stehende Kanne, begannen Caitlyns Gedanken zu kreisen. Wieder dachte sie an ihre beste Freundin, die sie verloren hatte. Amelias Mann hatte sie angerufen, nachdem es passiert war. Von ihm hatte sie die schrecklichste Nachricht erfahren, die man ihr je hätte überbringen können. Dabei musste es für ihn selbst ebenso schmerzhaft sein. Caitlyn fragte sich wie er wohl damit umging. Da sie nicht an ihr Telefon ging, wusste sie es nicht, hatte Amelias Mann das letzte Mal nach dem Unfall gehört, bei dem Amelia ums Leben gekommen war. Amelias Mann hatte Caitlyn aus dem Krankenhaus angerufen.

Es würde eine Beerdigung geben. Amelias Mann hatte Caitlyn eine Einladung geschickt mit Ort und Uhrzeit der Trauerfeier. Sicher gehörte auch er zu den Anrufern, die Caitlyn hatte abblitzen lassen. Die Einladung lag auf Caitlyn Nachttisch neben ihrem Bett. Nachdem sie sie vor ein paar Tagen gelesen hatte, hatte sie sich weder dazu entschließen können sie wegzuräumen, noch dazu, sich den Termin im Kalender einzutragen. Sie war noch nicht sicher, ob sie hingehen würde. Sie hatte Angst vor dem, was sie erwartete, Angst vor ihrem eigenen Schmerz und vor der Gewissheit, dass Amelia nie zurückkommen würde. Caitlyn wusste nicht, wie sie mit dieser Gewissheit umgehen sollte. Wenn sie sich zu Hause verkroch, dann musste sie der Realität wenigstens nicht direkt ins Auge sehen.

Der Kaffee war fertig und Caitlyn nahm eine Tasse aus dem Küchenschrank. Sie goss das heiße Getränk dort hinein und schüttelte etwas Zucker hinzu. Die dampfende Tasse in beiden Händen haltend begab sie sich ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. Obwohl es draußen hell war, war es hier dunkel. Caitlyn überlegte, ob die die Deckenbeleuchtung anschalten sollte, entschied sich dann aber dagegen und hieß anstatt dessen die Dunkelheit willkommen.

Sie nahm ein paar Schlucke des heißen Kaffees. Die Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, tat ihr gut. Sie atmete tief ein, um sich selbst zu beruhigen. Sie wusste nicht, wie ihr Leben ohne Amelia weitergehen sollte, musste sich erst einmal darauf konzentrieren, Minute für Minute zu überstehen. Amelias Tod hatte Caitlyn Leben in Stücke gerissen. Wie bei einem großen Puzzle, dessen Teile alle durcheinander geraten waren, musste sie nun die Scherben ihres Lebens neu zusammenfügen in der Hoffnung, dass das Bild, das daraus entstand, noch Sinn ergeben würde. Konnte es das jemals wieder tun?

Caitlyns Hände begannen zu zittern, weil ihre innere Anspannung so groß war. Sie stellte die Kaffeetasse auf den Tisch vor ihr, auf dem sich noch das Wasserglas vom Vortag befand. Dann lehnte sie sich auf der Couch zurück. Wieder traten ihr Tränen in die Augen, spülten den Schmerz aus ihrem Körper. Die innere Wunde war noch so frisch und Caitlyn fragte sich, ob sie wohl je verheilen sollte oder sie ihr Leben lang begleiten würde.

Als der Tränenstrom etwas versiegt war und ihre Sicht nicht mehr vor den Augen verschwamm, blickte sie auf ihre Armbanduhr, die auf dem Tisch lag. Sie wollte wissen wie spät es war, musste aber feststellen, dass es zu dunkel in dem Raum war, als dass sie die Lage der Zeiger auf der Uhr hätte erkennen können. Sie stand auf und ging zum Fenster. Einen Moment lang stand sie reglos davor, dann gab sie sich einen Ruck und zog die Gardinen auf, die sie am Vortag abends so voller Überzeugung geschlossen hatte.

Mit einem kratzenden Geräusch schob sich der Vorhang zur Seite und gab den Blick auf Caitlyn Balkon frei. Draußen schien die Sonne und hinterließ leuchtende Flecken auf dem Tisch und den Stühlen, die hier standen. Caitlyn blickte nach draußen und betrachtete, wie die Sonnenstrahlen von den Wasserpfützen auf dem Tisch reflektiert wurden. Das Licht blendende sie. Beinahe hätte sie ihren Blick wieder abgewandt und sich ins Zimmer zurückgezogen, da entdeckte sie einen Vogel, der auf der Lehne eines ihrer Balkonstühle saß. Es war eine Blaumeise. Aufgeregt schaute das Tier sich um und sprang kurz darauf auf den Tisch, wo Caitlyn eine noch bessere Sicht von ihrem Standpunkt aus hatte. Sie stand ganz still da, um die Meise nicht zu verscheuchen und betrachtete sie. Dieses Mal schaffte sie es, dem Impuls zu wiederstehen, auch die Natur draußen aus ihrem Leben ausschließen zu wollen.

Die kleinen Pfützen, die der Regen auf dem Holz des Tisches hinterlassen hatten, weckten die Aufmerksamkeit der Meise, sie hüpfte an deren Rand und begann daraus zu trinken. Hastig sog der kleine Schnabel das Wasser auf, das sich dort gesammelt hatte. Caitlyn sah zu wie die Pfütze kleiner wurde und das Wasser in der Kehle des Vogels verschwand. Dann schaute die Meise auf, blickte sich erst sichernd um, dann sah sie Caitlyn direkt an, die hinter der Fensterscheibe stand. Sie war sich sicher, dass der Vogel ihre Gestalt wahrnahm.

„Na, du kleine.“, flüsterte Caitlyn liebevoll und es waren die ersten Worte, die sie seit der Nachricht von Amelias Tod überhaupt gesprochen hatte.

Aus schwarzen runden Augen musterte die Meise Caitlyn und legte den Kopf leicht schief. Sie starrte zurück und bemerkte dabei, dass etwas in den Anblick sie rührte. Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, bevor sie ihre Lippen zusammenpresste und in ihre Schwermut zurückfiel. Die Meise wandte ihren intensiven Blick ab und hüpfte über den Balkontisch. Caitlyn folgte ihr mit dem Blick, aber ohne dabei zu lächeln. Sie betrachtete das bunte Federkleid des Vogels. Obwohl es schon wärmer draußen war, hatte er sich aufgeplustert, was ihm etwas besonders Niedliches verlieh. Das Köpfchen mit der blauen Haube blickte abwechselnd zu Caitlyn und in die Umgebung. Als die Meise Caitlyn schließlich den Rücken zudrehte, sah sie inmitten der blauen Schwanzfedern eine weiße, die sich farblich von den übrigen abhob. Caitlyn fragte sich, wie der Unterschied wohl zustande kam. Vielleicht war es einfach ein harmloser genetischer Defekt oder aber mit der Feder war etwas passiert. Aber was sollte das sein? Caitlyn schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht, aber das spielte im Grunde auch keine Rolle.

Sie sah der Meise noch eine ganze Weile dazu zu, wie sie sich auf ihrem Balkon vergnügte. Dann irgendwann flog sie fort und Caitlyn wandte sich vom Fenster ab. Die Gardine ließ sie offen, sodass das Tageslicht in den Raum fiel. Dann setzte sie sich wieder aufs Sofa. Sie starrte die Wand an, die sich ihr gegenüber befand, jedoch ohne wirklich hinzusehen. Anstatt dessen flogen ihre Gedanken weit fort in eine andere Zeit an einen anderen Ort. Sie war wieder jugendlich, ein Schulmädchen in der gymnasialen Oberstufe, das mit ihrer besten Freundin die Pause zusammen verbrachte.


Hey, da bist du ja endlich. Ich habe schon sehnsüchtig auf dich gewartet.“, erklärte Amelia, die am Ausgang der großen Tür stand, die vom Schulgebäude auf den Schulhof führte.

Hallo!“, entgegnete Caitlyn und warf sich in Amelias Arme, „Sorry du, Herr Schulze hat mal wieder überzogen. Du weißt ja, wie das ist. Schließlich hattet ihr ihn doch letztes Jahr in Geschichte.“

Herr Schulze war im letzten Schuljahr Amelias Klassenlehrer gewesen, bevor er die Klasse an eine deutlich jüngere Lehrerin abgegeben hatte. Nun hatte Caitlyn ihn in Erdkunde, zwar nicht als Klassenlehrer, aber seine Marotten waren ihr dennoch auch so schon überdrüssig. Herr Schulze war kein so beliebter Lehrer bei den Schülern. Das lag nicht allein daran, dass er die weniger guten Schüler ständig klein machte, auch seine Art zu unterrichten war nicht sonderlich geschickt. Die wenigsten interessierten sich für seinen Unterricht und anstatt etwas an seiner Art zu ändern, hängte er die Minuten, die er meinte durch die Unaufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern verloren zu haben, hinten dran. Er zog sie von der Pause ab und so manches Mal war dieses Vorgehen nicht gerechtfertigt gewesen.

Oh ja. Verstehe.“, sagte Amelia mitfühlend und drückte ihre Freundin an sich.

Auch wenn Amelia und Caitlyn auf dieselbe Schule gingen, so besuchten sie doch unterschiedliche Klassen. Amelia war ein Jahr älter als Caitlyn und ging damit in eine Klassenstufe über ihrer Freundin. In den Pausen trafen sie sich regelmäßig auf dem Schulhof oder in den Schulfluren je nach Wetter. Das waren für beide Mädchen die schönsten Momente des Schulalltags. Manchmal fieberten sie in besonders langweiligen Unterrichtsfächern schon ihrem Treffen in der Pause entgegen. Dann erschien ihnen das Wiedersehen umso schöner.

Wollen wir auf den Hof?“, fragte Amelia und Caitlyn nickte zustimmend.

Gern.“

Sie waren beide gern an der frischen Luft, also gingen sie gemeinsam nach draußen und über den Schulhof, hinter der Turnhalle entlang und um das Schulgebäude, bis sie wieder am Eingang zurück waren. Das war eine Runde, die man sogar in einer kurzen Pause schaffen konnte, wenn man sich beeilte und nicht stehen blieb. Aber dieses Mal hatten sie Zeit. Sie machten hinter dem Schulgebäude eine Pause. In einiger Entfernung standen andere Schülerinnen und Schüler und rauchten heimlich. Das waren diejenigen, die sich noch nicht in den offiziellen Raucherbereich wagten, weil sie noch minderjährlich waren. Caitlyn hatte den Geruch nach Zigaretten schon immer eklig gefunden und sie war froh, ihn nicht wahrzunehmen an der Stelle, an der sie standen.

Amelia öffnete die Brotbox, in der sich ihr Pausenbrot befand und die sie bislang in der Hand gehalten hatte. Zwei mit Schokoladenaufstrich beschmierte Vollkornbrote lagen darin. Es war die Art von Schulfrühstück, die die beiden Mädchen liebten.

Amelia hielt Caitlyn die Brotdose hin.

Nimm dir ruhig wieder eines.“, sagte sie und Caitlyn lächelte dankbar.

Dann nahm sie eines der Brote in die Hand, Amelia nahm das andere. Schweigend aßen sie eine Weile lang und betrachteten ihre Umgebung.

Manchmal kommt es mir so vor als wären wir Schwestern.“, sagte Caitlyn nach einer Weile.

Amelia nickte.

Ja. Das habe ich auch schon oft gedacht.“, erklärte sie, „Im Augenblick sind wir wie zwei Schwestern, die miteinander frühstücken.“

Sie lachten beide und Caitlyn fiel auf, wie schön sich das anhörte, wenn ihr beider Lachen sich miteinander vermischte und eine neue Melodie kreierte.

Deine Pausenbrote sind echt gut.“, lobte Caitlyn.

Ich weiß.“, erklärte Amelia.

Ihre Mutter machte sie ihr jeden Morgen und jedes Mal betonte Amelia, dass sie besonders viel Schokoladenaufstrich darauf schmieren sollte, weil sie wusste, dass Caitlyn die Brote so mochte und sie sie beinahe jeden Tag mit Caitlyn teilte.

Ein Kohlweißling flog vor ihnen über das spärliche Gras, das neben dem Schulgebäude wuchs und ließ sich an einer Löwenzahnblüte nieder.

Wie schade, dass wir nicht hier draußen Unterricht haben können.“, sagte Amelia nach einer Weile, „Ich meine, ich würde viel lieber neben den Schmetterlingen hier sitzen als auf einer Schulbank, die knarrt und unter der sich schon der Staub kräuselt.“

Caitlyn nickte. So wie Amelia es gesagt hatte, machte es tatsächlich Sinn und auch sie wünschte sich einen Unterricht draußen. Dabei hatte sie zuvor noch gar nicht darüber nachgedacht. Sie blickte Amelia an, bewunderte sie insgeheim für ihre Verbundenheit zur Natur, die sich in diesem Augenblick wieder einmal offenbarte.

Ja, das wäre tatsächlich mal eine tolle Erfindung.“, bestätigte Caitlyn und musterte die Umgebung, „Allerdings könnten dann nicht alle Klassen draußen sein, nur immer ein oder zwei. Ansonsten würde man sich gegenseitig stören, weil man zu eng aufeinander hockt.“

Sie spann den Gedanken weiter, den Amelia angeregt hatte. Es machte ihr Spaß, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen.

Und man würde auch nichts mehr verstehen, wenn die Lehrer so dicht beieinander stehen müssten. Dann würden sich ja ihre Stimmen überlagern.“, stimmte Amelia zu.

Oder man könnte sich aussuchen, welchem Lehrer man zuhört. Wenn man keine Lust auf den eigenen Unterricht hat, nimmt man eben den der Parallelklasse.“, scherzte Caitlyn und sie lachten wieder.

Problematisch wird es dann nur, wenn dann die Arbeiten kommen oder wenn man die Aufgabe nicht erledigen kann, die jeder in Stillarbeit machen soll.“

Oder stell dir mal vor, wie es mit den Gruppenarbeiten dann wäre. Wenn wirklich alle Leute durcheinander reden.“

Oh Mann.“

Aber die Idee ist trotzdem klasse. Die werde ich mir merken.“

Sie hatten die Brote aufgegessen und machten sich langsam auf den Rückweg zum Haupteingang des Schulgebäudes.

Was hast du jetzt nochmal?“, wollte Amelia wissen.

Es war noch zu Beginn des Schuljahres und sie hatte sowohl ihren eigenen Stundenplan als auch den ihrer besten Freundin noch nicht im Kopf. Später sollte sie immer aus dem Kopf wissen, was wer von ihnen wann für ein Fach hatte.

Englisch.“, meinte Caitlyn, „Das ist eines meiner Lieblingsfächer.“

Amelia erklärte, dass sie Mathe habe, dann verabschiedeten sie sich und gingen zu ihren jeweiligen Klassenräumen, wo jeder von ihnen mit der Menge der Gleichaltrigen verschmolz, die zwar vertraut war, aber doch keinem von ihnen so nah wie sie einander waren.


Caitlyn atmete schnell, als die Erinnerung von ihr abfiel und ihr Verstand zurück in die Realität fand. Ihr Herz hämmerte wie wild, als wollte es gleich zerspringen. So viele Erinnerungen trug sie mit sich an ihr gemeinsames Leben, die in ihrer Schönheit kaum zu übertreffen waren und die gerade deshalb nun so schmerzten. Wie gern hätte Caitlyn mit Amelia jetzt zusammengesessen und sich mit ihr an die gemeinsame Schulzeit erinnert. Das hatten sie früher oft getan. Wie gern würde sie Amelia jetzt fragen „Weißt du noch, als du vorgeschlagen hast, wie sollten unseren Unterricht nach draußen verlagern?“ Sicher hätte Amelia dann gelacht und ihr versichert, dass sie nichts davon vergessen hatte und je vergessen würde. Doch was war nun? Ob ihre Freundin die Erinnerungen immer noch bei sich trug wo auch immer sie nun war oder ob sie mit ihr gestorben waren, ausgelöscht wie ihr kostbares Leben, das vor ein paar Tagen ein viel zu frühes Ende gefunden hatte?

Caitlyn stand auf und ging in die Küche, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte. Nun spürte sie, wie sehr ihr Magen knurrte. Es musste mehrere Tage her sein, dass sie etwas gegessen hatte. Vorsichtig öffnete sie den Kühlschrank, als müsste sie es heimlich tun, weil jemand sie beobachtete und ihr vorwerfen könnte, sie würde nicht genug um ihre Freundin trauern, wenn sie etwas zu sich nahm. Sie holte sich dennoch das angefangene Brot aus dem Kühlschrank und schnitt sich zwei Scheiben davon ab und legte sie auf einen Teller. Dann bestrich sie sie mit der Nussnougat-Creme, die sie noch zu Hause hatte. Es schmeckte anders als die Pausenbrote, die sie mit Amelia geteilt hatte und an deren Geschmack Caitlyn sich noch gut zu erinnern glaubte. Es war eine andere Sorte Brot. Aber dennoch beruhigte sie das Gefühl, etwas in Andenken an Amelia zu tun. Es gab ihr das Gefühl, als wäre ihre beste Freundin nicht ganz tot, als würde sie in ihrem Herzen und in ihren Gedanken, in ihrer Erinnerung, weiterleben.

Nachdem kurzen Frühstück zog Caitlyn sich rasch das Nachthemd aus, das sie noch trug und zog sich Pullover und Jeans an. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sich selbst im Spiegel und blickte schnell wieder weg. Ihre Augenlider waren vom Weinen geschwollen, ihre Haut im Gesicht gereizt von dem Salz ihrer Tränen. Doch sie hatte keine Lust sich zu schminken und ihre Trauer zu kaschieren. Für wen? Sie wollte doch so oder so niemanden sehen. Also begnügte Caitlyn sich damit, ihr Gesicht zu waschen und abzutrocknen. Nun kam es ihr vor, als hätte sie bereits zu viel Energie verbraucht. Also ging sie zurück ins Wohnzimmer, um sich dort erschöpft auf das Sofa zu legen. Caitlyns Wohnung besaß neben der großen Küche und dem Badezimmer die beiden Zimmer, die sie als Wohn- und Schlafzimmer eingerichtet hatte. Früher, als ihr Freund noch hier gewohnt hatte, hatte eines der Zimmer ihm gehört und das andere ihr. Damals hatte sie im selben Zimmer geschlafen und sich aufgehalten, wenn sie sich zurückziehen wollte, um zu lesen oder einfach ihren Gedanken nachzuhängen. Der Fernseher hatte schon damals in dem heutigen Wohnzimmer gestanden, das früher das Zimmer ihres Freundes gewesen war. Er hatte am meisten von ihnen beiden ferngesehen und wenn sie sich zusammen eine Sendung hatten anschauen wollen, dann war Caitlyn dafür in sein Zimmer gekommen. Sie vermisste ihren damaligen Freund kaum noch. Ihre Trennung lag über ein Jahr zurück und sie hatte das Gefühl, dass sie diese inzwischen ganz gut verarbeitet hatte. Würde das auch passieren, wenn Amelia mehr als ein Jahr tot war? Caitlyn schüttelte den Kopf. Sie konnte es sich nicht vorstellen, konnte sich nicht vorstellen, dass der Schmerz jemals nachlassen würde. So viele Jahre hatte sie Amelia gekannt, sie hatten so viel zusammen erlebt, waren sich stets so nah gewesen. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich mehr mit Amelia verbunden als mit all den Männern und Jungen, zu denen sie einmal eine Beziehung gehabt hatte, nur dass sie eben nicht in Amelia verliebt war. Das, was sie für sie empfand, war eher eine stille Bewunderung, fast wie ein geheimes Anbeten, ein Feuer, das sich in ihrem Herzen ausbreitete ohne Begehren zu schüren. Sie fand Amelia wunderschön, ohne, dass sie für sie sexuell anziehend war. Sie wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, auf diese Art etwas mit ihrer Freundin anzufangen und Amelia ihrerseits wohl auch nicht. Sie hatte irgendwann geheiratet und Caitlyn war als Trauzeugin auf die Hochzeit gegangen. Caitlyn hatte nie so etwas wie Eifersucht Amelias Mann gegenüber empfunden, der die intensive Beziehung zwischen den beiden Frauen voll und ganz zu akzeptieren schien.

Caitlyn legte sich auf dem Sofa hin und streckte die Beine aus. Auch an diesem Tag hatte Caitlyn vor, den Fernseher auszulassen. So wie sie ihre Freunde und Bekannte nicht sehen wollte, wollte sie auch niemandem im Fernsehen sehen, keine Schauspieler, keine Nachrichtensprecher und auch keine Menschen in den Werbepausen, einfach niemanden.

Caitlyn starrte an die Decke, zählte die kleinen Kästchen des Musters, das sich darauf befand, um sich von der Traurigkeit abzulenken, die sie wieder eingeholt hatte. Als sie hier in die Wohnung eingezogen war, war die Decke so schmutzig gewesen, dass sie und ihr Freund etwas hatten tun müssen. Zuerst hatten sie sie einfach in Weiß überstreichen wollen, aber dann hatten sie es sich anders überlegt. Da sie so oder so Arbeit hatten, die Decke zu verändern, hatten sie beschlossen, sich etwas Außergewöhnlicheres zu gönnen. Ihr Freund hatte sich das damals so gewünscht. Also hatte sie auch die Decke zusammen mit Tapete beklebt, welche ein schlichtes Karomuster aufwies. Sie hatte ihr immer gefallen und nun verschaffte sie Caitlyn die Ablenkung, die ihr willkommen war.

Sie war bereits bei hundert angelangt, als Caitlyn die Augen zufielen. Sie fühlte sich in den letzten Tagen so müde wie schon lange nicht mehr in ihrem Leben. Vielleicht lag das daran, dass sie so viel weinen musste. Es war ja bekannt, dass Weinen zwar lösend wirkte, aber den Körper auch anstrengte. Caitlyn gab sich unter geschlossenen Augenlidern einer Ruhe hin, die ihr willkommen war. Dann schlief sie trotz des Kaffees, den sie getrunken hatte, für einige Minuten ein.

Sie erwachte von einem Klopfen auf ihrem Fensterbrett. Sie erschrak nicht, vielmehr nahm Caitlyn einfach zur Kenntnis, dass das etwas auf dem Metall der Fensterbank hinter ihrem Wohnzimmerfenster gelandet war. Vielleicht hatte es wieder angefangen zu regnen. Sie drehte sich auf der Couch und schloss erneute die Augen ohne nachzusehen, wollte wieder abtauchen in die Ruhe des Schlafes. Doch das Klopfen wurde mehr und hörte sich nun zwischendurch an wie ein Scharren von etwas auf dem Metall. Caitlyn war immer noch nicht gewillt, den Geräuschen Beachtung zu schenken. Da erst vernahm sie ein leises Zwitschern zwischen den Klopfgeräuschen. Ein Vogel machte es sich wohl auf ihrem Fensterbrett bequem. Als Caitlyn immer noch nicht reagierte, wurde das Zwitschern lauter und es erschien ihr beinahe so, als würde sie jemand rufen, ein Vogel und kein Mensch.

Endlich beschloss Caitlyn vom Sofa aufzustehen und zum Fenster zu gehen, um nachzusehen, was dahinter los war.

Es war die Blaumeise, die sie gerufen hatte und die auf dem Fensterbrett herumhüpfte und Caitlyn hin und wieder ansah. Caitlyn betrachtete das Tier, suchte nach dem Erkennungszeichen, der weißen Schwanzfeder und als sie sie sah, huschte ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht.

„Ach, du bist es.“, sagte sie und es klang gleichzeitig erstaunt und freudig.

Als die Meise ihr Zwitschern intensivierte, kam es Caitlyn vor, als würde sie ihr antworten. Es war eine wunderschöne Melodie, die da der kleinen Vogelkehle entschlüpfte und Caitlyns Ohren erfüllte. So sehr sie im Augenblick die Eindrücke und Geräusche scheute, so sehr war sie doch ergriffen von dem Klang, der sich ihr bot. Sie wünschte sich, dass er nie wieder enden möge und das tat er auch nicht so schnell.

Als die Meise allerdings das Fensterbrett erkundet zu haben schien, flog sie wieder auf den Tisch, der auf dem Balkon stand. Vielleicht war es auch einfach wieder der Durst, der sie dorthin lockte. Caitlyn dachte bei sich, dass sie nach einer Gesangseinheit auch durstig gewesen wäre. Wenn sie in der Schule und später im Studium einen Vortrag hatte halten müssen, hatte sie danach immer einen trockenen Hals gehabt. Vielleicht ging es der Meise ja ähnlich.

Nachdem er sich gestärkt hatte, fing der kleine Vogel wieder an zu singen und Caitlyn sah ihm dabei zu. Sie ging ein Stück zur Seite, um einen besseren Blick zu haben und die Meise ließ sich von der Bewegung hinter dem Fensterglas nicht beunruhigen oder gar verscheuchen. Sie schien besonders zutraulich zu sein. Dennoch traute sich Caitlyn nicht, das Fenster oder die Balkontür zu öffnen. Dann hätte die Meise sicherlich doch Angst bekommen und wäre davongeflogen.

Die Kehle des Vogels vibrierte unter den Tönen, die sie hervorbrachte wie ein kleines Wunderwerk der Natur. Trotz der zierlichen Gestalt und der geringen Größe der Meise, konnte diese doch so laut singen. Caitlyn war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, die Meise zu übertönen, sollte sie es versuchen. Aber sie tat es natürlich nicht, sondern hörte viel lieber nur zu. Im Gegensatz dazu, wenn Menschen sprachen, machte es nichts, wenn Caitlyns Aufmerksamkeit hin und wieder fortdriftete, bevor sie wieder ganz bei dem Vogelgesang war. Da waren keine Worte, die sie verfolgen und deren Sinn sie begreifen musste, vielmehr musste sie die Klänge einfach nur mit dem Herzen aufnehmen. Das tat sie und hierin fand der Gesang der Meise bald eine besondere Resonanz. Es war, als würde er etwas in ihrem Herzen ebenfalls zum Schwingen bringen, eine Saite des Glücks, von der Caitlyn nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt dort gab. In kurzen Schüben spürte sie diesem Glück nach, aber es hielt nie lange an, weil es stets von einer Dunkelheit überschattet wurde, die seit Amelias Tod ihr Herz eingenommen hatte.

Als die Meise schließlich fortflog, überließ sie Caitlyn wieder ganz ihrer Traurigkeit. Sicher musste sie noch woanders hin, konnte sich nicht den ganzen Tag an einem Ort aufhalten und musste überdies nach Nahrung suchen.

Caitlyn ging zurück zur Couch und ließ sich mutlos darauf fallen. Wäre doch nur Amelia hier und könnte mit ihr reden. So oft, wenn Caitlyn traurig gewesen war, hatte sie Trost bei ihrer Freundin gefunden und umgekehrt hatte auch Amelia stets bei Caitlyn Beistand bekommen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Doch jetzt war Amelias Tod es, wegen dem Caitlyn in einen Abgrund fiel und genau der Mensch, den sie am meisten gebraucht hätte, war nicht da, würde nie wieder da sein.

Lustlos griff Caitlyn nach der Fernsehzeitung, die auf dem Tisch lag und begann darin zu blättern, nicht, weil sie wirklich nach einer Sendung schaute, die sie sehen wollte, sondern vielmehr um irgendetwas zu tun und sich dadurch abzulenken. Sie las die Zusammenfassungen der Spielfilme und die Überschriften der einzelnen Sendungen ohne wirklich ein Wort zu verstehen. Ihr Verstand fühlte sich benebelt an, als hätte die Trauer ihm die Fähigkeit genommen, klar und konzentriert zu denken. Aber zum Glück gab es hier niemanden, der sie abfragen würde, was sie gelesen hatte, der sie dafür verurteilen würde, dass sie sich etwas nicht gemerkt hatte und so beschloss sie, dass sie sich zumindest selbst auch so annahm wie sie gerade war, so zerrüttet und emotional fertig.

Nach einigem Lesen stieß Caitlyn auf die Beschreibung einer Naturdokumentation, die an diesem Tag ausgestrahlt wurde. Sie blickte auf die Uhr. Die Doku begann in einer Stunde und sie nahm sich vor, bis dahin genug Kraft zusammen zu sammeln, um sie sich anzuschauen. Sie würde den Ton ausschalten, so musste sie niemanden hören und konnte einfach nur die Tiere beobachten, so wie die Meise auf ihrem Balkon.

Caitlyn legte sich wieder auf die Couch und versuchte, sich auf ihren eigenen Atem zu konzentrieren, das Ein und das Aus. Sie versuchte sich vorzustellen, dass mit jedem Atemzug ein wenig der Trauer aus ihr herausströmte und sie frische Luft voller Energie einatmete. Doch ihre Vorstellungskraft reichte dieses Mal nicht aus und ihr kamen doch wieder die Tränen. Also ließ sie sie laufen, da sie doch heraus wollten. Vielleicht würde es ja irgendwann leichter werde, vielleicht in ein paar Jahren. Aber eigentlich glaubte sie nicht wirklich daran.

Die Minuten strichen dahin und irgendwann war die Stunde tatsächlich vorbei und Caitlyn schaltete den Fernseher ein und wählte den Sender, der die Naturdokumentation zeigen sollte. Als sie die Stimmen von Menschen im Fernsehen vernahm, stellte sie schnell den Ton aus. So hatte sie es sich vorgenommen, das war ihr angenehmer. Im Augenblick hatte Caitlyn das Gefühl, dass sie Bilder von der Natur ertragen konnte, aber Stimmen überforderten sie.

Sie legte die Fernbedienung auf den Tisch und lehnte sich zurück. Ihr benutztes Taschentuch stecke sie sich in die Hosentasche in der Hoffnung, es zumindest während der Sendung nicht wieder benutzen zu müssen. Dann ließ sie die Eindrücke ganz unterschiedliche Tiere an sich vorbeiziehen, schenkte ihnen so viel Aufmerksamkeit wie sie konnte und entfloh dabei für anderthalb Stunden ihrer Realität und ihrem seelischen Schmerz.

Erst als sie den Fernseher wieder ausschaltete, spürte Caitlyn, dass sie eine Spur glücklicher war. Tiere und die Natur hatten seit jeher positive Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Es war lange bekannt, dass sie beruhigend wirkten und hin und wieder sogar Kummer oder Krankheiten zu heilen vermochten. Nicht umsonst gab es Therapieansätze für Menschen, die lebende Tiere miteinschlossen, wobei leider nicht immer auf das Wohl der Tiere geachtet wurde und die deswegen nicht zu empfehlen waren. Caitlyn erinnerte sich, dass sie sich als Kind zusammen mit Amelia schon an Marienkäfern hatten freuen können. Wir gern hatten sie beide sie damals auf die Hand genommen und die Käfer darauf herumkrabbeln lassen.


Schau mal.“, rief Amelia aufgebracht und zupfte Caitlyn am Jackenärmel, sodass sie sich zu ihr umdrehte.

Dann deutete Amelia auf das Gras neben ihr. Caitlyn betrachtete den kleinen roten Punkt, der mühsam an einem Grashalm emporkletterte.

Ein Marienkäfer.“, stellte Caitlyn fest und blickte wieder ihre Freundin an.

Sie wollte weiter gehen, aber Amelia schien von dem Käfer fasziniert zu sein. Sie wollte ihn unbedingt auf die Hand nehmen. Also hockte sie sich hin und hielt ihren Zeigefinger an den Grashalm, auf dem das Insekt saß. Wenig später krabbelte der Marienkäfer munter auf ihre Hand. Sie hob ihn hoch, um ihn Caitlyn zu zeigen.

Voll cool. Ich glaube, er fühlt sich wohl bei mir.“, erklärte Amelia stolz.

Caitlyn nickte.

Ja. Er mag die Wärme deiner Hand. Die lässt ihn mobil werden.“

Amelia lachte und Caitlyn fiel in ihr Lachen ein. Es war ansteckend. Dann ließ sie den Käfer auf die Hand ihrer Freundin krabbeln und Caitlyn betrachtete die kleinen Beinchen, die über ihre Haut flitzten. Es kitzelte ein wenig, aber es war nicht unangenehm, eher lustig.

Caitlyn zählte die Punkte. Es waren genau sieben. Dabei hatte sie schon oft Marienkäfer gesehen, die noch mehr Punkte besaßen. Aber das hier war ihr Glückskäfer, ein richtiger Marienkäfer.

Der Marienkäfer mag dich auch.“, erklärte Amelia, „Das sehe ich.“„Woran erkennst du das?“

Erstaunt blickte Caitlyn ihre Freundin an.

Ach, einfach, weil er so munter auf dir herumkrabbelt. Wenn er Angst hätte, würde er sich in eine Ecke zurückziehen und dort verharren bis du ihn wieder freigibst.“

Caitlyn nickte. Das klang tatsächlich nach einer guten Erklärung und sie freute sich über die Zuneigung des Käfers, ein kleines Kompliment der Natur.

Sollen wir ihn wieder frei lassen?“, fragte Caitlyn nach einer Weile.

Ach warte. Ich will ihn noch mal nehmen.“

Als wäre es ein geliebtes Haustier, übergab Caitlyn ihrer Freundin den Käfer, der mutig Amelias ausgesteckte Hand erklomm.

Juhu. Ich hab ihn wieder.“, jubelte Amelia und beobachtete, wie der Marienkäfer sich fortbewegte. Sie hätte ihm ewig zuschauen können, ohne, dass es ihr langweilig geworden wäre. Sie ließ das Tier abwechselnd auf ihrer linken und auf ihrer rechten Hand herumlaufen. Ein Lächeln lag in Amelias Gesicht. Caitlyn, die ihre Freundin von der Seite beobachtete, musste ebenfalls lächeln, als so schön empfand sie den Anblick, der sich ihr bot.

So viele Menschen gingen einfach an den Tieren der Welt vorbei ohne sie anzuschauen und ihre Schönheit zu bestaunen. Vielen war es egal, dass sie den Planeten mit so vielen Lebewesen anderer Arten teilten, die es zu schützen galt. Amelia und Caitlyn gehörten nicht dazu. Sie teilten die Freude über die Marienkäfer miteinander so wie sie sich zusammen an Fernsehsendungen erfreuten und an Büchern sowie an gemeinsamen Unternehmungen.

Amelia hielt den Käfer in die Sonne, ließ die Sonnenstahlen direkt auf seinen Rücken scheinen und beobachtete, wie sie diesen zum Glänzen brachten. Kurz darauf spreizte der Marienkäfer seine Flügel und flog davon. Eigentlich hatte Amelia das Tier wieder ins Gras setzen wollen an die Stelle, an der sie ihn aufgelesen hatte, aber so war es auch gut. Caitlyn und Amelia folgten beide dem roten Punkt, der über die Landschaft schwebte, sahen zu, wie er immer kleiner wurde, bis er schließlich nicht mehr zu erkennen war.


Wie sehr Caitlyn Amelias Zuneigung zur Natur schon immer bewundert hatte! Irgendwann schien dieses Gefühl in ihr eigenes Herz übergesprungen zu sein. Wann das passiert war, konnte sie nicht mehr genau sagen. Auf jeden Fall musste es noch in ihrer Kindheit geschehen sein.

Das Telefon klingelte wieder, wohl zum ersten Mal an diesem Tag und Caitlyn zog für einen Moment in Erwägung, heranzugehen. Sie stand auf und ging auf das Telefon zu. Dann sah sie die Nummer und hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihr Herz stehen bleiben würde. Auf dem Display stand der Name ihre besten Freundin: Amelia. Es war die Nummer des Festnetzanschlusses ihrer Familie, den Caitlyn irgendwann unter Amelias Namen abgespeichert hatte. Von dieser Nummer aus versuchte sicher Amelias Mann Frank, Caitlyn jetzt zu erreichen. Caitlyns Lippen begannen zu beben und sie sank auf dem Boden auf die Knie, während das Telefon weiter klingelte. Sie schaffte es noch nicht einmal, sich wieder auf das Sofa zu setzen, geschweige denn, den Anruf entgegenzunehmen. Ob Frank wohl schon oft versucht hatte, sie zu erreichen?

Caitlyn vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien, während sie auf den Unterschenkeln saß. Sie verfiel in ein lautes Schluchzen. Es war noch zu viel. Es war einfach alles zu viel. Allein der Gedanke, dass jemand sie mit der Nummer ihrer Freundin anrief und es nicht Amelia war, riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Er brachte das Kartenhaus ihres Lebens zum Einstürzen und begrub alles, was einmal gewesen war unter Trümmern. Caitlyns Tränen sogen sich in den Jeansstoff ihrer Hose, aber es war ihr egal. Vielmehr bekümmerte sie das Gefühl, verrückt zu werden vor Kummer.

Frank hinterließ keine Nachricht, sondern legte schließlich auf. Vielleicht war es ihm unangenehm, das, was er ihr zu sagen hatte, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Es war auch für ihn nicht leicht. Er hatte seine Frau verloren. Sicher würde er später nochmal anrufen und Caitlyn wusste nicht, was sie dann tun sollte.

Es gab Menschen, die z.B. durch Naturkatastrophen, durch Kriegserlebnisse, durch sexuelle und körperliche Gewalt traumatisiert wurden. Sollte Caitlyn nun auch so jemand sein, ein Mensch, der in diesem Fall durch den Tod eines nahestehenden Menschen ein Trauma erfuhr? Sie zitterte unkontrolliert, hatte das Gefühl, die Kontrolle über ihren eigenen Körper zu verlieren und fühlte sich der Situation so ausgeliefert. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun könnte, um wieder in ihren normalen Alltag zurückzukehren. Er schien ihr mittlerweile Lichtjahre weit in die Ferne gerückt zu sein.

Während sie weinte wurde es draußen langsam dunkel und somit auch in dem Wohnzimmer, in dem Caitlyn hockte. Als sie aufblickte, konnte sie kaum noch etwas erkennen. Sie stand auf und ging zum Lichtschalter, betätigte ihn, wobei sie versuchte, nicht auf das Telefon zu schauen, das mahnend blinkte und Anrufe und Nachrichten ankündigte. Als Licht den Raum erfüllte, rieb sich Caitlyn die Augen und blinzelte. Sie blickte sich im Raum um, wie um sich zu vergewissern, dass alles noch so stand wie zuvor. Sie mochte innerlich kaputt sein, aber ihre Wohnung stand noch und empfing sie, hielt sie in sich geborgen wie eine Wiege ein schlafendes Baby. Obwohl es noch früher Abend war, beschloss Caitlyn, sich schlafen zu legen. Sie hatte keine Energie mehr und wusste nichts mehr mit sich anzufangen.

In Erinnerung an dich

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