Читать книгу In Erinnerung an dich - Jana Eckauer - Страница 7

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An einem der darauffolgenden Tage fand Caitlyn schließlich die Kraft dazu, sich an das Klavier zu setzen, das sie in ihrem Wohnzimmer zu stehen hatte. Sie hatte es sich gekauft, als ihr Freund ausgezogen war und es leeren Platz in der Wohnung gegeben hatte, den sie mit Möbelstücken hatte füllen wollen. Sie hatte das Klavier gebraucht erstanden. An einigen Stellen blätterte die Farbe außen ab und viele der weißen Tasten besaßen gelblich braune Flecken. Sie hatte sie versucht, so gut es ging zu entfernen, als sie das Klavier bekommen hatte, aber es hatte nur ein wenig funktioniert. Zu Anfang hatte Cailyn der Schmutz auf der Tastatur besonders gestört und sie hatte sogar überlegt, ob sie das Klavier zurückbringen sollte. Aber dann hatte sie es doch behalten. Inzwischen hatte sie sich an den Anblick gewöhnt und da sie das Klavier schon eine Weile hatte, kam es ihr inzwischen vor, als wäre es nur ihr eigener Dreck, der auf den Tasten klebte. Das Klavier war ihr inzwischen so vertraut.

Als Kinder und Jugendliche hatten Amelia und Caitlyn beide unabhängig voneinander Klavierstunden genommen. Später hatten sie dann auch zusammen gespielt. Im Haus ihrer Eltern hatte ein Klavier gestanden, das Caitlyn zum Üben benutzt hatte. Als sie dann ausgezogen war, hatte sie das Klavierspielen eingestellt. Es hatte ihr sowohl das Klavier als auch die Zeit zum Üben gefehlt. Erst vor etwa einem Jahr hatte Caitlyn dann wieder angefangen und Amelia, die ebenfalls jahrelang nicht mehr geübt hatte, hatte bei ihren Besuchen bei Caitlyn so manches Mal die Gelegenheit genutzt, um wieder zu musizieren wie früher. Manchmal hatten sie sogar als erwachsene Frauen zu zweit auf dem Klavier gespielt, so wie früher. Das Klavier war so wie vieles andere ein Element, das die beiden Frauen miteinander verband und dadurch war es ihnen beiden erstaunlich leicht gefallen, wieder hineinzukommen in die Rhythmen und in die Takte und ins Notenlesen. Sie spielten klassische Musik, aber auch moderne Lieder nach den Noten, die sie im Internet fanden oder sie sie über die Jahre hinweg noch aufgehoben hatten.

Nun war es das erste Mal nach Amelias Tod, dass Caitlyn allein spielte. Sie hatte oft allein das geliebte Instrument geübt in der letzten Zeit. Das war nichts Neues. Allerdings hatte sie dabei oft an Amelia gedacht oder sich vorgestellt, dass sie das Lied, das sie übte, gern ihrer besten Freundin vorspielen würde. Die Erkenntnis, dass sie das nun nie wieder würde tun können, ließ den Schmerz ihr Inneres ausfüllen und belastete sie. Dennoch hatte Caitlyn sich fest vorgenommen, sich an das Klavier zu setzen. Der Einfall war ihr gekommen, als sie die Meise beim Singen beobachtet hatte. Wenn sie die Stimme des Vogels so positiv berührte, so hatte sie sich überlegt, würden es vielleicht auch die Klänge eines Musikinstrumentes tun. Sie wollte es zumindest ausprobieren.

Caitlyn saß auf einem höhenverstellbaren Stuhl, den sie mit dem Klavier zusammen gebraucht gekauft hatte. Damit man gut spielen konnte, war es wichtig, die richtige Sitzposition zu haben, damit man keine Rückenschmerzen bekam und einem auch die Arme nicht lahm wurden.

Bevor Caitlyn anfing zu spielen, atmete sie tief ein und aus, wie um sich zu beruhigen, sich zu wappnen. Die Noten, nach denen sie spielen wollte, hatte sie schon vor sich aufgestellt. Behutsam setzte sie ihre Finger auf die Tastatur und begann die Noten in Fingerbewegungen umzuwandeln. Es fiel ihr deutlich schwerer als für gewöhnlich, sie verspielte sich oft und musste wieder von vorn anfangen. Es war, als ob die Last des Schmerzes ihr den Verstand vernebelte, sie einhüllte in eine Wolke, in der sie nichts mehr sehen konnten. Tränen traten ihr in die Augen, als sie zum fünften Mal dieselbe Stelle versuchte zu spielen und es ihr nicht gelang. Sie wischte sie sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts ab und begann von neuem. Diesmal schaffte sie die Takte, in denen sie zuvor Fehler gemacht hatte, aber danach war sie hoffnungslos verloren. Es kam ihr vor, als wäre ihre Konzentration aufgebraucht. Sie beschloss, die Balkontür zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen. Bekanntlich war ja Sauerstoff gut für das Gehirn und das Denkvermögen. Sie ließ ihren Blick kurz über den Balkon schweifen in der Hoffnung, die Meise wiederzusehen. Aber sie war wohl gerade woanders. Also wandte auch Caitlyn sich ab und ging zurück zum Klavier. Mit frischer Luft in der Nase, die von draußen in ihr Zimmer drang, versuchte sie das Klavierspielen erneut. Sie fing wieder von vorne an und die Takte, die ihr gut gelangen, legten sich wohltuend auf ihr Gemüt. Dann wurde es kniffliger und sie schaffte es ein Stück, bevor sie wieder abbrach. Klavierspielen war harte Arbeit, das wusste sie. Schon früher hatte sie ein Stück länger üben müssen, um es am Ende so zu beherrschen, dass es ihr selbst und anderen gefiel. Früher hatte es immer ihren Ehrgeiz geweckt, wenn sie noch nicht perfekt war. Jetzt deprimierte es sie sehr. Es war nicht so, wie sie sich das Klavierspielen vorgestellt hatte. Anstatt die Töne genießen zu können, war sie frustriert. Sie brach das Spiel ab und sackte in sich zusammen. Ihr Kopf fiel wie von selbst auf die Tastatur und erzeugte dort das Geräusch viele gleichzeitig angeschlagener Tasten. Sie weinte und schlang ihre Arme um den Kopf, um ihn zu stützen. Nun klang es wirklich, als ob jemand, der nicht spielen konnte, am Klavier saß. Aber nun war es ihr egal. Caitlyn weinte heftig, konnte ihre Tränenflut nicht stoppen, die sie überkam. Sie wünschte sich so sehr, Amelia wäre hier und würde mit ihr zusammen Klavier spielen. Sie war sich sicher, dass sie dann die Noten besser treffen würde. Aber ohne sie war ihr Gehirn einfach nicht richtig funktionstüchtig.

Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so verzweifelt und über das Klavier gebeugt dasaß, es kam ihr vor, als hätte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Doch plötzlich hörte sie wieder das vertraute Zwitschern. Es war so laut, als wäre es direkt neben ihr.

Caitlyn blickte auf und blickte in die Augen der Meise, die nun auf dem Klavier saß, oberhalb der Tastatur. Sie musste durch die offene Balkontür in die Wohnung geflogen sein. Vögel verflogen sich manchmal in Wohnungen und bekamen dann Panik, wenn sie nicht wieder herausfanden. Manche verletzten sich dadurch oder flogen gegen Fensterscheiben und starben. Sollte ihre kleine Meise, die sie so mochte, nun auch dieses Schicksal haben? Der Gedanke bedrückte Caitlyn sehr. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Wie egoistisch es doch gewesen war, die Balkontür einfach aufzulassen. Vielleicht hätte sie nur kurz stoßlüften sollen und die Tür dann wieder schließen. Jetzt bereute sie ihren Drang nach frischer Luft und kam sich noch mieser vor als zuvor.

Doch die Meise schien das alles nicht zu kümmern. Sie saß auf dem Klavier. Ihre Füßchen standen auf der ohnehin beschädigten Oberfläche und sie sang aus voller Kehle. Vor dem Hintergrund der weißen Wand hinter dem Klavier konnte Caitlyn so gut ihre Silhouette ausmachen und sah wie sich ihr Schnabel öffnete und schloss. Es war en bezaubernder Anblick, einen Vogel so dicht vor sich singen zu sehen. Die Meise konnte das besser, dachte Caitlyn bei sich. Sie war besser darin, Melodien zu erzeugen, die das Herz berührten und das sogar ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel wie Instrumente. Die Meise hüpfte ein Stück auf dem Klavier entlang, blickte sich um und setzte dann ihr Lied fort. Caitlyn beschloss, ihr einfach zuzuhören. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig. Sie wollte den schönen Vogel keinesfalls verschrecken, indem sie aufstand und zudem war sie auch einfach fasziniert von dem Naturschauspiel, das sich ihr bot, hier mitten in ihrem Wohnzimmer. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Vielleicht hatte sie in der Vergangenheit auch einfach nicht auf diese Art auf den Gesang der Vögel geachtet. Aber fest stand, dass sich noch nie ein Vogel in ihrem Wohnzimmer befunden hatte, der sang.

Caitlyn versuchte sich zu entspannen, setzte sich gerade hin und ließ ihre Arme locker auf ihrem Schoß liegen. Den Blick stets auf die Blaumeise gerichtet, nahm sie die Klänge in sich auf, die diese von sich gab. Es dauerte eine Weile, aber irgendwann erfüllten sie sie mit Ruhe. Eine Gelassenheit überkam sie und ein Frieden erhielt Einzug in ihr Herz und verdrängte die Verzweiflung und die Dunkelheit ein Stück weit daraus. Auf einmal war sie sich sicher, dass Amelia der Anblick der Meise auch gefallen hätte. Mehr noch, Amelia hätte es auch gefallen, wenn sie gewusst hätte, dass Caitlyn sich an dem Gesang des Vogels erfreute. Also versuchte Caitlyn genau das zu tun, sich zu freuen und alles andere für einen Moment zu vergessen.

Wie eine Opernsängerin schmetterte die Blaumeise eine Strophe nach der anderen. Nur ganz kleine Pausen machte sie, um Luft zu holen und sich nach potentiellen Gefahren umzublicken. Caitlyn gab sich der Melodie hin. Beinahe kam es ihr vor, als würden die Töne in ihren eigenen Körper übergehen und dort das Zusammenspiel ihrer Organe, ihre Stoffwechselvorgänge und Hormone beeinflussen können. Sie ließ das geschehen und während sie in sich hineinhorchte, spürte Caitlyn, dass sie lächelte. Der Gesang der Meise hatte tatsächlich bewirkt, dass sich ein Lächeln auf ihre Lippen gelegt hatte. Ihr Körper hatte das veranlasst ohne die Trauer zu fragen, die sich auch noch irgendwo in Caitlyn befand.

Es kam ihr vor wie eine kleine Ewigkeit, aber schließlich verklang der letzte Ton aus der Arie der gefiederten Sängerin. Die Meise blickte sich im Raum um und flog dann vom Klavier auf den Boden. Dort hüpfte sie entlang. Caitlyns Herz begann wild zu schlagen, denn sie ging davon aus, dass jetzt der Moment gekommen war, an dem die Meise hektisch im Zimmer umherfliegen würde. Nach diesem herzergreifenden Schauspiel würde sie es nicht ertragen können, wenn die Meise sich verletzte. Sie suchte in Gedanken nach einer Möglichkeit, den Vogel unbeschadet nach draußen zu bringen. Sie könnte ein Handtuch holen und es über das Tier werfen, damit es nicht sah, wie sie auf die Meise zuging und sie packte und daher nicht wegfliegen würde. Caitlyn könnte die Meise vorsichtig hochnehmen und auf den Balkon bringen. Dort würde sie sie wieder freilassen. Aber was war, wenn die Aktion schiefging und sie die Meise doch nicht zu greifen bekam, wenn sie entwischte und gegen einen Schrank oder eine Scheibe flog? Unruhig betrachte Caitlyn den Vogel, der einfach immer den Boden entlanghüfte und sie von Zeit zu Zeit ansah. Er näherte sich allmählich der offenen Balkontür. Vielleicht sollte sie hinterhergehen und ihn mit einer Handbewegung in die richtige Richtung dirigieren, nach draußen. Aber was war, wenn sie ihn damit erschreckte und aus dem Konzept brachte und damit in Gefahr? Caitlyn blieb wie angewurzelt stehen, unschlüssig, was sie tun sollte.

Ein Stück vor der Balkontür entfernt blieb die Meise stehen und sah sich erneut um. Dann hüpfte sie weiter in Richtung Tür und als sie sie fast erreicht hatte, flog sie los. Sie landete auf dem Balkontisch, neben der Untertasse, auf die Caitlyn inzwischen jeden Tag frisches Wasser gab. Sie nahm ein paar Schlucke, dann verließ sie auch den Balkon und flog zurück in die Natur, aus der sie gekommen war.

Erleichtert atmete Caitlyn auf. Der Meise ging es also gut.

„Danke.“, rief sie ihr nach. Sie blickte ihr hinterher, während sie davonflog und erkannte in der Ferne, wie ihre gefiederte Gefährtin sich in einem Baum niederließ. Sie war von ihrem Ausflug zurück dort, wo sie eigentlich hingehörte.

Schnell schloss Caitlyn nun die Balkontür, damit die Meise sich nicht wieder in ihre Wohnung verfliegen konnte. Sie wollte nicht, dass der Vogel dadurch in Gefahr geriet, wenngleich sie sich nichts sehnlicher wünschte, als sie wieder bei ihr zu haben und sie beobachten und ihr lauschen zu können.

Caitlyn setzte sich zurück ans Klavier. Sie bemerkte, dass die Meise auf diesem etwas Schmutz und etwas Kot hinterlassen hatte. Sie schmunzelte darüber. Es machte ihr nicht das Geringste aus. Sie würde es später entfernen. Nun wollte sie ihrer Inspiration freien Lauf lassen. Sie legte das Notenheft zur Seite und begann einfach so auf dem Klavier zu spielen, mit beiden Händen. Die Meise hatte auch keine Noten gebraucht um zu singen, also glaubte Caitlyn daran, dass sie es auch nicht brauchte. Sie ließ einfach ihre Finger über das Klavier gleiten wie es ihr gerade in den Sinn kam und bemerkte, dass es sich erstaunlich befreiend anfühlte. Sie versuchte die Melodie der Meise nachzuspielen und mischte sie mit einer ganz eigenen Komposition. Irgendwann begann Caitlyn, auch ihrem Schmerz Ausdruck zu verliehen, in dem sie ihn einfach in die Melodie einfließen ließ, die sie auf dem Klavier erzeugte. Sie dachte an Amelia und an ihren Verlust, ihren tragischen Tod und daran, dass sie ihre beste Freundin nie wieder sehen würde. Caitlyn spürte die Schwermut tief ihrem Herzen, aber anstatt zu weinen komponierte sie darüber. Es war nicht so, dass sie sich später daran erinnern würde was sie gespielt hatte, dass sie es hätte aufschreiben können. Das war auch gar nicht ihr Plan. Sie wollte es nicht bekannten Komponisten nachmachen, sondern einfach nur Musik für den Moment schaffen, die ihr half, mit ihrer Trauer umzugehen, Musik, die ihre Gefühle ausdrückte.

Woher sie wusste, was sie spielen sollte, konnte Caitlyn nicht sagen. Es war das erste Mal, dass sie nicht nach Noten spielte und es fühlte sich an, als sei jedes Drüunser haus cken einer Taste eine spontane Eingebung. So musste es auch bei den Vögeln sein, die im Frühling zu singen begannen. Sie folgten auch ihrer Eingebung, um die richtigen Töne zu formen. Sicher lag auch etwas Erfahrung darin und sie schauten sich ab, wie die Artgenossen sangen. So ähnlich taten sie es dann auch. Caitlyn überkam plötzlich das Gefühl, dass sie sich von der Meise abgeschaut hatte wie man aus dem Bauch heraus Töne aneinanderreihte, sodass sie auf eine gewisse Art klangen. Warum sollte man auch nur von Lebewesen der eigenen Art lernen? Viel interessanter wurde es doch, wenn man sogar die Weisheiten anderer Arten übernahm. Caitlyn lächelte wieder über diese Erkenntnis.

Sie ließ die Tasten des Klaviers Töne erzeugen, die in den Raum stiegen und sich dort zu etwas zusammenzusetzen schienen, nicht alle der Töne, aber einige. Caitlyn kam es vor, als würden sie Amelia beschreiben, ihre Art, ihr Lachen, der Blick in ihrem Gesicht, ihren Körper. Es kam Caitlyn vor, als stehe sie hier mitten im Raum, als hätte sie sie mit ihrer Musik zurückgeholt. Sie fragte sich, ob sie das Phänomen wohl wiederholen könne oder ob das nur einmal so passieren konnte.

„Ich liebe dich über alles. Ich hoffe, das weißt du. Und ich vermisse dich schrecklich. Es tut mir so leid, was passiert ist.“, sagte sie zwischen den Tönen, die sie auf dem Klavier anschlug.

Sie hatte das Gefühl, als würde sie mit ihrer besten Freundin sprechen. In ihrer Vorstellung funktionierte das und das war es, was zählte. Auf einmal besaß Caitlyn eine besonders ausgeprägte Vorstellungskraft. Vielleicht war der Gedanke auch so naheliegend, weil Amelia und sie gern zusammen Klavier gespielt hatten.


Du musst die letzte Note länger halten, bevor ich dann einsetze.“, wies Amelia ihre Freundin an.

Sie saßen zusammen am Klavier in Caitlyns Wohnung. Das gebrauchte Klavier hatte sich Caitlyn gerade erst zugelegt und sie waren beide ganz begeistert davon.

Ach, stimmt. Okay. Dann noch einmal ab der Stelle, wo wir eben aufgehört haben.“

Gut.“

Diesmal klappte es mit dem Einsatz. Es war eine zusätzliche Herausforderung, wenn man zu zweit spielte. Dann musste man nicht nur auf die eigenen Noten und den eigenen Rhythmus achten, sondern auch darauf, dass die einzelnen Melodien zusammenpassten. Man musste immer ein offenes Ohr dafür haben, was der andere gerade spielte.

Dieses Mal klappte es mit Amelias Einsatz und sie lächelte zufrieden. Wenn sie zusammen mit ihrer Freundin spielte, dann fühlte sie sich so frei. Es machte ihr großen Spaß und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als würde es sie mit Caitlyn verbinden. Dieser ging es ebenso.

Als sie an einer anderen Stelle angekommen waren, an der sie sich verhaspelt hatten, lehnte sich Caitlyn glücklich zurück und deutete auf den Takt, bis zu dem sie fehlerfrei gekommen waren.

Schau mal, das haben wir schon geschafft. Jetzt fehlt nur noch die letzte Seite.“

Sie blickte Amelia an, die neben ihr auf einem Stuhl saß.

Wir sind so cool!“, sagte letztere triumphierend und hielt ihre rechte Handfläche Caitlyn entgegen, eine Aufforderung an ihre Freundin, ihre Hand daraufzulegen. Caitlyn schlug ein und dann lachten sie beide wie sie es so oft zusammen taten.

Na dann, lass und weiter spielen. Auf geht’s.“, sagte Caitlyn nach einer kurzen Pause und sie setzten ihre Hände wieder zusammen auf die Tastatur.

Manchmal kam es ihnen vor, als würden sie einander bei den Händen halten, wenn sie zusammen Klavier spielten. Die Tasten, die sie zusammen niederdrückten, um eine Melodie zu erzeugen, verband sie so wie ein langer Händedruck. Caitlyn sah so gern, wie ihre Hände zusammen über die Tastatur wanderten. Sie waren etwa gleich groß, auch wenn Amelias Finger etwas länger und schmaler wirkten als ihre eigenen und ihre Haut etwas gebräunter als ihre eigene. An Amelias Hand prangte nun ein Ehering, sie selbst, die zurzeit Single war, trug keinen Ringschmuck. Caitlyn erinnerte sich, dass sie an Amelias Händen schon als Kind ihre langen Nagelbette bewundert hatte. Sie selbst hingegen hatte eher kurze Nagelbette wie sie sonst eher Männer besaßen.

Während Caitlyn die Noten in den oberen Oktaven des Klaviers erklingen ließ, nutzte Amelia die unteren Oktaven, sodass der Klang, der den Raum erfüllte, ein wenig wie ein mehrstimmiges Werk klang. Als Kinder hatten sie mehrmals zusammen Klavierstücke auf einer Bühne aufgeführt. Aber da hatten sie nicht zusammen an einem Klavier gesessen sondern an zwei verschiedenen, weil sie Noten eigentlich für zwei Klaviere geschrieben waren. Das waren die Noten nach denen sie nun spielten auch, aber da sie nur ein Klavier zur Verfügung hatten, mussten sie damit Vorlieb nehmen. Es störte sie nicht, im Gegenteil, sie fanden es toll, so nahe beieinander zu sitzen und zu spielen. Auch wenn ihre Hände sich nicht begegneten beim Spielen, so streiften ihre Ellenbogen einander hin und wieder. Dann lächelten sie wohl wissend und spielten einfach weiter. Caitlyn mochte es, Amelias Arm zu berühren genauso wie sie sie gern in den Arm nahm. Wenn sie ihre beste Freundin auch körperlich spürte, fühlte sie sich geborgen.

Puh.“

Amelia hielt an und schüttelte ihre rechte Hand aus. Sie hatte sich verkrampft.

Wow.“, sagte Caitlyn, die ihr gemeinsames Spiel sehr genossen hatte, „Es ist so schön mit dir zusammen zu spielen.“

Amelia nickte.

Ja, nach all den Jahren endlich wieder.“

Warum haben wir eigentlich aufgehört?“

Die Frage klang fremdartig im Raum, der doch eben noch von den Tönen des Klaviers erfüllt gewesen war.

Keine Ahnung.“, meinte Amelia, „Vielleicht lag es daran, dass wir uns eingebildet haben, keine Zeit mehr dafür zu haben.“

Und ich hatte kein Klavier.“, erklärte Caitlyn, wobei sie selbst wusste, dass sie sich genauso gut früher eines hätte besorgen können.

Sie beschlossen, nicht länger darüber nachzudenken, sonders sich der Gegenwart hinzugeben.

Sollen wir wieder?“, fragte Amelia und so spielten sie weiter ab der Stelle, an der sie aufgehört hatten.

Langsam nahm das Musikstück Gestalt an, kristallisierte sich heraus. Als sie schließlich wieder von vorn anfingen und dann fast fehlerfrei bis zum Ende durchspielten, war es, als ob die Musik etwas in ihnen beiden zum Schwingen brachte, sie erzeugte in ihren Herzen ein positives Gefühl, das nur sie beide so miteinander teilen konnten und das sie für immer miteinander verbinden sollte.

Das war doch super, oder?“, meinte Amelia, als der letzte Ton des Musikstücks verklungen war.

Sie strahlte Caitlyn an und diese sog das Lächeln ihrer Freundin auf, das sie so liebte.

Lass uns das gleich noch einmal spielen.“, schlug Amelia vor.

Oh ja.“

Sie spielten es noch unzählige Male an diesem Abend, bis es schließlich an der Tür läutete, weil Amelias Mann wissen wollte, wo seine Frau denn bleibe. Sie hatten abgemacht, dass sie vor einer Stunde zu Hause sein wollte.

Es tut mir Leid, ich habe die Zeit einfach vergessen.“, erklärte Amelia schuldbewusst.

Hattet ihr denn einen tollen Nachmittag?“, fragte Frank und die beiden Freundinnen nickten und schwärmten ihm beide vor, wie toll das gemeinsame Klavierspielen gewesen war.

Als Amelias Mann ihre glücklichen Gesichter sah, konnte er seiner Frau nicht mehr wirklich böse sein. Er ließ sich sogar dazu überreden, dass sie ihm das Stück vorspielten, das sie eingeübt hatten.

Also setzen sie sich wieder vor das Klavier und spielten für Frank. Als sie fertig waren und Amelia ihn erwartungsvoll anschaute, klatschte Frank ganz laut.

Prima!“, lobte er, „Ich wusste noch gar nicht, dass ich eine so musikalische Frau habe.“

Er küsste Amelia sanft, dann verabschiedete sich diese von Caitlyn mit einer innigen Umarmung.

Vielen Dank für den tollen Nachmittag.“, sagte sie und versprach, dass sie das gemeinsame Klavierspielen bald wiederholen würden.

Ich werde schon einmal heimlich üben. Also mach dich auf etwas gefasst.“, scherzte Caitlyn.

Okay. Da werde ich schon mithalten können. Keine Sorge.“, sagte Amelia scherzhaft.

Sie lachten, dann machten sich Frank und Amelia auf ihren Heimweg.


Die Szenen liefen vor Caitlyns innerem Auge in Revue ab, während sie allein ohne Noten nur nach Gefühl auf dem Klavier Akkorde und Tasten anschlug. Es kam ihr vor, als wäre es gerade gestern gewesen, dass Amelia und sie zusammen gespielt hatten und der Gedanke ließ ihre beste Freundin nicht ganz so weit weg erscheinen, er tröstete sie.

Da erinnerte sie sich auch plötzlich wieder an Franks Anruf. Er hatte es noch ein paar Mal versucht, aber Caitlyn hatte wieder nicht abnehmen können. Es war, als wäre sie vor dem Telefon jedes Mal wie erstarrt gewesen, wenn sie den Namen gesehen hatte, unter dem die Nummer abgespeichert war in ihrem Telefon. Nun beschloss sie, ihn nicht länger warten zu lassen und zurückzurufen. So umging sie den Schrecken, den ihr Amelias Name einjagte, nun, da sie tot war.

Als sie das Gefühl hatte, all ihre Emotionen durch das Klavier ausgedrückt zu haben und sich dadurch emotional etwas gesammelt zu haben, klappte sie das Klavier zu, schob den Klavierhocker darunter und ging zum Telefon. Sie wählte die Nummer, die sie noch auswendig kannte, anstatt sie im Telefonbuch unter Amelias Namen zu suchen.

Frank meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln und es kam ihr vor, als hätte er schon auf ihren Anruf gewartet.

„Hi, hier ist Caitlyn. Bitte entschuldige, dass ich so spät zurückrufe. Ich schätze, ich war davor einfach zu sehr neben der Spur.“

Sie entschied sich für die Wahrheit. Was hätte sie auch sonst als Entschuldigung sagen sollen? Amelias Familie war ihr oft wie eine zweite Familie vorgekommen. Sie war in ihr ein und ausgegangen wie in ihrer eigenen.

„Schön, dass du dich meldest, Caitlyn.“, sagte Frank.

Seine Stimme klang sanft und so leise, dass Caitlyn einen Hauch an Traurigkeit darin erkannte. Natürlich war er traurig. Er hatte seine Frau verloren.

„Wie geht es dir?“, fragte sie mehr aus Höflichkeit als weil sie es hören wollte. Sie wusste es ohnehin.

„Ach, weißt du, irgendwann wird es leichter werden, nehme ich an. Oder? Das sagen sie doch immer, dass mit der Zeit ein Verlust, den man erlebt, weniger schmerzt. Also hoffe ich darauf.“

Caitlyn war ihm dankbar für diese indirekte hoffnungsvolle Antwort.

„Da hoffe ich mit dir. Aber nun mal zu dem Anliegen, das du hattest, wegen dem du angerufen hast.“

Auch wenn sie früher lange Gespräche mit Amelia und ihrem Mann hatte führen können, derer sie nie müde geworden war, so drängte es sie nun doch dazu, möglichst bald zu einem Ende zu kommen. Sie hatte Angst, dass sie ansonsten zu viel von ihrer Trauer preisgeben könnte und das das unpassend sein würde.

„Achja, richtig.“, sagte Frank nun, „Ich wollte mit dir die Details der Beerdigung absprechen. Die Einladung hast du ja sicher inzwischen bekommen.“

Caitlyn biss sich auf die Lippen, damit sie nicht anfingen zu beben. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Wort Beerdigung den Boden unter den Füßen wieder wegreißen, den sie mühsam wieder gefunden hatte.

„Ja, die Einladung habe ich erhalten. Vielen Dank dafür.“, brachte sie schließlich mit Mühe hervor.

„Gut.“, fuhr Frank fort, „Ich wollte dich fragen, ob du auch eine kleine Rede halten magst. Wir möchten eine sehr persönliche Trauerfeier und haben uns daher gegen einen Redner entschieden. Wir wollen alles selbst sagen. Ich denke, das wäre in Amelias Interesse gewesen.“

„Ja. Das hast du Recht.“, erklärte Caitlyn schnell und ehe sie es sich anders überlegen konnte, versicherte sie, dass auch sie eine Rede halten würde. Wie könnte sie auch etwas ausschlagen, das ihre beste Freundin sich gewünscht hätte? Noch wusste sie nicht, wie sie die Kraft dafür aufbringen sollte, wie sie vor Publikum stehen sollte um über Amelia zu reden ohne zusammenzubrechen. Aber irgendwie würde das schon gehen.

„Prima. Ich wusste, dass du das machen willst. Schließlich waren Amelia und du euch doch so nah.“

„Ja. Das waren wir.“

Frank erklärte, dass sie planten, dass er gleich am Anfang die Einleitung übernahm und anfing über Amelias Leben zu erzählen. Dann würde Amelias Tochter etwas sagen und gleich im Anschluss daran sollte Caitlyns Teil kommen.

„Würde das für dich so passen?“, fragte Frank.

„Ja. Natürlich. Wie lang soll denn mein Teil werden?“

„Bislang haben wir keine genaue Zeitvorgabe. Deshalb würde ich sagen, mach ihn doch einfach so lang wie du magst und gebe mir Bescheid. Dann kann ich den restlichen Ablauf planen.“

Das bedeutete, dass Caitlyn möglichst bald den Entwurf verfassen musste. Das machte ihr Angst, aber sie wusste, dass es anders nicht ging.

„Okay.“, sagte sie, „Ich schicke dir alles in ein paar Tagen. Den Text, den ich vortrage und die geschätzte Zeit dafür.“

„Wunderbar.“

Caitlyn wollte gerade etwas sagen, um sich von Frank zu verabschieden, da setzte er noch einmal zu einem Satz an.

„Im Anschluss an die Trauerfeier und die Beerdigung werden wir noch etwas essen gehen. Ich werde einen Tisch reservieren. Natürlich würde ich mich freuen, wenn auch du kommst.“

Dieses Mal war es keine Bitte, nur ein Vorschlag. Sie konnte ihn ablehnen, wenn es ihr zu viel wurde.

„Danke. Ich überlege es mir.“, sagte sie, „Erst einmal werde ich mich aber auf die Rede konzentrieren.“

Frank wirkte verständnisvoll.

„Natürlich. Lass dir Zeit, Caitlyn. Die Rede geht vor. Sie ist das Wichtigste.“

„Danke.“

Wieder wollte sie auflegen, dann tauchte plötzlich eine Frage auf, die ihr auf der Zunge zu brennen schien.

„Wie geht es Meike?“, fragte sie schnell.

Meike war Amelias achtjährige Tochter.

„Ganz okay.“, erklärte Frank, „Die Mama fehlt ihr, aber es geht. Vielleicht ist sie ja auch noch zu klein, um den Tod wirklich begreifen zu können.“

„Die Arme.“, sagte Caitlyn, „Es muss schwer sein, so früh die Mutter zu verlieren.“

„Ich tue mein Bestes, beides für sie zu sein. Mutter und Vater.“

„Das ist toll, Frank. Sie kann froh sein, dich als Vater zu haben. Wenn ich irgendetwas tun kann…“

Caitlyn brach mitten im Satz ab, denn sie wollte nichts versprechen, das sie am Ende nicht halten konnte. Gern würde sie Amelias Familie helfen, aber im Augenblick fühlte sie sich noch nicht bereit dazu, sich derart mit Amelias Verlust zu konfrontieren. Es würde sicher sehr wehtun, mit Frank und Meike Zeit zu verbringen ohne, dass Amelia dabei war. Das hatte sie noch nie gemacht. Immer war ihre Freundin dabei gewesen.

„Ich gebe dir Bescheid, falls wir deine Hilfe brauchen könnten, einverstanden?“, sagte Frank.

Caitlyn bejahte.

„Okay. Grüß Meike auf jeden Fall von mir.“, sagte sie dann.

„Das mache ich.“, versprach Frank.

Sie verabschiedeten sich und Caitlyn blieb allein zurück mit ihren Gedanken.


Erschöpft ließ sie sich auf dem Sofa fallen. Das Telefongespräch hatte sie mitgenommen und es stand fest, dass sie erstmal wieder sammeln musste. Hatte das Klavierspielen und ihre unverhoffte Begegnung mit der Meise in ihrem Wohnzimmer ihr auch Kraft gegeben so hatte das Gespräch mit Amelias Mann ihr diese wieder genommen. Sie fühlte sich wie ein altes Gerät, dem die Jahre zugesetzt hatten und das noch gerade so funktionierte, aber auch jeden Moment kaputt gehen konnte. Caitlyn hatte das Gefühl, als ob ihr Herz mit Amelias Tod bereits einen Sprung bekommen hatte und jederzeit ganz zerbrechen konnte, wenn sie ihm zu viel zumutete. Dann würde sie untergehen wie ein kenterndes Boot auf offener See, die Wellen des Lebens würden sie überspülen, bis sie auf den Meeresboden sank und nie wieder zum Vorschein kam.

Caitlyn ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als sie die kalte Flüssigkeit ihre Kehle hinunterinnen spürte, entspanne sie sich ein wenig. Sie dachte daran, wie die Meise auf ihrem Balkon getrunken hatte und der Gedanke beruhigte sie. Sie goss sich noch ein Glas Wasser ein und leerte es zügig. Dann nahm sie sich einen Apfel aus der Glasschale, die auf der Anrichte stand. Sie hatte die Äpfel noch vor Amelias Unfall gekauft. Danach hatte sie es nicht geschafft einkaufen zu gehen. Wie lange würde sie wohl von den Vorräten zehren können, die sie noch zu Hause hatte?

Caitlyn nahm auf ihrem Küchenstuhl Platz und biss in den Apfel. Auch wenn er schon etwas älter war, schmeckte er keinesfalls mehlig und sie genoss den saftigen Geschmack in ihrem Mund.

Was sollte sie auf Amelias Beerdigung sagen? Bilder begannen in ihr Gedächtnis zu strömen aus versteckten Kammern in ihrem Kopf, in denen Caitlyn sie einmal abgespeichert hatte. Es waren Erinnerungen an gemeinsame Augenblicke mit Amelia.


Es war Frühling und die Sonne hatte die Luft so weit erwärmt, dass Caitlyn und Amelia beide in T-shirts draußen herumliefen. Ihre Jacken hatten sie zu Hause gelassen, als sie losgezogen waren. Sie waren Jugendliche, es waren Schulferien und sie hatten die ganzen Tage Zeit, die sie miteinander verbringen konnten. Nachdem sie beide gute Zeugnisse mit nach Hause gebracht hatten, drängten ihre Eltern sie nicht, in den Ferien zu lernen. Sie konnten ausspannen.

Sie hatten ihre Federballschläger und den dazugehörigen Ball mitgenommen, der anders als früher, keine echten Federn trug, sondern nur ein Netz aus Kunststoff. Damit waren sie zu einer Wiese gelaufen, die sich in der Nachbarschaft befand. Hier fanden sich im Sommer und im Frühling oft Gruppen von Menschen ein, die gemeinsam die Sonnenstrahlen genossen.

Auch an diesem Tag saßen ein paar Leute bereits auf der Wiese, als Caitlyn und Amelia eintrafen. Doch es waren noch nicht so viele. Es war Vormittag und viele mussten sicher arbeiten. Zudem hatte der Frühling ja gerade erst begonnen.

Amelia stellte den Rucksack ab, den sie getragen hatte.

So, da wären wir.“, sagte sie, stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich um, „Genug Platz zum Spielen haben wir ja.“

Caitlyn lächelte freudig und Amelia machte sich daran, das Zubehör auszupacken. Sie reichte Amelia einen der Schläger und nahm selbst den anderen. Den Ball hielt sie in der anderen Hand und deutete damit in eine Richtung.

Stelle du dich doch dort vorne hin. Ich bleibe hier. Dann ist genug Platz, dass wir die anderen Leute nicht versehentlich treffen.“, meinte Amelia zu ihrer Freundin.

Okay.“

Caitlyn ging durch das Gras, das so kurz war, als ob es regelmäßig gemäht wurde, aber gerade lang genug, dass daraus schon die Gänseblümchen hervorlugten. Caitlyn fand die kleinen weißen Blumen so schön und bemühte sich, im Gehen nicht darauf zu treten sondern daneben ins Gras. Neben sich im Gras sah sie die ersten Käfer krabbeln und Bienen fliegen. Die Bienen schienen von dem Klee ganz angetan zu sein, er ebenfalls an einigen Stellen wuchs. Der Frühling hatte die Wiese in neues Leben getaucht und fast hatte Caitlyn ein schlechtes Gewissen nun darauf herum zu trampeln. Amelia hatte ihr Zögern bemerkt.

Was ist denn?“, fragte sie und Caitlyn drehte sich zu ihr um.

Sind dir auch schon die Blumen und die Insekten aufgefallen?“, fragte sie und deutete auf das Gras um sie herum.

Amelia ließ ihren Blick schweifen. Sie hatte zuvor nur flüchtig geschaut.

Oh, wie schön.“, sagte sie und lächelte.

Aber ist es da nicht zu schade, hier zu spielen?“, fragte sie.

Amelia zuckte die Schultern. Normalerweise war sie diejenige, die die Natur von ihnen beiden am meisten wertschätzte.

Hm, ich weiß nicht. Die anderen Menschen laufen doch auch hier herum. An der Straße zu spielen ist auch doof.“

Sie wollte ungern auf dem Bürgersteig Federball spielen, da dort ständig Passanten entlang gingen und zudem die Gefahr bestand, dass der Ball, sollte er auf die Straße fallen, von einem vorbeifahrenden Auto plattgefahren wurde und sie ihn nicht mehr benutzen konnten. Außerdem konnten sich auch auf dem Bürgersteig Insekten befinden, die sie versehentlich zertraten.

Caitlyn begutachtete die Wiese und entdeckte eine Stelle, an der keine Blumen standen. Hier schien das Gras zerdrückt zu sein. Wahrscheinlich hatte jemand darauf gesessen.

Dann lass uns dort hinten hingehen.“, sagte Caitlyn und winkte Amelia zu.

Sie kam sofort angelaufen. Nun betrachte sie auch die Insekten, die um ihre Schuhe herum flatterten.

Ja, hier ist es besser. Du hattest Recht.“, bestätigte Amelia, als sie das plattgetretene Gras sah.

Sie warf den Ball in die Höhe und schlug mit dem Schläger dagegen, sodass er in eine Richtung flog. Caitlyn rannte hinterher und hob ihn aus dem Gras auf. Dann schleuderte sie ihn mithilfe ihres Schlägers zurück. Er segelte neben Amelia in Gras. Diese hob ihn auf und schlug ihn wieder zurück. Dann schafften sie einige Schläge, die den Ball in der Luft hielten, bevor er ein Stück von Amelia entfernt auf den Boden fiel.

Oh, Mist.“, sagte sie, lachte aber dabei, bevor sie in zurück in Caitlyns Richtung warf.

Sie waren beide eher mittelmäßig gut in Sport. Es ging ihnen nicht um sportliche Leistung, sondern vor allem darum, Spaß zu haben.

Oh, man.“

Der Ball flog über Caitlyns Kopf hinweg ohne, dass sie es schafft, ihn zu erreichen. Sie rannte ihm hinterher, suchte ihn im Gras und hob ihn auf. Dann streckte sie ihren rechten Arm weit aus, hielt den Ball davor und schlug mit aller Kraft dagegen.

Sie waren beide erstaunt, dass der Federball nicht weit entfernt von Amelias Schläger landete und sie ihn mit einem geschickten Schlag zurückschmetterte.

Wow. Gut gemacht.“, lobte Caitlyn ihre Freundin.

Yeah.“, jubelte diese.

Es war ein wolkenloser Tag. Die Sonne begleitete ihr Spiel wie ein stiller Beobachter, der sie zudem wärmte. In ihrem Licht glänzten ihre Haare, die die beiden Mädchen lang trugen und ihre Haut bekam eine leicht gebräunte Farbe, die erste seit Ende des Winters. Ihre Füße sprangen durch das Gras, um an den Ball zu gelangen. Der Rasen ließ sich bereitwillig zur Seite biegen ohne davon großen Schaden zu nehmen und die Insekten, die sie aufscheuchten, flatterten munter davon.

Sie blickten einander lachend an, als sie schließlich eine Pause einlegten und konnten einander an den Gesichtern ablesen, wie glücklich sie waren. Sie legten Schläger und Ball ins Gras und teilten miteinander die Kekse, die Amelia mitgenommen hatte und deren Schokoladenüberzog von der Sonne etwas geschmolzen war. Aber das machte ihnen nichts. Sie schmeckten trotzdem und vielleicht gerade aufgrund der flüssigeren Schokolade noch besser. Sie ließen die Krümel auf die Wiese rieseln, die sie beim Essen produzierten. Sicher würden irgendwelche Tiere sie zu verwerten wissen.

Gestärkt widmeten sie sich schließlich wieder einer neuen Runde des Federballspiels. Sie spielten nicht nach Punkten und zählten diese auch nicht, sodass sie am Ende des Tages nicht sagen konnten, wer von ihnen beiden gewonnen hatte. Darum ging es ihnen nicht. Vielmehr ging es um die Zeit, die sie zusammen hatten, ihre freie Zeit, die sie miteinander teilten.


Als Caitlyn aus der Erinnerung zurück in die Gegenwart geworfen wurde, wusste sie bereits, dass sie darüber erzählen würde, von ihrem Federballspiel auf der Wiese. Es erschien ihr wichtig zu sein ebenso wie das gemeinsame Klavierspielen. Beides beschrieb Amelias Hobbys und es schien ihr angemessen, darüber auf ihrer Beerdigung zu sprechen.

Als sie den Apfel aufgegessen hatte, warf sie dessen Gehäuse in den Müll. Dann holte sie ein Blatt Papier hervor und einen Stift und machte sich Notizen. Sie nahm sich vor diese in angemessener Reihenfolge zu einer Rede auszuarbeiten.

Caitlyn überlegte, was sie am besten über ihre Freundin sagen konnte. Sie brauchte etwas, das ihre Art charakterisierte, den Mensch beschrieb, der sie gewesen war. Als erstes fielen ihr Amelias Augen ein. Sie hatte sie immer für ihre Augen bewundert, die eine so spezifische Farbmischung besaßen, dass sie das Gefühl hatte, niemand anders hätte ihre Augenfarbe. Amelias Augen waren grünbraun. Wie Edelsteine, so wertvoll und einzigartig, dachte sie bei sich und schrieb diese Wörter auf das Blatt, das vor ihr lag. Caitlyn dachte an Amelias Stimme, versuchte sich deren Klang in Erinnerung zu rufen und stellte fest, dass es ihr noch erstaunlich gut gelang. Sie schloss ihre Augen und suchte die Stimme ihrer besten Freundin zu beschreiben. Warm, sanft, betont. Das waren die Worte, die ihr einfielen. Ja, Amelias Stimme hatte eine besondere Sanftheit gehabt, aber sie war gleichzeitig bestimmt gewesen. Sie hatte es gekonnt, die Silben so zu betonen, dass ihrem Zuhörer die Worte, die sie sagte, von großer Bedeutung erschienen. Oft war Caitlyn die Wärme in Amelias Stimme aufgefallen, besonders, wenn sie von der Natur und Tieren sprach, aber auch wenn sie von ihrer Familie erzählte oder sie sich über ihre Freundschaft unterhielten, wenn sie als Erwachsene in Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend schwelgten. Caitlyn dachte an Amelias Haare, daran, wie sie als Kind immer so gern den Geruch ihres Shampoos wahrgenommen hatte, wenn sie sich umarmt hatten und ihre Nase sich dabei in ihre langen offenen Haare gegraben hatte, daran, wie Amelias Haare in der Sonne geleuchtet hatten, wenn sie zusammen draußen gewesen waren. Sie dachte an Amelias Hände auf dem Klavier, die eifrig spielten und so geschickt dabei aussahen wie sie die richtigen Noten trafen. Sie dachte an Amelias Füße, die im Sommer in Sandalen steckten, mit Nagellack auf den Zehennägeln. Meist hatte sie roten Nagellack verwendet, aber auch manchmal weiß oder blau. Das waren sie von Amelia bevorzugten Farben gewesen. Caitlyn dachte an Amelias Lächeln, die Art, wie ihre Lippen ihre Zähne freigaben, wenn sie mit lachte. Sie hatte schon immer gefunden, dass Amelias Lachen ansteckend war. Keinem anderen Lachen konnte sie sich so bedingungslos anschießen, keines wirkte so mitreißend wie das ihrer besten Freundin gewirkt hatte. Caitlyn dachte an den Körper ihrer Freundin als Kind und als Erwachsene, daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie mit ihrer Tochter schwanger war. Sie hatte immer gesagt, sie fühlte sich dick und aufgebläht und wünschte sich den Zeitpunkt herbei, an dem das Baby endlich zur Welt kam. Aber Caitlyn hatte Amelia mit ihrem Babybauch wunderschön gefunden. Damals, als sie mit Meike schwanger gewesen war, hatte Amelia eine zerbrechliche Schönheit ausgestrahlt, die etwas ganz besonderes an sich gehabt hatte, das sie später nie wieder an ihrer Freundin gesehen hatte. Vielleicht war es die Liebe einer Mutter zu ihrem ungeborenen Kind gewesen, die Vorfreude auf alles, was sie mit ihm zusammen erleben würde, die Neugier, wie der Schützling werden würde, die Amelia hatten schön sein lassen.

Caitlyn schrieb auf, was ihr einfiel, notierte gemeinsame Erlebnisse, dann legte sie erschöpft den Stift beiseite und nahm sich vor, die Liste ein anderes Mal fortzuführen. Vielleicht würde sie etwas wieder herausnehmen, vielleicht etwas ergänzen. Das würde sich zeigen.








In Erinnerung an dich

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