Читать книгу In Erinnerung an dich - Jana Eckauer - Страница 8
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ОглавлениеAn einem der darauffolgenden Tage ging Caitlyn das erste Mal nach der Nachricht von Amelias Tod vor die Haustür. Sie hatte sich vorgenommen, einen Nistkasten für die Meise zu kaufen. Diese besuchte inzwischen jeden Tag mehrmals ihren Balkon. Ins Wohnzimmer ließ Caitlyn den Vogel sicherheitshalber nicht mehr. Diesbezüglich war sie nun vorsichtiger. Die Balkontür wurde immer nur kurz geöffnet und ansonsten geschlossen oder eingeklappt. Das bereitgestellte Wasser auf dem Untersetzer nahm der Vogel nach wie vor dankbar an. Caitlyn hatte auch überlegt, Vogelfutter auszustreuen. Aber dann hatte sie sich dagegen entschieden. Es war Frühling und sie ging davon aus, dass die Meise genügend Insekten finden würde. Hier im Wohngebiet wurden nicht so viele Pestizide versprüht wie auf den Feldern, in dessen Umgebung es immer weniger Insekten gab und damit auch immer weniger Vögel, weil letztere keine Nahrung mehr fanden.
Es war der letzte Tag, an dem Caitlyn noch krankgeschrieben war. Sie wollte austesten, ob sie die Krankschreibung verlängern musste oder schon wieder einen Versuch würde starten können so zu tun, als würde sie funktionieren, auch wenn sie es noch lange nicht tun würde.
Das Wetter war grau. Aber zumindest regnete es gerade nicht. Sie hatte einen Rucksack dabei, in dem sich ihr Portemonnaie befand. Caitlyn stieg an der Haltestelle, in deren Nähe sie wohnte, in die U-Bahn und fuhr damit in die Stadt. Sie wollte in eine Zoohandlung, weil sie davon ausging, dass diese am ehesten Nistkästen anboten.
Es klingelte, als sie die Ladentür öffnete und eine Verkäuferin begrüßte sie freundlich.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Caitlyn nickte ihr zu.
„Hallo. Ich bin auf der Suche nach einem Nistkasten für einen kleinen Vogel.“, erklärte sie, „Bieten Sie so etwas an?“
Die Frau nickte und bedeute Caitlyn, ihr zu folgen.
„Warten Sie bitte hier.“, erklärte sie, „Ich bin gleich wieder zurück.“
Dann verschwand sie kurz in einem Raum, der wohl so etwas wie ein Lager war.
Caitlyn blickte sich in der Zoohandlung um. Sie sah Wellensittiche und andere Papageien in kleinen Käfigen sitzen. Einige waren still, andere schnatterten munter durcheinander. Manche pickten mit ihren Schnäbeln an etwa herum. So süß Caitlyn diese Vögel auch fand, sie taten ihr dennoch Leid, weil sie so eingesperrt waren. Sie konnten nie fliegen und würden wohl auch bei ihrem zukünftigen Besitzer nicht frei herumfliegen können. Dabei war Fliegen doch die Hauptbeschäftigung eines Vogels. Doch dieser Beschäftigung waren diese Tiere nun beraubt worden. Caitlyn stellte sich vor, dass die Tiere irgendwo im Regenwald von Ast zu Ast flogen, ihre Farben zur Schau stellend vor der grünen Kulisse des Waldes. So sollte es sein, so war es artgerecht. Caitlyn dachte an die Meise auf ihrem Balkon. Auch sie führte ein artgerechtes Leben in der Freiheit der Natur. Caitlyn wäre nicht auf die Idee gekommen, sie einzusperren in einem Käfig. Der Balkon und das eine Mal auch ihre Wohnung waren etwas anderes. Hierher war die Blaumeise freiwillig gekommen und von hier hatte sie auch jederzeit wieder fortfliegen können, wenn sie das wollte. Die Wellensittiche konnten nicht fortfliegen und Caitlyn stellte sich vor, wie gern sie das sicher tun würden. Sie selbst würde sich niemals so einen Vogel kaufen und in einen Käfig sperren, nahm sie sich vor. Viel lieber wollte sie die Vögel in freier Natur oder eben auf dem Balkon beobachten.
Die Verkäuferin kam zurück und hatte ein kleines Häuschen aus Holz dabei. Sie lächelte Caitlyn an und deutete darauf.
„Das ist das einzige, das ich noch finden konnte. Momentan ist die Nachfrage danach sehr hoch. Aber das hier hatte ich noch im Lager.“
Sie wischte kurz darüber, als wollte sie eine Staubschicht entfernen, die aber gar nicht da war. Caitlyn betrachte das kleine grüne Häuschen mit der kreisförmigen Öffnung. Hier würde die Meise hineinfliegen, um ihre Jungen zu versorgen, wenn alles gut ging und das Tier das Nest annahm.
„Darf ich es mir ansehen?“, frage Caitlyn und die Verkäuferin reichte es ihr.
„Ja, natürlich.“
Caitlyn drehte das Vogelhaus in ihrer Hand und betrachtete es nun von allen Seiten. Es war leichter als sie gedacht hätte und aus Holz, auf das Farbe gestrichen worden war. Sie blickte durch die Öffnung in das Innere des Häuschens. Eine kleine gemütliche Stube für Blaumeisenjunge konnte darin errichtet werden.
„Am besten, Sie hängen es an einer geschützten, aber dennoch frei zugänglichen Stelle auf.“, meinte die Verkäuferin.
Caitlyn nickte.
„Ja. Es soll auf meinem Balkon hängen.“, erklärte sie, „Wie viel kostet der Nistkasten?“
Caitlyn hatte kein Preisschild erkennen können.
„29 Euro.“
Caitlyn nickte. Das kam ihr vor wie ein fairer Preis.
„In Ordnung.“, sagte sie, „Dann nehme ich das Nisthäuschen, bitte.“
Sie gingen zur Kasse, wo die Verkäuferin den Betrag in die Kasse eintippte.
Caitlyn kramte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie. Als sie es gefunden hatte, legte sie einen 10-Euro-Schein und einen 20-Euro-Schein auf den Tresen.
„Dann drücke ich Ihnen die Daumen, dass die Vögel auf ihren Balkon kommen. Ich habe schon von einigen gehört, die Vögel dort nisten lassen wollten, aber am Ende haben sich die Tiere doch nicht in die Kästen getraut. Man braucht wohl etwas Glück dazu.“, sagte die Verkäuferin, während sie das Geld entgegennahm.
Caitlyn nickte.
„Ich denke, das wird bei mir kein Problem sein. Eine Meise kommt bei mir schon jeden Tag auf den Balkon, um zu trinken und dort zu singen.“, erklärte sie.
Die Verkäuferin lächelte.
„Oh, wie schön.“, sagte sie, „Da haben Sie es aber gut.“
Caitlyn nickte wieder und schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Sie hatte es nicht gut. Ihre beste Freundin war bei einem Autounfall gestorben. Aber sie hatte nicht die Kraft, das der nichtsahnenden Verkäuferin zu erzählen. Bisher war der Einkauf ganz gut verlaufen, ab nun begann es ihr unangenehm zu werden. Sie müsste sich wohl doch noch länger krankschreiben lassen, war einfach noch nicht bereit, mit Menschen zu kommunizieren.
Die Frau legte einen Euro auf den Tresen, Caitlyns Rückgeld. Dazu bekam sie den Kassenbon.
„Vielen Dank.“, sagte Caitlyn und verstaute alles in ihrem Rucksack. Dabei kämpfte sie gegen die Tränen an, die in den Tränendrüsen ihrer Augenlider nach außen drängten.
„Einen schönen Tag für Sie.“, wünsche die Verkäuferin.
„Gleichfalls.“
Damit verließ Caitlyn die Zoohandlung und nahm den Bus auf direktem Weg nach Hause. Sie war froh, dass er so leer war, dass niemand ihr gegenüber saß und die Tränen sah, die sie sich in regelmäßigen Abständen wegwischten musste. Glücklicherweise drehte sich auch niemand um, weil sie sich ständig die Nase putzen musste. Die anderen Fahrgäste waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Als Caitlyn schließlich ihre Wohnungstür aufschloss, zitterten ihre Hände vor Anspannung und sie war froh, als die Tür endlich ins Schloss fiel und sie allein war. Sie ließ ihren Rucksack erst einmal stehen und begab sich ins Wohnzimmer.
Dort verfiel sie in heftiges Schluchzen, das sie im Bus zurückgehalten hatte. All die eben noch zurückgehaltenen Tränen bahnten sich nun ihren Weg nach draußen. Wenn eine Äußerung einer Verkäuferin sie schon aus der Bahn warf, wie sollte sie es dann überhaupt schaffen wieder unter Leute zu gehen? Sie dachte an die bevorstehende Beerdigung. Hier würde sie viele Menschen treffen, Leute, die Amelia gekannt hatten und sich mit ihr über sie würden unterhalten wollen. Kalter Schweiß lief Caitlyn den Rücken herunter, wenn sie daran dachte.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, beschloss sie, vorerst an der Trauerrede weiter zu arbeiten. Zur Not würde sie einfach nur die Rede halten und dann wieder gehen. Die Rede selbst war ein Monolog. Hierbei musste sie nicht direkt mit Menschen kommunizieren und der Gedanke beruhigte sie zumindest ein wenig. Während sie auf das Blatt starrte, das sie schon mit vielen Worten gefüllte hatte, begannen ihre Gedanken zu wandern in eine Zeit, die lange vorbei war, viele Jahre zurück.
Es war Sommer und von dem schönen Wetter angezogen, hatten Amelia und Caitlyn beschlossen, jeden Morgen zusammen mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren anstatt den Bus zu nehmen wie ihre Klassenkameraden. Sie fuhren stets zusammen, manchmal nebeneinander, wenn es der Weg erlaubte, aber meist hintereinander auf den Radwegen neben den Straßen. Die meiste Zeit über waren sie gezwungen, durch die Stadt zu fahren, aber erst kürzlich hatten sie für einen Teil der Strecke einen Umweg entdeckt, der sie am Rand von Feldern einen kleinen Trampelpfad entlangführte. Auch wenn der Weg auf diese Weise etwas länger dauerte, nahmen sie ihn doch regelmäßig, weil er ihnen so gut gefiel. Eigentlich waren Fahrräder hier nicht offiziell erlaubt, aber da normalerweise sowieso niemand ihre Wege kreuzte, spielte das keine Rolle und solange sie die Felder nicht zerstörten, hatten sie auch kein schlechtes Gewissen deshalb. Im Gegenteil, sie freuten sich auf die gemeinsamen Fahrten am Morgen und am Nachmittag.
„Yeah.“, rief Amelia und ließ übermütig den Lenker ihres Rades los, während sie ihr Rad wie von allein die Steigung hinunterrollen ließ, die es inmitten der Felder an einer Stelle gab.
„Pass auf!“, warnte Caitlyn und schnell umschlossen Amelias Hände wieder das Lenkrad.
Der Wind wehte ihnen ins Gesicht und ließ ihre Haare hinter ihnen hin und her fliegen, als würden diese tanzen.
Caitlyn blickte Amelia von der Seite an, als sie neben sie fuhr.
„Schau nur.“, sagte Caitlyn und deutete auf die Felder, die links von ihnen lagen. Der dort angebaute Raps leuchtete ihnen gelb entgegen und sah so schön aus im Schein der Sonne.
Amelia blickte nach links und lächelte.
„Oh ja.“, sagte sie, „Hier ist es viel schöner zu fahren als in den Straßen in der Stadt.“
Neben ihnen säumten Mohnblumen den Trampelpfad, um dessen rote Blüten die Hummeln und Bienen summten. Von den wärmenden Sonnenstrahlen waren sie ganz munter und suchten nun nach Nahrung. Caitlyn streckte ihre Hand nach einem Schmetterling aus, der an ihr vorbeiflog, aber er wich ihr aus und so umfasste sie schnell wieder ihr Lenkrad.
Sie kamen vorbei an Hagebuttenhecken, deren Früchte im Herbst auf dem Weg verstreut lagen, die aber nun ihre weißen Blüten zur Schau stellen. Bäume gab es in dieser Landschaft nur wenige. Sie waren wohl alle irgendwann gefällt worden, um den Äckern Platz zu machen, die Menschen für den Anbau nutzen wollten. Schade, denn dadurch war im Grunde auch ein Stück Natur kaputt gemacht worden. Auf den Feldern selbst, so schön sie auch aussahen, konnte man kaum Leben erkennen abgesehen von den Pflanzen. Nur daneben hatten einige andere Pflanzen als der Raps und einige Tiere ihre Nische gefunden. Eine Schlange kroch vor ihnen über den Weg und Caitlyn bremste schnell. Als Amelia neben ihrer Freundin zum Stehen kam, fiel ihr das Tier sofort auf.
„Wow.“, sagte sie erstaunt und freudig zugleich, „Schlangen gibt es hier auch. Das hätte ich gar nicht gedacht.“
Sie blickte Caitlyn an.
„Ein Glück habe ich gebremst und das hier ist keine befahrene Straße.“, sagte sie.
Ihr steckte noch der Schreck in den Knochen, den sie bekommen hatte, als sie das Tier so dicht vor ihrem Fahrrad gesehen hatte, die Angst, sie versehentlich zu verletzen oder gar zu töten.
„Na, es ist ja alles gut gegangen.“, sagte Amelia glücklich und legte einen Arm um Caitlyns Schulter. Sie beobachteten zusammen, wie sich die Schlange langsam über den Weg schlängelte und dann im benachbarten Gras verschwand. Es war keine gefährliche Schlange, nur eine harmlose Ringelnatter.
Schließlich schwangen sich Caitlyn und Amelia wieder auf ihre Fahrräder und fuhren weiter.
Als sie an die Stelle kamen, wo der Feldweg auf die Straße mündete, die in die Stadt führte, in der sie wohnten, hatten sie ein recht schnelles Tempo drauf und Caitlyn bremste abrupt, als sie das Auto sah, das von links ihren Weg kreuzte. Amelia, die in Gedanken noch teilweise bei den schönen Erlebnissen ihrer Radtour war, bemerkte das Auto zu spät. Erst als sie fast in das Fahrzeug hineinzufahren drohte, riss sie das Lenkrad nach rechts und lehnte sich gleichzeitig selbst in diese Richtung, sodass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Asphalt fiel. Das Auto hatte längst gebremst, als Amelia zusammen mit ihrem Fahrrad auf dem Boden lag. Caitlyn stellte ihr eigenes Rad ab und eilte zu ihrer Freundin.
„Alles okay?“, fragte sie, während sie Amelia besorgt anschaute, die sich ihr Bein hielt. Anscheinend hatte sie sich damit abgefangen, war darauf gefallen. Glücklicherweise schien ihr Kopf unverletzt zu sein, obwohl sie beide beim Radfahren keinen Helm getragen hatten.
Amelia zuckte die Achseln und betrachte ihr Handinnenfläche, die sie sich aufgeschürft hatte. Zwischen dem Schmutz, der daran haftete, drang Blut aus ihrer Hand.
„Ja, es geht schon.“, sagte sie dennoch und versuchte aufzustehen. Sie wollte nicht, dass jemand mitbekam, dass sie von der Schule heimlich den Weg durch die Felder nach Hause nahmen und genau das würde passieren, wenn sie jetzt ihre Eltern anriefen, damit sie sie anholten.
Caitlyn nahm die unverletzte Hand ihrer Freundin und versuchte ihr zu helfen, sich hochzuziehen. Doch als ein stechender Schmerz Amelias Bein durchzog, ließ sie sich wieder fallen.
„Aua.“, jammerte sie.
„Deine Hand?“, fragte Caitlyn, die die Wunde an der Hand ihrer Freundin bemerkt hatte.
Amelia zuckte die Achseln, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, mein Bein.“, sagte sie und versuchte sich im Sitzen die Hosenbeine hochzukrempeln, um nachzusehen, was mit ihrem Bein geschehen war.
Die Hose war an der Stelle zerrissen, an der sie damit auf den Asphalt gekracht war und ihr Knie besaß an der Stelle eine tiefe Schürfwunde. Kieselsteine, die auf der Straße gelegen haben mussten, hatten sich in ihre Haut gedrückt und taten ihr weh, wenn sie versuchte, das Knie zu bewegen.
„Ohje, du Arme.“, meinte Caitlyn mitfühlend und hockte sich neben ihre Freundin.
Amelia winkte ab.
„Ach, das geht schon. Wir fahren jetzt trotzdem nach Hause.“, sagte sie tapfer, „Und wir tun so, als wäre nichts gewesen. Das wird schon wieder verheilen.“
Caitlyn runzelte die Stirn. Sie hielt das für keine gute Idee.
„Nein.“, sagte Caitlyn entschieden und schüttelte dazu den Kopf, „Du musst die Wunde von einem Arzt untersuchen und versorgen lassen. Das kann sich entzünden. Außerdem sind da die Steine, die mir große Sorgen bereiten.“
Amelia begutachtete ihre Verletzung an ihrem Bein, fuhr sich mit einem Finger darüber und zuckte zusammen.
„Können wir das nicht zu Hause behandeln?“, sagte sie.
„Besser wir gehen zum Arzt.“
Amelia schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe Angst davor.“
Caitlyn, die ihre beste Freundin noch nie so verletzlich erlebt hatte, beugte sich zu Amelia hin und umarmte sie.
„Du brauchst keine Angst haben. Die werden dir dort nur helfen.“
„Aber ich will nicht, dass sie mir wehtun und ich will nicht, dass sie meinen Eltern sagen, wie das passiert ist.“, erklärte Amelia.
„Ach, mach dir darum mal keine Sorgen, das werden sie schon nicht.“, sagte Caitlyn selbstsicher. Sie wusste, dass sie nun diejenige sein musste, die Überzeugungskraft ausstrahlte.
„Meinst du?“
„Klar, wenn wir dem Arzt nicht sagen, dass es am Rand des Feldweges passiert ist, dann können sie schlecht unseren Eltern verpetzen, dass wir hier entlang gefahren sind, oder?“
Caitlyn entlockte Amelia ein Lachen.
„Ja, das stimmt wohl.“, meinte sie.
„Na, siehst du.“
Amelia blickte ihre beste Freundin mit großen Augen an.
„Und du meinst, es wird nicht wehtun, was der Arzt macht? Was ist, wenn er mich operieren muss?“
„Es tut doch ohnehin schon weh, oder?“, meinte Caitlyn. Es schien ihr der einfachste Weg um ihre Freundin zu überzeugen.
„Ja, das stimmt.“
„Dann kann es ja eigentlich nur besser werden, habe ich Recht?“
Caitlyn nicht Recht zu geben, kam für Amelia nicht infrage, also nickte sie.
„Ich begleite dich natürlich. Wir gehen zusammen zum Arzt.“, versprach Caitlyn.
Nun stellte sich die Frage, wie sie in die Arztpraxis kommen würden. Der Fahrer des Autos war inzwischen ausgestiegen und hatte ihnen Hilfe angeboten. Auch wenn er Amelias Fahrrad nicht berührt hatte und es offensichtlich Amelias Fehler gewesen war, so hatte er doch ein schlechtes Gewissen.
„Kann ich euch irgendwohin mitnehmen?“, fragte er nun.
Sie überlegten einen Moment, dann entschied Caitlyn dagegen. Es gab so viele Verbrecher in der Welt. Nein, Amelia und Caitlyn würden sich nicht von einem fremdem Mann mitnehmen lassen, der sie möglicherweise entführen wollte und ihre Hilflosigkeit dazu ausnutzte.
„Danke. Aber nein, wir kommen schon klar.“, sagte Caitlyn selbstbewusst.
Dann machte sie sich daran, das Fahrrad ihrer Freundin von der Straße zu schieben und Amelia zu helfen, an den Straßenrand zu krabbeln.
„Bitte.“, sagte sie und deutete in die Richtung, in die das Auto unterwegs gewesen war, „Sie können gern weiterfahren.“
Der Mann nickte knapp, dann setzte er sich hinter das Steuer und fuhr davon.
„Und wie kommen wir jetzt zum Arzt?“, fragte Amelia.
„Ich nehme dich auf meinem Gepäckträger mit.“, schlug Caitlyn vor.
Es war die einzige Möglichkeit, die ihr einfiel, da sie keinen Krankenwagen rufen wollte und auch der Überzeugung war, dass Amelia nicht allein fahren konnte.
„Und was ist mit meinem Rad?“
„Wir könnten es hier irgendwo anschließen und du nimmst es wieder mit, wenn wir wieder hier vorbeikommen.“
Amelia nickte.
„Das ist eine gute Idee.“, sagte sie, „Soll ich…“
Sie versuchte sich aufzurichten, aber Caitlyn kam ihr zuvor.
„Nein, bleib erst einmal sitzen. Ich schließe das Rad an. Ich bräuchte dafür nur deinen Schlüssel.“
Amelia zog den Schlüssel für das Fahrradschloss aus ihrer Hosentasche und reichte ihn ihrer Freundin.
Caitlyn nahm ihn entgegen, dann ging sie zu Amelias Rad und schob es an einen dünnen Baum. Sie öffnete das Fahrradschloss, das auf dem Gepäckträger befestigt war und legte es erst um den Baum und dann um das Fahrrad. Sie ließ das Schloss einrasten, dann holte sie ihr eigenes Fahrrad und begab sie sich wieder zu Amelia.
„So. Dein Rad steht sicher hier.“, erklärte sie.
„Danke.“, sagte Amelia zaghaft.
Es war ihr sichtlich peinlich, dass Caitlyn sich jetzt um sie kümmern musste und sie schämte sich dafür, dass sie nicht besser auf den Weg geachtet hatte.
„Dann komm.“
Sie bedeutete Amelia aufzustehen und half ihr dabei, indem sie die Freundin stützte. Trotz der Schmerzen in ihrem Knie humpelte diese zu Caitlyns Fahrrad und setzte sich auf den Gepäckträger.
Caitlyn selbst nahm auf dem Sattel Platz. Amelia trug ihren Schulrucksack auf dem Rücken, Caitlyn machte einen Bauchsack aus ihrem, damit Amelia genug Platz hinter ihr hatte. Sie drehte sich zu ihrer besten Freundin um.
„Geht das so?“, fragte sie und mustere Amelia.
„Schon, aber ich weiß nicht, wie ich meine Beine halten soll, dass sie nicht auf dem Boden entlangschleifen. Es tut so weh, wenn ich sie anwinkele.“
Caitlyn nickte verstehend.
„Ich fahre nicht so schnell.“, versprach sie, „Wenn du sie nur ein wenig auf dem Boden aufsetzt, sollte das deinen Füßen nichts machen. Oder streck deine Beine einfach nach vorne aus. So könnte es auch gehen.“
„Okay. Das werde ich versuchten.“, erklärte Amelia, „Und ich halte mich an dir fest.“
Sie umschlang mit ihren Händen den Bauch ihrer Freundin und lehnte sich dann nach hinten, die Beine nach vorne gestreckt. Sie musste achtgeben, dass sie sich nicht zu sehr nach hinten beugte, damit ihr Rucksack sich nicht am Hinterrad verhaken konnte.
Sie fuhren los und Caitlyn schaffte es, sie beide heile vor der Praxis ihres Hausarztes zu befördern.
„Du bist ein Engel, Caitlyn.“, sagte Amelia dankbar, als sie schließlich da waren.
Sie stiegen ab und Caitlyn schloss das Rad an, dann hakte sie Amelia unter. Sie gingen zusammen in die Arztpraxis. Amelia erklärte dort, dass sie mit dem Fahrrad hingefallen sei und behandelt werden wollte und, dass sie ihre Freundin zur Unterstützung mitgebracht hatte. Die Krankenschwester am Empfang hatte ein freundliches Lächeln für sie beide und bat die beiden Mädchen, im Wartezimmer Platz zu nehmen.
„Siehst du, es ist alles halb so schlimm.“, sagte Caitlyn zu ihrer Freundin.
Sie setzten sich neben einander. Eine Stunde verging, in der sie sich miteinander unterhielten oder, wenn sie das Gefühl hatten, die anderen Patienten zu stören durch ihr Gequasselte, miteinander schwiegen.
Schließlich wurde Amelia aufgerufen. Zusammen mit Caitlyn und bei dieser untergehakt betrat sie das Behandlungszimmer. Es hatte etwas sehr intimes, zusammen mit ihrer besten Freundin dem Arzt gegenüberzustehen. Normalerweise ging Amelia allein zum Arzt. Nur ganz früher als Kind hatten ihre Eltern sie dorthin begleitet. Aber noch nie war ein anderer Mensch außer ihren Eltern mit in dem Behandlungszimmer gewesen. Das war etwas Neues und wenn Amelia in sich hineinhorchte, musste sie zugeben, dass es sich gut anfühlte.
„Nun, dann wollen wir uns doch mal die Verletzungen anschauen.“, sagte der Arzt und bat Amelia, sie ihm zu zeigen. Zuerst streckte sie ihm nur die Handfläche entgegen.
Caitlyn sah zu, wie Amelias Hand desinfiziert und gereinigt wurde, bis nur ein paar Schürfwunden noch zu sehen waren. Dann bekam sie ein dickes Pflaster auf die Hand. Als nächstes war das Knie dran. Vorsichtig zog Amelia ihr Hosenbein nach oben. Als der Arzt den Tupfer mit dem Desinfektionsmittel darauf legte, zuckte Amelia vor Schmerzen zusammen. Caitlyn ergriff die heile Hand ihrer Freundin und drückte sie fest. So waren sie miteinander verbunden und Caitlyn konnte Amelia an ihrer Stärke teilhaben lassen. Wie eine Mutter, die über die Nabelschnur ihr Kind ernährte, übertrug Caitlyn ihre etwas ihrer inneren Kraft an Amelia, die sie gerade brauchte. Auch für Caitlyn war das ein sehr intimer Moment. Der Arzt entfernte die meisten Steine mit einer Pinzette. Einen jedoch, der sich besonders hartnäckig in Amelias Haut gebohrt hatte, bekam er nicht zu greifen. Er erklärte, dass er die Haut an der Stelle lokal betäuben musste und dann einen kleinen Schnitt machen würde, über den er den Stein entfernen würde. Dann würde er die Haut an der Stelle wieder zunähen.
„Oh Gott. Geht das nicht auch anders?“, brachte Amelia hervor, denn das war genau, wovor sie sich gefürchtet hatte, wovor sie Angst gehabt hatte. Der Arzt erklärte ihr, dass er keine andere Möglichkeit gab und versicherte ihr, dass sie das Schlimmste schon überstanden habe und dass sie aufgrund der Betäubung nichts spüren würde. Caitlyn nickte ihrer Freundin aufmunternd zu.
„Okay.“, sagte Amelia daraufhin, „Dann machen Sie das so.“
Sie blickte zur Seite, als der Arzt die Betäubungsspritze setzte und auch während der weiteren Behandlung blickte sie mehr in das Gesicht ihrer Freundin als auf ihr Knie. Sie sprachen nicht während der Behandlung und doch war es so, als würden ihre Blicke miteinander kommunizieren. Durch ihre Mimik teilten sie einander so viel mit, was man mit Worten nur schwer auszudrücken vermochte. Caitlyn konnte in Amelias Augen die Angst erkennen, die sie vor dem Eingriff hatte, aber auch ihre Dankbarkeit dafür, dass Caitlyn bei ihr war. Und dann war da auch noch die Scham, die sich einen Moment lang offenbarte. Amelia schämte sich dafür, nicht genug aufgepasst zu haben, als sie sich mit dem Rad der Straße genähert hatte. Caitlyn konnte spüren, wie unangenehm Amelia die Situation war, es lag in der Art, wie sie ihre Hand drückte. Aber gerade deswegen war sie so stolz auf ihre Freundin, weil sie es trotzdem über sich ergehen ließ.
Dass Amelia in dem Blick ihrer Freundin so viel Wärme und Mitgefühl erkennen konnte, half ihr ungemein, alles über sich ergehen zu lassen. Anstatt sich die blutige Angelegenheit anzusehen, die da auf der Haut ihres Knies vonstattenging und die sie insgeheim erschreckte, tauchte sie ein einen See der Geborgenheit, die Caitlyn ihr schenkte. Sie lächelte ihre Freundin an und diese lächelte zurück. In dem Moment konnte sich Amelia nichts Schöneres vorstellen, als das Lächeln ihrer Freundin. Es schien perfekt zu sein.
„Sie haben es geschafft.“, sagte der Arzt schließlich und ließ von Amelia ab.
Erst jetzt wagte sie, wieder richtig hinzusehen. Ihre Haut war sauber bis auf einige Stellen, an denen sich Schorf gebildet hatte. An einer Stelle befand sich eine ein paar Zentimeter lange Naht. Sie nickte. Dann stand sie auf. Aufgrund der Betäubung spürte sie anders als zuvor kein Ziehen in ihrem Bein. Der Arzt erklärte ihr, dass sie das Bein die nächsten zwei Wochen schonen musste, keinen Sport treiben durfte. Dann würden die Fäden gezogen werden und alles sollte verheilt sein.
Sie machte einen Termin zum Fädenziehen aus. Dann machte sie sich mit Caitlyn zusammen auf den Heimweg. Sie nahmen wieder Caitlyns Rad. Als sie schließlich zu Hause waren, erzählen sie, dass sie lediglich die Zeit vergessen hatten, die sie nach der Schule zusammen verbracht hatten und sie schön gewesen war.
Sie erzählten nie jemandem von Amelias Unfall. Es blieb ihr kleines Geheimnis, das nur sie beide miteinander teilten und das sie nicht davon abhielt, wieder durch die Felder zu fahren. Doch seitdem passten sie an der besagten Stelle stets besser auf.
Nein, darüber würde Caitlyn nicht auf Amelias Beerdigung sprechen. Das war ihr Geheimnis und sie wollte es als solches bewahren. Das hatten sie beide damals so abgemacht und es erfüllte sie insgeheim mit Stolz, etwas mit Amelia geteilt zu haben, was niemand anders mit ihr geteilt hatte. Es machte ihre Freundschaft einzigartig. Dieses Wort notierte Caitlyn auf dem Blatt. Dann schob sie es beiseite und ging zurück in den Flur. Sie hängte ihren Rucksack zurück an die Flurgarderobe, nachdem sie den Nistkasten herausgeholt hatte. Sie holte einen Hammer und einen Nagel und ging damit auf den Balkon. Sie stieg auf einen der Stühle und schlug den Nagel relativ weit oben an eine Stelle in der Balkonwand. Dann nahm sie die Nisthilfe und hängte sie daran. Sie lächelte, als sie mit dieser Arbeit fertig war. Wenn sie Glück hatte, dann würde ihr Vogel schon bald das kleine Häuschen annehmen, um darin seine Jungen aufzuziehen. Caitlyn blickte zu der Wasserstelle. Sie war noch gut gefüllt, auch wenn der Wasserstand seit dem Morgen etwas abgenommen hatte. Die Meise allerdings konnte Caitlyn nicht erkennen. Sie musste an diesem Tag in ihrer Abwesenheit auf dem Balkon gewesen sein.