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Kapitel 4

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Ich wartete und las so lange in einem der wenigen Bücher, die ich mitgebracht hatte, bis sich der Himmel wieder hell färbte. Doch Emily kam nicht auf unser Zimmer. Ab und an waren Schritte auf dem Flur zu hören, aber nie klopfte jemand oder drückte die Klinke herunter. Ein Teil von mir war erleichtert, allein sein zu können, ein anderer wünschte sich, mit Emily zu reden und ihr alles zu erklären.

Am nächsten Morgen war ihr Bett immer noch unberührt, die Decke ordentlich gefaltet und die bunten Kissen darauf nach Farben sortiert. Vermutlich hatte sie es vorgezogen, bei ihrer Mutter zu übernachten, vielleicht auch bei ihren Freundinnen.

Jetzt hatte ich doch ein Einzelzimmer bekommen, bloß anders, als ich es gewollt hatte.

Nach dem Vorfall gestern in der Mensa hatte ich mich eine Weile verkrochen und mich erst später überwunden, noch einmal das Zimmer zu verlassen. Zwei Mädchen auf dem Gang hatten mir verraten, dass ich mich an Milla wenden musste, wenn es um die Verteilung der Zimmer ging. Der Beschreibung der beiden nach war sie so etwas wie Hausmeisterin und Anstandswauwau in einem und ich hatte feststellen müssen, dass es keine gute Idee war, sie an einem Sonntag anzusprechen, während sie mit einem Buch in einer Hängematte lag. Als ich die zierliche Frau mit dem Pixie-Cut gefragt hatte, ob es möglich wäre, dass ich ein Zimmer nur für mich bekam, hatten ihr die Gedanken deutlich im Gesicht gestanden: Typisch Amerikaner, immer Sonderwünsche.

»Stimmt etwas nicht mit deinem Zimmer?«, hatte sie gefragt und als ich angefangen hatte herumzudrucksen, hatte sie bloß genickt, als wäre das Bestätigung genug. Milla hatte mir klargemacht, dass ich jederzeit wechseln konnte. Aber nur, wenn ich jemanden fand, der mit mir tauschte. Und ein eigenes Zimmer würde ich nicht bekommen. Gut möglich, dass sie ihre Meinung geändert hätte, wenn ich mit der Wahrheit rausgerückt wäre. Nämlich, dass ich furchtbare Angst davor hatte, mit Emily in einem Raum zu sein, sollte ich irgendwann eine von den richtig schlimmen Panikattacken bekommen. Eine, bei der es nicht mit ein bisschen hektischer Atmung und Tränen getan war. Doch die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Niemand sollte wissen, wie kaputt ich immer noch war.

Mit einem Seufzen schaltete ich meinen Wecker aus. Heute war Montag, der erste Schultag, und ich wollte nicht gleich zu spät kommen. Also rappelte ich mich auf, stieg unter die Dusche und schlüpfte in eine Jeans und eines meiner Lieblingsshirts. Ich hatte es mir zusammen mit Molly in Tampa gekauft und es gab mir etwas Sicherheit. Diese verpuffte jedoch gleich wieder, als Emily in der Mensa schnurstracks an mir vorbeiging und so tat, als hätte sie mich nicht gesehen. Auch sonst setzte sich niemand zu mir, dafür wurden mir von allen Seiten verstohlene Blicke zugeworfen. So schnell ich konnte, würgte ich mein Brötchen und einen Apfel herunter. Dann schleppte ich mich ins Sekretariat, um vor den ersten Unterrichtsstunden meine Bücher sowie den Stundenplan abzuholen.

In dem Büro saß eine Frau mit knallroter Schmetterlingsbrille und einem geblümten Sommerkleid. Sie stellte sich als Pam vor und betonte mehrfach, dass sie auf keinen Fall mit Frau Klein angesprochen werden wollte, obwohl das auf ihrem Namenschild stand. Zuerst verwunderte es mich, aber dann erhob sie sich und ich stellte fest, dass ihr kastanienbrauner Schopf mir gerade einmal bis zur Nasenspitze reichte.

Ich schob Pam meine Bücherliste über den Tresen und sie nickte und fischte einen Zettel aus einem der Ablagefächer.

»Hier ist schon einmal dein Stundenplan, Liebes. Ich bin gleich wieder da.« Damit wandte sie sich ab und sauste so schnell durch die Regale, als gäbe es einen Preis zu gewinnen.

Ich nahm den Stundenplan vom Tresen und betrachtete ihn. Zwischen Frühstück und Mittagspause waren an jedem Tag sechs Stunden eingetragen. Dienstags kam Physik direkt nach Chemie. Das würde schon einmal nicht mein Lieblingstag werden. Am Freitag waren neben Mathe wenigstens auch Englisch und Kunst eingetragen. Das klang besser. Nach dem Mittagessen gab es entweder weitere Unterrichtsstunden oder Zeit für Lern- und Sportgruppen. 14 Uhr Springtraining, Treffpunkt: Pferdestall, stand als letzter Punkt auf meinem heutigen Tagesplan. Der Termin wiederholte sich noch an zwei weiteren Tagen in der Woche.

»Was zur …?«

»Alles in Ordnung, Liebes?«

Ich schrak hoch und blickte direkt in das Gesicht der freundlichen Sekretärin. »Ja, alles okay«, log ich und nahm meine Bücher entgegen. »Vielen Dank Frau Kl… Pam.«

Ich hievte die Bücher auf meine Arme und trug sie auf mein Zimmer, wo ich sie erst einmal auf dem Schreibtisch ablegte und die, die ich heute brauchte, wütend in meine Tasche stopfte. Jedes Mal, wenn ich den Stundenplan ansah, wollte ich ihn am liebsten zerreißen. Das war Peter gewesen, ganz sicher. Natürlich hatte er mich gegen meinen Willen auch noch fürs Reiten eingetragen.

Ich verstand es einfach nicht. Dachte er wirklich, dass er mich so dazu bringen konnte, mich auf ein neues Pferd einzulassen und Daisy zu vergessen? Ja, vermutlich schon. Immerhin funktionierten die Dinge in seiner Welt so: Wenn jemand unrecht getan hatte und das ans Licht kam, wurde derjenige meist nicht vor ein Gericht gestellt, um seine Schuld einzugestehen, sondern man einigte sich unter der Hand auf einen sogenannten Vergleich. Eine riesige Summe Geld wechselte den Besitzer und alle Beteiligten vergaßen schleunigst, was passiert war.

Aber so lief das nicht mit mir. Und wenn er das durch Worte nicht verstand, musste ich es ihm eben beweisen.

Der erste Schultag verlief schleppend. Zuerst hatte ich Englisch, dann Mathe und im Anschluss Geschichte bei Herrn Meunier. Obwohl die Klassenzimmer modern und hell eingerichtet waren und ich dank meines Privatlehrers, den Peter mir in den letzten Monaten zur Seite gestellt hatte, gut im Unterrichtsstoff mitkam, fühlte ich mich unwohl und fehl am Platz. Das lag wohl auch daran, dass ich mich am Anfang jedes Blocks kurz vorstellen sollte und alle Blicke sich auf mich richteten. Herr Meunier wollte sogar, dass ich dafür nach vorne kam. Ich stammelte ein paar unbeholfene Sätze und war mir sicher, leises Getuschel in den Reihen zu hören, als ich mich wieder hinsetzte.

Emily tat während des gesamten Tages so, als würde ich nicht existieren, und ich war wirklich dankbar, dass Henry und der Rest der Clique, die bei dem Mensavorfall dabei gewesen waren, nicht in meinem Jahrgang waren oder größtenteils andere Kurse besuchten. So würde ich ihnen wenigstens nicht im Unterricht und nur in der Mensa und den Sportkursen begegnen, die jahrgangsübergreifend stattfanden.

Beim Mittagessen versuchte ich, einfach geradeaus zu laufen, ohne zu den Tischen zu sehen, an denen Emily und ihre Freunde saßen. Trotzdem merkte ich, wie Carla mir von der Seite einen giftigen Blick zuwarf. Lucía und Sophie taten, als bemerkten sie mich gar nicht, und Henry blickte bloß stoisch auf seinen Teller. Lediglich Daniel zwinkerte mir zu und schenkte mir sogar ein Lächeln. Ich erwiderte es halbherzig und setzte mich an einen Tisch am anderen Ende der Mensa. Nachdem ich mein Essen heruntergeschlungen hatte, damit ich möglichst schnell wieder verschwinden konnte, verschanzte ich mich auf meinem Zimmer. Ich erledigte meine Hausaufgaben und schrieb eine E-Mail an Molly und Nate. Schließlich atmete ich tief durch und machte mich auf den Weg zur Reitanlage. Der letzte Punkt auf meinem Stundenplan, das Springtraining, würde gleich beginnen und es war höchste Zeit, ein für alle Mal klarzustellen, dass ich nicht wieder reiten würde. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir beim genaueren Anblick der Stallungen und der riesigen Sandplätze stückchenweise die Kinnlade herunterfiel. Bei meiner Ankunft war ich wegen Peters bescheuerter Überraschung viel zu aufgewühlt gewesen, um alles richtig wahrzunehmen. Aber jetzt kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. So etwas hatte ich bei einer Schule noch nie gesehen! Es gab eine Reithalle mit seitlicher Tribüne, ein ordentlich glatt gezogenes Dressurviereck, einen Springplatz und eine freie Rasenfläche mit Trailhindernissen. Darauf entdeckte ich verschiedene Sprünge, ein Flattertor und eine Hängebrücke, die seitlich auf zwei dicken Baumstämmen befestigt war.

Daneben gab es eine Reihe Offenställe und Paddocks und neben der Hofeinfahrt erstreckten sich die Weiden. Aus dem Flyer der Schule wusste ich, dass die Pferde die meiste Zeit des Tages draußen verbrachten, manche wohnten sogar dauerhaft in kleinen Gruppen zusammen. Die anderen wurden abends in den Stall gebracht und schliefen in großzügigen Boxen mit Ausläufen. Durch ein Oberlicht in der Decke fiel Tageslicht auf die komplette Stallgasse. Alle Boxen waren sauber und es roch nach frischem Heu. Nicht schlecht. Aber für das Geld, das man hier als Einsteller zahlte, konnte man garantiert auch eine Zweizimmerwohnung in Berlin beziehen.

»Katrina, schön, dass du da bist«, begrüßte Frau Lorenzen mich herzlich, als ich schließlich zum Treffpunkt kam. Die Uhr über dem Stalltor verriet mir, dass ich vollkommen die Zeit vergessen hatte und zwanzig Minuten zu spät war – ups! Die Pferde der Springmannschaft standen bereits angebunden in der Sonne und wurden von ihren Reitern geputzt und gesattelt.

Eine schwarzbraune Stute, dahinter ein Fuchs – Westy, ich erinnerte mich an seinen Namen –, zwei Braune und ein riesiger Schimmel, der alle anderen neben sich wie kleine Ponys aussehen ließ. Sinclair. Ich erkannte ihn sofort. Aber warum trug er einen Sattel? Überhaupt, was machte er hier?

»Du trägst gar keine Reitsachen?«, riss Frau Lorenzen mich aus meinen Gedanken. Es war keine Frage, sondern eher eine Feststellung.

»Ich bin auch bloß hier, um einen Fehler in meinem Stundenplan zu klären«, antwortete ich ruhig. »Ich möchte der Springmannschaft nicht beitreten, wirklich nicht. Das habe ich gestern ja schon gesagt.«

»Stimmt.« Die Direktorin nickte nachdenklich. »Henry war trotzdem so nett und hat Sinclair für alle Fälle aus der Box geholt. Vielleicht hast du ja Lust, erst einmal ganz unverbindlich mitzureiten und zu schauen, ob es dir nicht doch Spaß macht.«

Ich wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment drehte Frau Lorenzen sich um und rief: »Kommt ihr bitte mal her?«

Tatsächlich reagierten die Reiter sofort. Sie legten ihre Bürsten, Trensen, oder was auch immer sie gerade in den Händen hielten, zur Seite und stellten sich zu einem Halbkreis auf. Okaaay. Ich zog die Augenbrauen hoch. Entweder die Mannschaft bestand ausschließlich aus Lehrerlieblingen oder die hatten hier einen total übertriebenen Teamgedanken.

Ganz links stand Henry. Sein Blick ging wie immer an mir vorbei. Neben ihm: ein Junge mit wilden Locken und dunklem Teint, einen Schritt weiter hinten Aylin, die Reiterin von Westy. Das vierte Gesicht gehörte einem Mädchen, das aussah wie eine Adelige aus einem weit entfernten Jahrhundert. Ziemlich blass mit streng nach hinten gebundenen Haaren. Ein bisschen erinnerte sie mich an Schneewittchen. Nur das silberglänzende Piercing auf einem ihrer Nasenflügel passte nicht so ganz ins Bild.

Die Direktorin räusperte sich. »Das ist Katrina, die neue Besitzerin von Sinclair. Katrina, das sind Jonas und Aylin. Henry kennst du ja schon. Und das ist Camille. Wir haben mehrere Reitgruppen bei uns an der Schule, aber diese vier hier sind unsere erfolgreichste Springmannschaft. Ich trainiere sie selbst und wir würden uns alle sehr freuen, wenn du doch Lust hättest, zu uns zu stoßen und uns dein Können zu zeigen.«

Ja klar, die sahen wirklich alle aus, als würden sie sich sehr über meine Teilnahme am Kurs freuen. Aylin hielt die Arme vor der Brust verschränkt, Schneewittchen rümpfte die Nase und Jonas starrte mit zusammengepressten Lippen auf den Boden. Lediglich Henrys Miene blieb ausdruckslos.

»Es tut mir leid, Frau Lorenzen. Aber ich will wirklich nicht reiten«, versuchte ich es noch einmal. »Pete … ich meine, mein Vater, versucht nur, einen Fehler wiedergutzumachen. Auf die falsche Art.« Ihm war wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise klar, in was für eine Situation er mich damit gebracht hatte.

Schneewittchen trat einen Schritt auf mich zu. »Und trotzdem musstest du Henry Sinclair wegnehmen? Das ist echt das Allerletzte!«

»Und was willst du jetzt mit Sinclair machen, wenn du nicht reitest?«, wollte Aylin wissen.

Ich vergrub beide Hände in den Hosentaschen. Tatsächlich hatte ich dafür noch keine Lösung. Wenn ich Peter richtig ärgern wollte, würde ich den großen Schimmel einfach links liegen lassen, bis er einsah, dass er ihn zurückgeben musste. Doch das brachte ich nicht übers Herz. Sinclair konnte nichts dafür. Selbst, wenn er hier von den Angestellten komplett betreut und umsorgt wurde … ich wusste, dass man ein Pferd, das mitten im Training stand, nicht einfach aus seinem Job entlassen konnte. Die ersten Tage würde er es vermutlich genießen, auf die Weide zu kommen, aber danach würde er durchdrehen. Sinclair brauchte eine Aufgabe.

»Ich überlege mir etwas«, sagte ich, doch Schneewittchen, a. k. a. Camille, schnaubte bloß.

»Ach ja? Was hast du denn vor, wenn du ihn nicht reiten willst? Spazieren gehen? Oder willst du ihn jeden Tag stumpf im Kreis longieren?« Sie funkelte mich an. »Schade ums Pferd, aber das ist einer wie dir wohl völlig egal.«

»Camille!« Frau Lorenzens Stimme klang scharf.

Doch davon wollte sich das Mädchen nicht bremsen lassen.

»Sie schwören uns doch immer darauf ein, dass wir als Mannschaft zusammenhalten sollen, und genau das tue ich gerade. Ich halte zu Henry! Er hat Sinclair von Anfang an ausgebildet und jetzt wird er einfach so verkauft. An jemanden, der ihn überhaupt nicht zu schätzen weiß! Das ist doch unfair!« An mich gerichtet, fuhr sie fort: »Aber Hauptsache, man hat ein Prestigeobjekt im Stall, was? Kleiner Tipp: Wünsch dir beim nächsten Mal lieber eine neue Handtasche.«

Mir klappte der Mund auf. »Du kennst mich doch gar nicht!«

»Will ich auch nicht!«, schoss sie sofort zurück. »Niemand hier will das. Und wir wollen dich auch nicht im Team haben!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Frau Lorenzen Henry zunickte. Er ging zu Camille, flüsterte ihr etwas ins Ohr und nahm sie mit zu den Pferden. Wir anderen blieben stehen und sahen betreten vom einen zum anderen, unsicher, was wir nun sagen sollten.

»Katrina, das ist für uns alle eine ungewöhnliche Situation …«, begann Frau Lorenzen, aber ich winkte ab und machte einen Schritt nach hinten.

»Ich habe ja gesagt, es ist für alle besser, wenn ich nicht am Reitunterricht teilnehme. Streichen Sie mich einfach aus dem Plan. Und für Sinclair …« Ich biss mir auf die Lippe. »Für ihn überlege ich mir etwas.«

Dancing with Raven. Unser wildes Herz

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