Читать книгу Dancing with Raven. Unser wildes Herz - Jana Hoch - Страница 11
Kapitel 5
ОглавлениеHip-Hop-Tanz-AG, Standardtanz, Fechten, Dressurreiten, Fußball für Jungen, Rudern, Bogenschießen, Tennis …
Ich war vom Reitplatz direkt zurück zum Sekretariat gestapft und studierte nun Reihe für Reihe das Schwarze Brett. Langsam wurde ich unruhig. Auf der Homepage des Internats war ganz sicher die Rede von einer Fußballmannschaft für Mädchen gewesen. Das war einer der Gründe, warum ich mich entschieden hatte, nach Silver Willow zu kommen. Aber warum stand hier nichts davon?
Schach, Leichtathletik, Rugby …
Wenn ich nicht wollte, dass Peter und Frau Lorenzen mich wahllos in eine der anderen Sportgruppen steckten, musste ich mir schnellstmöglich selbst etwas aussuchen. In Gedanken sah ich mich schon Hula-Hoop machen und bunte Tücher schwingen. Nein, so weit durfte es nicht kommen! Außerdem wusste ich ja schon, wofür ich mich anmelden wollte.
Peter würde es zwar ganz und gar nicht gefallen, wenn ich sein schickes Olympiapferd gegen Stollenschuhe und kurze Hosen tauschte. Aber das geschah ihm ganz recht.
An meiner Schule in Florida hatte ich jahrelang in der Abwehr gestanden und mit Molly im Tor hatten wir fast nie ein Spiel verloren. Ich vermisste die Turniere, mein Team und diese Zeit, in der ich echte Freunde gehabt hatte. Molly, Nate, die Mädchen aus meiner Mannschaft. Alles war perfekt gewesen. So perfekt. Und dann …
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verdrängen, und überflog die Aushänge erneut. Nichts. Aber egal, es stand auf der Website. Vermutlich hatte man einfach nicht für alle Sportgruppen Flyer ausgehängt, weil die Auswahl so umfangreich war. Also kein Grund zur Sorge. An Pams Bürotür hatte ich zwar eben gelesen, dass sie heute und an zwei weiteren Tagen in der Woche schon eher Feierabend machte, aber ich würde sie einfach bei nächster Gelegenheit fragen. Und mich dann, so schnell es ging, fürs Fußballtraining anmelden.
Nachdem ich meine Hausaufgaben für den Tag erledigt hatte, beschloss ich, mich allein im Wohnhaus umzusehen. Die meisten Schüler waren noch bei ihren Nachmittagssportkursen oder genossen das Wetter draußen mit ihren Freunden. Drinnen war es still. Perfekt, denn das bot mir eine Möglichkeit, das Hauptgebäude einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und mir einen Rückzugsort zu suchen. Mein Zimmer konnte ich diesbezüglich vergessen. Und wenn ich eines aus meiner Zeit in Berlin gelernt hatte, dann, dass es besser war, vorbereitet zu sein. Damals hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn mich aus dem Nichts ein Panikanfall überkam. Ein Fehler, wie sich herausgestellt hatte. Noch einmal würde mir das nicht passieren.
Als Erstes sah ich mich im Keller des Wohngebäudes um. Doch dort gab es nichts außer einem umfangreichen Theaterfundus, Kisten voller Bücher und unheimliche, ausgestopfte Raubvögel. Nicht ideal, aber wenigstens würde sich niemand so leicht hierherverirren. Und wenn ich die langen Kleider an den Stangen etwas auseinanderschob, konnte ich mich sogar dazwischensetzen und sie wie eine Gardine vor mich ziehen. Im Notfall würde mich hier also niemand finden. Im absoluten Notfall! Denn wirklich gemütlich war es im Keller nicht und außerdem auch ziemlich kalt.
Als Nächstes lief ich im Gebäude herum und suchte nach Abstellkammern oder ungenutzten Räumen. Doch ich fand nichts außer dem Gemeinschaftszimmer, Verwaltungsräumen und einigen abgeschlossenen Türen. Innerlich sackte ich etwas in mich zusammen. Das hier war ein historisches Gebäude, es musste doch irgendwo ein Versteck geben. Einen Geheimgang hinter einem Vorhang, ein Zimmer, das man nur über den Wandschrank erreichte. Irgendetwas, wohin ich mich im Ernstfall flüchten konnte, damit niemand mitbekam, wie die Vergangenheit und all die schrecklichen Bilder über mich hereinbrachen. Wenn ich wieder einmal vollkommen die Kontrolle über mich verlor und …
Sofort waren sie wieder da, die Erinnerungen an meine alte Schule in Berlin.
Hey, habt ihr es schon mitbekommen? Katrina wurde zugedröhnt auf der Schultoilette gefunden. In ihrer eigenen Kotze hat sie gelegen und war völlig weggetreten. Angeblich hat es sogar jemand gefilmt und online gestellt.
Ich stapfte nach draußen, ohne richtig zu wissen, wohin ich wollte. Mit zusammengebissenen Zähnen lief ich um das Hauptgebäude herum und als ich die Seite erreichte, an der auch die Schlafräume der Mädchen lagen, fiel mir plötzlich etwas auf. Am hinteren Teil des Gebäudes gab es einen Turm, der sich über die Fassade emporreckte und von oben bis unten mit Efeu bewachsen war. Er war nicht breit genug für einen Aufenthaltsraum, aber doch zu groß, als dass nur eine Wendeltreppe hineinpasste. Interessant! Ich warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete, aber da war keiner. Nur ein Junge, der weit entfernt über einen der gepflasterten Wege auf das Wohnhaus zusteuerte.
Also lief ich näher heran und sah mir den Turm genauer an. Auf der Rückseite entdeckte ich eine alte Tür. Allerdings war sie abgeschlossen und es half auch kein Rütteln. Dafür gab es ein halb geöffnetes Fenster, etwa vier Meter über mir. Ich legte den Kopf in den Nacken und in meinem Bauch begann es leicht zu kribbeln. Konnte ich …? Vorsichtig streckte ich eine Hand aus und legte sie um das hölzerne Pflanzengitter. Kurz zögerte ich, aber dann setzte ich auch einen Fuß auf die unterste Sprosse. Kein Knacken, kein wackeliges Gefühl. Na also!
Und so hoch lag das Fenster ja auch gar nicht. Wenn es mir gelang, einen Blick hindurchzuwerfen, konnte ich sehen, ob der Turm an versteckte Räume grenzte. In so alten Gemäuern wie dem Hauptgebäude gab es schließlich immer doppelte Wände oder Gänge, die man nur erreichte, wenn man ein Wandgemälde zur Seite schob. Zumindest war das in Filmen und Büchern so. Und vielleicht war dieser Turm ja genau das, wonach ich gesucht hatte. Ein sicheres Versteck, in dem mich niemand finden würde.
Ermutigt von diesem Gedanken setzte ich auch meinen zweiten Fuß zwischen die Blätter. Dann kletterte ich Stück für Stück nach oben, bis ich die Fensterbank erreichte. Es dauerte länger als gedacht. Die Ranken wuchsen so dicht, dass es mir schwerfiel, Halt zu finden. Suchend streckte ich meine Hand durch das dichte Grün und tastete nach der nächsten Holzstrebe.
»Was machst du da?«, erklang da eine Stimme aus der Ferne. Ich zuckte zusammen, mein Fuß rutschte ab und ich konnte mich gerade noch so mit den Händen am Gitter festkrallen.
Ganz langsam drehte ich den Kopf und sah, dass der Junge, den ich vorhin schon gesehen hatte, einen der Hauptwege verließ und auf mich zugelaufen kam. Es war Henry, der immer noch seine Reitklamotten vom Training trug. Ich stöhnte innerlich. Der hatte mir gerade noch gefehlt.
»Wegen dir wäre ich vor Schreck fast runtergefallen!«, fuhr ich ihn an und bemühte mich, rasch wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
»Du wärst auch ohne mich runtergefallen«, gab Henry kühl zurück. Falls er irgendwelche Schuldgefühle wegen meines Beinaheabsturzes hatte, so zeigte er sie nicht. »Das Teil ist echt nicht zum Klettern ausgelegt. Die Verbindungen sind viel zu instabil und überhaupt …« Er schüttelte den Kopf. »Wie kommt man auf so eine bescheuerte Idee? Suchst du einen besonderen Kick? Oder warst du einfach nur scharf auf einen Schädelbasisbruch?«
Was für ein blöder Kommentar.
»Ich wollte nur mal reinschauen.« Ich deutete zu dem Fenster und Henrys Augenbrauen zogen sich nach oben.
»In den Turm? Aber da ist doch nichts drin, außer die Deko der Abschlussbälle und Mottopartys der letzten zehn Jahre.«
»Ich war halt … neugierig. Nichts weiter.«
Henry schwieg. Er sah aus, als erwartete er, dass ich noch etwas hinzufügte. Doch da ich das nicht tat, atmete er schließlich hörbar aus und fuhr sich mit der Hand über die Haare.
»Mach das einfach nicht noch mal, okay? Das ist echt gefährlich. Und ich habe keine Lust, dich bei den Lehrern verpfeifen zu müssen.«
Mich bei den Lehrern verpfeifen? Hatte er das gerade wirklich gesagt?
»Gibt’s dafür Pluspunkte?« Ich klang schnippischer als beabsichtigt. Aber Henry sollte mal nicht so übertreiben. Es war ja schließlich nicht so, als ob ich gerade auf dem Dach herumbalanciert war.
»Leider nein«, sagte er, ohne jede Ironie. »Aber ich würde es trotzdem machen, weil ich mich verpflichtet fühle, dein Leben zu retten.«
Fast hätte ich gelacht, aber dann erkannte ich, dass er nicht bluffte. Er meinte es vollkommen ernst.
»Schön, ich mache es nicht noch mal«, sagte ich in genervtem Ton und fügte innerlich ein vorerst hinzu. »Zufrieden?«
Henry sah mich an. Lange und ohne mich auch nur einen Hauch von dem wissen zu lassen, was er dachte. Dann räusperte er sich. »Ich habe dich gesucht.«
Wie bitte? Der plötzliche Themenwechsel überraschte mich.
»Und ähm … warum?«
»Ich würde gerne mit dir über Sinclair sprechen.« Sein Gesichtsausdruck blieb weiterhin unergründlich, aber ich glaubte, eine Spur Traurigkeit in seiner Stimme zu hören. Sofort fühlte ich mich mies. Ich mochte Henry nicht besonders, die Schleimernummer, die er mit Peter abgezogen hatte, war einfach nicht mein Ding. Und dass er sich eben so idiotisch aufgeführt hatte, machte es auch nicht gerade besser. Trotzdem änderte das nichts daran, dass er meinetwegen Sinclair verloren hatte. Tatsächlich hatte ich gestern Abend, als ich auf Emily gewartet hatte, schon darüber nachgedacht, ihm anzubieten, weiterhin mit Sinclair zu trainieren. Aber heute Morgen, vor den Klassenzimmern, hatte ich keine Chance gehabt, mit ihm zu sprechen. Er hatte mich nur kühl angesehen und war dann mit schnellen Schritten an mir vorbeigelaufen.
»Ich würde gerne verstehen, warum du nicht reitest«, sagte Henry jetzt und musterte mich, als könne er die Antwort an meinen Gesichtszügen ablesen.
Automatisch machte ich einen Schritt zurück. Von Daisy und dem Sturz würde ich ihm garantiert nichts erzählen. »Sagen wir einfach … ich habe meine Gründe.«
Henry runzelte die Stirn. »Dann kapiere ich wirklich nicht, warum dein Vater dir ein erstklassiges Sportpferd kauft. Sinclair ist ein Ausnahmetalent, er hat eine Bestimmung.«
Ich seufzte, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen könne, ohne Henry einen Teil der Wahrheit zu verraten und ihn damit zu nah an mich heranzulassen. Und ein »Es tut mir leid« fühlte sich auch nicht richtig an. Immerhin konnte ich mir nur zu gut vorstellen, wie es ihm mit der Situation ging. Und eine blöde Floskel machte rein gar nichts besser.
»Ist die Frage denn wirklich so schwer zu beantworten?« Henry verschränkte die Hände im Nacken, nur um sie gleich darauf wieder zu lösen. »Ich meine … hast du Angst vor Sinclair? Oder vorm Reiten? Bist du runtergefallen und …«
»Das hat damit nichts zu tun«, unterbrach ich ihn. Zwar hatte mir mein Unfall einen ordentlichen Schrecken eingejagt, aber ich hatte deswegen keine Angst vor Pferden. Ich wollte bloß kein anderes außer Daisy. Nur Peter sah das nicht ein.
Henry stöhnte auf und es klang, als fiele es ihm langsam schwer, ruhig zu bleiben.
»Hör zu, Katrina. Ich habe jahrelang all meine Energie in Sinclairs Ausbildung gesteckt. Ich hatte Ziele mit ihm. Und du machst ihn von einem Tag zum anderen zum Frührentner. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie sich das anfühlt? Seine Karriere …«
»Es tut mir wirklich leid, wie das alles gekommen ist. Aber ich reite nicht mehr. Bitte …« … akzeptier das einfach, hatte ich sagen wollen. Das und dass er Sinclair weiterhin trainieren konnte, wenn er wollte. Da Sinclair jetzt Peter gehörte, würden wir das zwar noch mit der Versicherung abklären müssen. Aber da genügte eine E-Mail und ein Berittvertrag.
Ich wollte gerade meinen Mund öffnen und es Henry vorschlagen, aber dann hielt ich inne.
Da war ein Geräusch. Es klang wie wildes Hufgetrappel auf Pflastersteinen. Henry hatte es ebenfalls gehört, denn er drehte sich suchend um, lief auf die Gebäudeecke zu und verschwand dahinter. Unschlüssig ging ich ihm nach und als wir uns dem vorderen Bereich des Hautgebäudes samt Parkplätzen näherten, blieb er plötzlich stehen und fluchte.
»Verdammt! Das darf nicht wahr sein.«
»Was ist?«, fragte ich hinter ihm. Dieses Mal war es Henry, der nicht antwortete. Doch es dauerte keine zwei Sekunden, da sah ich es ebenfalls. Ein Pferd trabte über den Hof. Es war ein heller Palomino mit langer Mähne, weißen Beinen und einem schmalen Abzeichen im Gesicht. Mit geweiteten Nüstern und hoch erhobenem Schweif trippelte er an den Autos vorbei auf uns zu.
Sofort änderte Henry seine Körperhaltung, machte sich groß und nahm die Schultern zurück. Das Pferd stoppte, doch als er vorsichtig eine Hand in seine Richtung streckte und sich ihm näherte, sprang es auf der Hinterhand herum und galoppierte zurück zur Reitanlage, vorbei am Stall und einem Mädchen mit einem Halfter in der Hand.
»Na großartig«, stöhnte Henry und stapfte los. »Jetzt werden wir ihn einfangen müssen.« Wenn er das so sagte, klang es, als stünde ihm ein Besuch beim Zahnarzt bevor. Aber ich sprach ihn nicht darauf an, sondern folgte ihm im Laufschritt bis zu dem Mädchen vor dem Stall. Es war Emily, wie ich bereits nach wenigen Schritten erkannte.
»Ich wollte Diamond nach draußen in seinen Offenstall bringen«, begrüßte sie uns außer Atem und schien dabei sogar zu vergessen, dass sie mich seit der Sache in der Mensa eigentlich komplett ignorierte. »Ich habe die Boxentür aufgemacht, aber bevor ich ihm das Halfter überziehen konnte, hat er mich zur Seite gedrängt und ist an mir vorbeigestürmt.«
Henrys Lippen verhärteten sich und er nahm Emily das Halfter aus der Hand. »Dieses verfluchte Pferd. Ich war von vornherein der Meinung, dass es ein Fehler war, ihn hierherzuholen. Der macht nur Ärger.«
»Aber Ma sieht nun einmal etwas Besonderes in ihm«, protestierte Emily.
»Das sieht sie in jedem Pferd. Ich sehe einfach nur verdammt viel Arbeit und Zeit, die sie nicht hat. Und wir beide wissen, an wem das dann hängen bleibt.« Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Henrys Ausdruck noch kühler. »Ich wünschte nur, sie hätte ihn verkauft und nicht Sinclair.«
Bei den letzten Worten drehte er sich bereits um und lief zusammen mit Emily los. Ich seufzte leise, ging ihnen dann aber einfach nach.
»Du weißt genau, dass Ma nichts dafür kann«, sagte Emily zu Henry, als wir den Stall und die Reithalle hinter uns ließen und auf die freie Rasenfläche zusteuerten, auf der sich der Trailparcours befand. »Diamond gehört ihr, aber Sinclair gehört der Schule und …«
»Gehörte«, murmelte Henry, winkte dann jedoch ab. »Schon gut, Emmy. Ich weiß es ja selbst. Wir sollten uns jetzt auf Damon konzentrieren und darauf, wie wir ihn wieder eingefangen bekommen, ohne dass er irgendwo auf eine Straße läuft.«
»Diamond«, verbesserte Emily. »Diamond’s Golden Dancer.«
Henry zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wer sich den Namen ausgedacht hat, aber er passt nicht zu ihm. Der gute Diamond ist nämlich maximal ein Stück Kohle, für das man reichlich Ausdauer braucht. Aber zwei Buchstaben weniger im Namen und wir haben es.«
Emily entwich ein leises Schnauben und sie setzte abermals zum Konter an, aber da hob Henry plötzlich die Hand.
»Dahinten ist er«, sagte er und zeigte zu einem der Hindernisse, die im hinteren Bereich der Trailwiese standen. Und tatsächlich: der Palomino, der eben noch über den Innenhof getänzelt war, stand mit gesenktem Kopf neben einem der liegenden Baumstämme und graste. Er wirkte nun ganz ruhig.
»Okay.« Henry drehte sich zu uns um. »Der Plan lautet wie folgt: Ihr zwei geht ans Ende der Wiese und treibt ihn langsam zurück zum Hof. Und achtet darauf, dass er nicht noch weiter wegläuft.«
Ähm … okay. »Und was genau machst du, großer Anführer?« Ich konnte mir den Kommentar aufgrund seines bestimmenden Tonfalls nicht verkneifen und Henry sah mich an, als wolle er sagen: Das ist ein schlechter Scherz, oder?
Doch die Worte, die schließlich aus seinem Mund kamen, waren: »Ich schneide ihm den Weg ab und fange ihn ein. Was hast du denn gedacht?«
Dass du dich gerade ziemlich wichtig nimmst.
Im letzten Moment konnte ich mir noch auf die Zunge beißen. Wegen der ganzen Sache mit Sinclair war ich ohnehin schon unbeliebt bei Henrys Clique. Es musste nicht noch schlimmer werden.
Also sagte ich bloß: »Schön, von mir aus. Versuchen wir es so.« Innerlich stellte ich mir allerdings bereits vor, wie das goldene Pferd im vollen Galopp an Henry vorbeistürmte und er keine Chance hatte, es einzufangen.
»Kommst du?«, fragte Emily und ich nickte und umrundete mit ihr die Wiese. Doch obwohl wir einen Bogen liefen, und nicht direkt auf ihn zu, hob der Palomino den Kopf. Mit gespitzten Ohren sah er zu uns herüber. Sofort wurde Emily langsamer und nach einigen Sekunden graste das Pferd weiter.
»Vielleicht schaffen wir es ja sogar, ihn direkt einzufangen«, flüsterte Emily mir über die Schulter zu. Und womit?, wollte ich schon fragen, aber da löste Emily ihren Gürtel aus der Hose. »Ich werde mal versuchen, ihm den um den Hals zu legen. Blieb hier stehen, ja?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, machte sie ein paar Schritte auf Diamond zu, verharrte und wagte sich weiter vor. Der Palominowallach zeigte keine Anzeichen davonzulaufen, hielt aber dauerhaft ein Ohr in unsere Richtung gedreht. Noch drei Meter. Emily hatte ihn fast erreicht. Ich hörte, wie sie leise mit ihm redete. Zwei Meter, eineinhalb. Diamond sah sie an. Emily streckte ihm die Hand entgegen, um ihn daran schnuppern zu lassen. Doch kurz bevor ihre Fingerspitzen ihn berührten, sprang er blitzschnell zurück, warf den Kopf zur Seite, dass seine Mähne nur so flog, und galoppierte davon. In sicherem Abstand blieb er stehen, drehte sich zu uns um und prustete laut. Es kam mir beinahe vor wie eine Herausforderung.
»Mist, ich hatte ihn fast«, murmelte Emily, als ich zu ihr aufschloss. »Aber wenigstens läuft er jetzt zu Henry. Er wird ihn einfangen, da bin ich sicher.«
Klar, wenn nicht Henry, wer dann? Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete ich, wie er sich von seiner Position am Rand der Wiese löste und seinerseits einen Versuch startete. Immer noch hielt Diamond den Blick auf uns gerichtet und es machte den Anschein, als wäre er vollkommen auf Emily und mich konzentriert. Doch ich bemerkte, wie er auch jetzt ein Ohr nach hinten wandte. Kurz bevor Henry ihn erreichte, wirbelte er auf der Hinterhand herum, stob davon und überwand dabei sogar noch eines der Hindernisse.
Beinahe hätte ich laut losgelacht, konnte es mir aber gerade noch verkneifen. Mir entwich lediglich ein kleines Kichern, was mir einen verwunderten Blick von Emily einbrachte.
Henrys Fluch hallte quer über den Trainingsplatz und ich konnte nicht anders, ich musste grinsen. »Scheint, als wäre dieses Pferd zu clever für Henrys Masterplan.«
Emily zuckte mit den Schultern. »Er weiß, was er tut, glaub mir. Komm, wir versuchen es noch einmal.«
Damit lief sie los, schnalzte und versuchte, Diamond zu Henry zu treiben. Ich blieb stehen und erlaubte mir, das Pferd genauer anzusehen. Der Wallach war schlank, mit zierlichen Beinen und hübschem Gesicht, zu groß, um ein Pony zu sein, aber weit davon entfernt, an Sinclair heranzureichen. Und er war schnell. Diamond wartete stets, bis Henry oder Emily ihn fast erreicht hatten, und schlug dann Haken wie ein junger Hase, um seinen Gegenspielern zu entkommen. Auf seiner Flucht sprang er über Hindernisse, galoppierte am Flattertor vorbei und trabte schließlich furchtlos durch die künstlich angelegte Wasserstelle. Sobald er die Entfernung als ausreichend empfand, stoppte er und posierte wie für ein Siegerfoto.
»Steh nicht so blöd herum, Katrina!«, rief Henry von der anderen Seite der Wiese. »Hilf uns, ihn einzufangen!«
Ich seufzte und bewegte mich ein paar Schritte auf das Pferd zu. Dabei gab ich mir erst gar keine Mühe, ihm sonderlich nahe zu kommen. Es war sowieso aussichtslos. Er würde sich nicht einfangen lassen. Das Ganze war ein Spiel. Sein Spiel. Und er wusste ganz genau, dass er schneller war und den längeren Atem hatte.
Das schien nun auch Henry klar zu werden.
»Okay, das hat keinen Sinn! Ich hole eine Futterschüssel, was zum Absperren und Verstärkung. Ich beeile mich. Ihr wartet hier und passt auf, dass er nicht weiter wegläuft.« Er drehte sich um und verschwand in Richtung Hof. Ein paar Minuten tat ich tatsächlich, was er gesagt hatte. Ich blieb einfach stehen, behielt Diamond im Blick und ignorierte das Kribbeln in meinem Bauch und in meinen Fingerspitzen. Doch schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Als ich mir ganz sicher war, dass Henry fort war und mich nicht zurückhalten würde, wagte ich mich einige Schritte auf das Pferd zu.