Читать книгу Dancing with Raven. Unser wildes Herz - Jana Hoch - Страница 8
Kapitel 2
Оглавление»Sowohl Cassiopeia als auch Morning Star haben großes Potenzial. Beide sind wahre Schätze im Umgang und springen diese Saison auf L-Niveau«, schwärmte die Direktorin und lehnte sich an den Zaun. Peter nickte, ich reagierte nicht. Innerlich bebte ich jedoch vor Wut. Was glaubte Peter eigentlich, was er da tat? Wir hatten über Daisy gesprochen und er hatte mir seine Bedingungen genannt! Nie war die Rede von einem neuen Pferd gewesen und ich wollte kein anderes. Nur sie!
Mit zusammengepressten Zähnen stützte ich die Arme auf die Reitplatzbegrenzung und beobachtete, wie die Pferde, zwei dunkle Stuten und ein großrahmiger Fuchswallach, nacheinander durch den Parcours galoppierten.
»Morning Star wird bei richtigem Training aber auch zeitnah in höheren Klassen erfolgreich sein können. Sie ist eine wahre Schleifensammlerin, genau das, was Sie für Katrina suchen.«
Frau Lorenzen lächelte mich an, aber ich erwiderte die Geste nicht und blickte weiter stur geradeaus. Fiel denn hier niemandem auf, dass ich kurz davor war zu explodieren? Offenbar nicht. Lediglich Henry runzelte die Stirn und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Sie kennen die Hintergründe unserer Schulpferde?«, wandte sich die Direktorin wieder an Peter. Der schüttelte den Kopf, aber ich konnte mir denken, worauf sie hinauswollte. Als ich nach Internaten gesucht hatte, die möglichst weit von Berlin entfernt lagen, war ich zufällig darauf gestoßen. Und obwohl ich nicht vorhatte, mich einer Reitgruppe anzuschließen, hatte mir die Philosophie gefallen.
»Silver Willow verfügt dauerhaft über fünfzehn bis zwanzig Schulpferde. Einige kommen aus schlechter Haltung, manche wurden als Schlachtfohlen gerettet. Aber die meisten unserer Pferde sind hier, weil sie einmal sogenannte Verhaltensauffälligkeiten gezeigt haben: missverstandene Pferde, solche, die schnell unsicher werden, Steiger, Durchgänger … na, Sie wissen schon.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Uns geht es nicht nur ausschließlich um den Sport, sondern auch um Vertrauen und Teambuilding. Sie glauben gar nicht, wie diese Pferde und unsere Schüler in der Zusammenarbeit gleichermaßen aufblühen. Cassiopeia zum Beispiel ist, als sie zu uns kam, jedes Mal panisch geworden, wenn irgendwo etwas geraschelt hat. Heute ist sie eines unserer sichersten Springpferde und kommt nie ohne Schleife vom Turnier.«
»Und Ihre Schüler bilden diese Pferde mit aus?«, hakte Peter interessiert nach.
Frau Lorenzen nickte. »Ganz genau. Natürlich alles unter Aufsicht. Sicherheit steht immer an erster Stelle. Und die schwierigeren Pferde werden ausschließlich von unseren Oberstufenschülern mit dem Schwerpunkt Reiten betreut. Diese haben die nötige Erfahrung und können die Pferde begleiten. Wenn sie ihren Abschluss gemacht haben, können sie ihre Schützlinge entweder selbst übernehmen oder wir verkaufen sie weiter. Einige bleiben auch bei uns, wenn sie sich als Lehrpferde eignen.« Sie hatte leuchtende Wangen bekommen und man sah ihr an, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag. »Mein Vater hat dieses Konzept in den 70er-Jahren entwickelt und ich führe es weiter. Durch die Arbeit mit diesen meist verunsicherten, nicht richtig verstandenen Pferden erkennen die Schüler, dass sie nicht nur dann gewinnen, wenn sie auf dem Siegertreppchen stehen. Sie können noch so viel mehr gewinnen, wenn sie sich Zeit nehmen und sich das Vertrauen eines Pferdes erarbeiten. Diese Erfahrung kann für die Jugendlichen sehr prägend sein.« Sie deutete auf den Fuchswallach und Peter folgte ihrem Wink. »Westminster, oder Westy, wie wir ihn liebevoll nennen, hat sich dank seiner fürsorglichen Betreuerin von einem hektischen Jungpferd zu einem motivierten und nervenstarken Springtalent entwickelt. Er ist erst acht Jahre alt und schon sehr sicher im Parcours unterwegs.«
Als ob es ihre Worte gehört hatte, segelte das bronzefarbene Pferd mit der auffällig gezackten Blesse gekonnt über eines der Hindernisse nahe des Zauns.
»Und Katrina, was meinst du?«, fragte Peter. »Wäre der etwas für dich? Oder eher Morning Star? Die scheint ja regelrecht ein Garant für das Turnier zu sein und Luft nach oben klingt für mich auch gut.«
Ich antwortete nicht, grub mir stattdessen die Fingernägel in die Handflächen. Merkte er nicht, dass er die Grenze bereits deutlich überschritten hatte?
»Katrina?«, hakte Peter nach und räusperte sich noch einmal mit Nachdruck, um mir zu verstehen zu geben, dass er eine Antwort erwartete. Das war dieser eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Ich will kein neues Pferd«, presste ich hervor und egal, wie sehr ich mich anstrengte, die Wut überlagerte nun jedes Wort. »Warum kapierst du das nicht? Ich will nur Daisy!«
Stille. Ich spürte die Blicke von Frau Lorenzen und Mister Schullogo auf mir. Selbst auf dem Reitplatz drehten sich zwei Schüler zu mir herum. Was sie jetzt über mich dachten, konnte ich mir schon denken: Verwöhnte Göre. Da will ihr reicher Papa ihr ein Pferd kaufen und sie macht hier so eine Szene.
Aber klar, woher hätten sie auch wissen sollen, wie es in mir aussah und wie es sich anfühlte, dass Peter Daisy, meine Daisy, einfach so durch ein neues Pferd zu ersetzen versuchte? So als wäre sie nichts weiter als ein Fahrrad, bei dem er mir einfach ein besseres Modell hinstellen konnte. Dabei bedeutete sie mir alles. Sie war nicht nur ein Pferd, sondern auch meine beste Freundin. Die einzige, die mir noch geblieben war.
Niemand sagte etwas, bis das Schweigen und die Blicke so unangenehm wurden, dass ich es nicht mehr aushielt.
»Bitte, lass uns das Thema einfach vergessen«, erklärte ich knapp an Peter gewandt und trat einen Schritt zurück, um klarzumachen, dass ich mir die Pferde nicht länger anschauen wollte. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich mich gerade komplett verarscht fühlte, aber ich schluckte die Worte herunter. Das konnte ich später mit ihm besprechen. Wenn ich jetzt eine Szene machte, würde ich nur zielsicher zum Gesprächsthema werden, bevor ich einen einzigen Tag an der neuen Schule durchgehalten hatte.
Also murmelte ich bloß: »Ich werde jetzt mal mein Zimmer suchen und … meine Sachen auspacken … oder so.« Damit drehte ich mich um und lief so schnell davon, wie ich konnte.
Hinter mir hörte ich Peter noch sagen: »Teenager. Man kann es ihnen nicht recht machen. Na, Katrina wird sich schon wieder beruhigen.«
Tränen brannten in meinen Augen, als ich zurück zum Hauptgebäude stapfte. Ich konnte nicht fassen, wie wenig Peter mich nach eineinhalb Jahren kannte. Und seine sogenannte Überraschung zeigte auch nur, dass er mir wieder einmal nicht zugehört hatte. Sonst wüsste er ja, dass es mir nicht darum ging, wieder zu reiten oder auf Turnieren zu starten. Ich wollte Daisy zurückhaben – mein Pferd, das er mir einfach weggenommen hatte. Mehr nicht!
Aber anstatt sein Wort zu halten, versaute er mir lieber meinen Start an der neuen Schule. Nach meinem Dramaabgang eben hielten mich vermutlich alle für eine verwöhnte Tussi. Großartig! Und wie ich Frau Lorenzen einschätzte, würde sie nun wissen wollen, was es mit Daisy auf sich hatte und warum ich so merkwürdig reagiert hatte. Ich konnte mir denken, was Peter erzählte.
Die Entscheidung, das Pferd wegzugeben, ist mir wirklich nicht leichtgefallen. Aber mir blieb keine Wahl. Katrina hatte Probleme, sie war krank und eine Gefahr für sich selbst.
Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon ganz anders.
Die letzten Meter bis zum Hauptgebäude rannte ich, riss die Tür auf und stürmte ins Foyer. Hier war ich allein und einen Augenblick lang stand ich unentschlossen herum, versuchte, meine Gedanken zu ordnen, und ließ meinen Blick von einer Seite des Raumes zur anderen schweifen. Sandfarbene Marmorböden, eine breite Flügeltreppe, ein Kronleuchter an der Decke. Ich kam mir vor, als wäre ich in der Zeit zurückgereist. Lediglich die Sitzgruppe aus modernen Ohrensesseln und bunten Kissen, die vor einem der vielen Bücherregale stand, war eindeutig der Gegenwart entsprungen. Oder besser gesagt einem schwedischen Möbelhaus. Kurz überlegte ich, mich in einen hineinfallen zu lassen, aber dann tastete ich mit der Hand nach der Chipkarte, die Frau Lorenzen mir eben auf dem Weg zur Reitanlage gegeben hatte.
»Damit kommst du jederzeit auf dein Zimmer und natürlich auch raus. Nur abends ist der Durchgang zum Flügel der Jungs geschlossen und umgekehrt ebenfalls«, hatte sie gesagt und dabei leicht geschmunzelt. »Außerdem ist dein Stundenplan darauf gespeichert und du kannst dein Essen damit vorbestellen.«
Ich zog die Karte aus meiner Hosentausche und drehte sie zwischen den Fingern. Auf der Rückseite stand meine Zimmernummer. Es war die 021. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Henry auf seiner Führung erzählt, dass sich die Zimmer im ersten und zweiten Stock befanden. Also nichts wie los!
Auf dem Weg nach oben nahm ich zwei Stufen auf einmal und gleich in der ersten Etage wurde ich fündig. Der Flucht- und Rettungsplan an der Wand verriet mir, dass mein Zimmer auf der rechten Seite lag. Die Glastür zum Korridor war nicht verschlossen, offenbar brauchte man die Karte wirklich erst abends.
Der angrenzende Flur war hell und modern, die Zeitmaschine hatte mich wieder im einundzwanzigsten Jahrhundert ausgespuckt. An den Wänden hingen Bilder und Plakate. Girls only, stand auf einem Poster an einer der Türen. An einer anderen: Dieses Zimmer war eigentlich aufgeräumt. Aber dann wussten wir nicht, was wir anziehen sollten. Auch an dem Zimmer mit der Nummer 021 entdeckte ich einen Zettel.
Erst anklopfen, dann reinkommen, las ich darauf. (Und ja, das gilt auch für euch, Henry und Daniel!)
Komisch, hatte die frühere Bewohnerin meines Zimmers vergessen, die Notiz abzumachen? Ich prüfte die Nummer auf meiner Karte. Nein, sie stimmte. 021 war eindeutig mein Zimmer. Vorsichtig legte ich eine Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang auf. Der Raum dahinter war größer, als ich es von einem Einzelzimmer erwartet hatte, mit hohen Fenstern und dunklem Eichenboden. Das Türkisblau der Vorhänge erinnerte mich an die Strände Floridas, an denen ich mit meinen Freunden Molly und Nate so manches Wochenende verbracht hatte. Doch die Erinnerung daran konnte nicht verhindern, dass sich bei näherem Betrachten der Einrichtung alles in mir zusammenzog. Der Zettel mit dem Hinweis, dass man anklopfen sollte, hing nicht bloß dort, weil sich die letzte Bewohnerin nicht die Mühe gemacht hatte, ihn bei ihrem Auszug aus dem Zimmer abzunehmen. Er hing dort, weil sie immer noch hier wohnte!
Es gab nicht nur ein Bett, sondern zwei. Außerdem zwei Kleiderschränke, zwei Schreibtische und zwei Regale! Über einem der Betten hingen gerahmte Bilder, Bücher stapelten sich auf dem Boden. Ein kleiner Wäscheberg häufte sich auf der Lehne des einen Schreibtischstuhls und in oberster Reihe des Regals standen mit buntem Papier beklebte 3-D-Buchstaben.
E.M.I.L.Y.
Ich schluckte. Das musste ein Irrtum sein, ganz bestimmt. Man hatte mir die falsche Karte gegeben. Bei meiner Anmeldung hatte ich extra dazugeschrieben, dass ich allein wohnen wollte. Und das war zwingend notwendig, weil …
Ich stockte, als ich meine Koffer neben einem der weißen Schränke entdeckte. Sie waren der Größe nach geordnet, das konnte nur Peters Werk sein. Er musste sie hochgebracht haben, während ich mit Henry unterwegs gewesen war. Aber das bedeutete … dass er gewusst hatte, dass ich kein Einzelzimmer bekam. Mir wurde heiß. Kalt. Wieder heiß. Hatte Peter etwa arrangiert, dass ich mir das Zimmer mit jemandem teilte? Ohne mich zu fragen? Er wollte, dass ich Freunde fand und mich wieder öffnete, schön und gut. Aber hatte er auch nur ein einziges Mal über die Konsequenzen nachgedacht, die mich erwarteten, wenn ich hier drin eine Panikattacke bekam? Klar, die Therapie hatte geholfen – ich konnte wieder in einem Auto mitfahren, ohne Herzrasen zu bekommen, und auch meine Aussetzer kamen viel seltener als früher. Aber wenn es passierte, war es immer noch genauso schlimm. Peter wusste das! Und wenn Emily mitbekam, dass etwas mit mir nicht stimmte, würde es so enden wie an meiner Schule in Berlin. Bei dem Gedanken an das Getuschel, die Blicke und das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, wurde mir schlagartig übel.
Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und das flaue Gefühl im Magen wuchs noch weiter. In diesem Zimmer hatte ich überhaupt keinen Rückzugsort. Emilys Bett stand an der gegenüberliegenden Wand und dazwischen gab es rein gar nichts, was die Sicht versperrte.
Klar, im Ernstfall konnte ich mich im Bad einschließen, aber dann würde meine Mitbewohnerin mich immer noch hören können und garantiert jemanden von den Lehrern alarmieren. Wie ferngesteuert öffnete ich meine Handtasche und tastete mit den Fingern nach dem Tablettenblister, der wie immer sicher verwahrt in einem Seitenfach steckte.
Es wird nichts passieren, sagte ich mir. Niemand wird es mitbekommen.
Da ging hinter mir die Tür auf und ich zuckte zusammen und ließ die kleine Plastikverpackung blitzartig los. Wenn Peter jetzt hergekommen war, weil er eine Entschuldigung für mein Benehmen erwartete, konnte er …
»Hi, du musst Katrina sein.« Nein, das war nicht Peter. Ganz eindeutig nicht. Vor mir stand ein rothaariges Mädchen. Die wilden Locken fielen ihr über die Schultern und reichten fast bis zur Taille. Merida, schoss es mir in den Kopf und ich konnte gerade noch verhindern, sie so anzusprechen.
»Ich bin Emily Lorenzen«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie zögerlich. Lorenzen? So wie Ines Lorenzen? War Emily etwa mit der Schulleiterin verwandt?
»Mir ist klar, was du jetzt denkst«, sagte Emily da und ich sah sie verwundert an. Tatsächlich?
Sie nickte bekräftigend. »Lorenzen ist nicht gerade ein häufiger Nachname und bevor du fragst, kläre ich dich lieber gleich auf: Ja, die Schulleiterin ist meine Mutter. Aber keine Sorge: Ich bin trotzdem absolut cool.« Ein Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Genau genommen ist das hier sogar das coolste Zimmer auf Silver Willow und bevor Imani, meine letzte Mitbewohnerin, vor den Sommerferien zurück nach Frankreich gezogen ist, hatten wir jede Menge Spaß.« Emily zuckte mit den Schultern und versuchte, nicht allzu traurig auszusehen, doch ich sah ihr an, dass sie ihre Freundin immer noch vermisste.
»Na ja, jetzt bist du ja da, Katy.« Sie strahlte mich an.
»Katrina.« Katy hatten mich nur meine Freunde aus Florida und ein paar Leute von der Ranch genannt.
»Alles klar! Ich freue mich total, dass endlich wieder Leben in dieses Zimmer kommt. War das langweilig, ganz allein! Ab und an habe ich schon bei Lucía und Sophie geschlafen, weil ich ja sonst abends niemanden mehr zum Reden hatte. Aber mit dir wird das bestimmt super.«
Ich lächelte, sagte aber nichts. Für einen Moment überlegte ich, ob Peter es wohl absichtlich so eingefädelt hatte, dass ich mir ein Zimmer mit der Tochter der Direktorin teilte. Aber nein, das ging selbst für ihn zu weit. Dennoch … ich musste dringend einen Weg finden, wie ich aus dieser Nummer wieder herauskam, ohne mich bei Emily komplett unbeliebt zu machen. Sobald Peter weg war, hatte ich vorgehabt, den Fehler mit dem Zimmer zu korrigieren und um ein eigenes zu bitten. Allerdings wollte ich nicht, dass Emily dachte, es wäre wegen ihr.
»Wegen meiner Ma brauchst du dir übrigens keine Sorgen zu machen. Sie kommt immer etwas streng rüber, ich weiß. Aber eigentlich ist sie das gar nicht. Hier, schau mal.« Emily ging zu ihrem Bett und nahm eine der gerahmten Fotografien von der Wand. Als ich mich zögerlich neben sie stellte, hielt sie mir das Bild unter die Nase. Darauf waren unverkennbar ihre Mutter und sie zu sehen … und die Schulleiterin – ich musste zweimal hinsehen – trug eine Lederjacke und hatte ihre Augen dunkel geschminkt. Das Foto war leicht schief aufgenommen worden, ein Selfie, und im Hintergrund konnte man eine Bühne erkennen.
»Das war auf einem Rockfestival. Da haben wir ein Wochenende lang gecampt«, erklärte Emily stolz und ich konnte nicht anders, als ungläubig den Kopf zu schütteln.
Das Bild der schick gekleideten Frau, die ich erst vorhin kennengelernt hatte, wollte sich für mich so gar nicht mit einem Zelt, Toilettenboxen und lauter Musik zusammenbringen lassen. Dafür hatte sie viel zu elegant gewirkt. Und dennoch – mit den goldenen Kreolen in den Ohren und dem bunten Holipulver im Gesicht sahen Emily und die Direktorin aus wie ein ganz normales, ausgelassenes Mutter-Tochter-Gespann. Sie wirkten so glücklich. Wie Mom und ich. Sogleich wurde es eng um mein Herz und ich gab Emily die Aufnahme zurück.
»Warum wohnst du eigentlich nicht bei deiner Mutter, sondern in einem der Internatszimmer?«, fragte ich, während Emily das Bild zurück an die Wand hängte.
»Liegt das nicht auf der Hand? Es ist schlimm genug, wenn man jemandem erzählen muss, dass man die Tochter der Schulleitung ist. Da wird man doch gleich in eine Schublade gesteckt. Ich will einfach ganz normal sein wie alle anderen hier auch. Und für Ma ist das okay. Wir unternehmen dafür viel zusammen: Wanderritte, Slacklining, Mermaiding … worauf wir halt so Lust haben. Dieses Jahr wollen wir beim Extremhindernislauf mitmachen. Das wird genial!«
Moment, wollte sie damit sagen, dass die Direktorin vorhatte, sich mit ihrer Tochter an Tauen entlangzuhangeln, Wände hochzuklettern und durch Schlammlöcher zu waten? Das wurde ja immer schräger.
Emily grinste, als wüsste sie genau, was sich in meinem Kopf abspielte.
»Schon klar, wenn du sie in der Schule triffst, würdest du nie denken, dass sie so etwas macht. Das weiß sie ziemlich gut zu verbergen. Wegen der Autorität und so.« Sie verdrehte die Augen, grinste aber weiterhin. Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln und ließ meinen Blick auch noch über die anderen Bilder an der Wand gleiten. Doch es waren keine mehr von ihrer Mutter darunter. Dafür ein paar mit Freundinnen, einem kess dreinschauenden Fuchspony und … mit Henry. Sie waren also ein Paar, hatte ich es doch gewusst.
Noch ein Grund, schnell wieder auszuziehen. Bevor ich den beiden von nun an regelmäßig beim Knutschen oder bei sonstigen Sachen zusehen musste, würde ich freiwillig in den Keller auswandern. Zu den Riesenspinnen!
»Ist er … dein Freund?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen, weil ich die Antwort ja längst kannte. Emily wirkte jedoch irritiert.
»Wer?«
Na, Mister Wirtschaftswoche, wäre mir beinahe herausgerutscht, aber ich konnte mich noch rechtzeitig beherrschen. »Henry«, sagte ich stattdessen.
»Oh nein. Wir sind nur gute Freunde. Er ist wie ein Bruder für mich.« Sie schmunzelte. »Wieso? Bist du an ihm interessiert?«
Ich hob abwehrend die Hände. »Garantiert nicht. Er hat quasi den Boden vor meinem Vater vollgesabbert, nur weil er irgendeinen seiner Artikel gelesen hat. Wahrscheinlich wird er sich nach der Begegnung nie wieder die Hände waschen.«
Ups! Ich biss mir auf die Zunge. Erst denken, dann reden! Irgendwie musste ich das wieder hinbiegen. Doch während ich noch überlegte, was ich sagen konnte, fing Emily an zu kichern.
»Ja, er hat sich ziemlich darauf gefreut, ihn kennenzulernen, weil er gehofft hat, ihn nach seiner Meinung zu … ähm … so Aktienkram fragen zu können.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe ja nur Bahnhof, was das betrifft. Aber Henry kennt sich da total gut aus. Wie mit vielen anderen Dingen auch. Geschichte, Mathe, Sport, Pferde … einfach alles. Deshalb kann er manchmal etwas einschüchternd wirken.«
Einschüchternd hätte ich das jetzt nicht genannt. Eher oberstreberpeinlich. Doch diesen Gedanken behielt ich dann lieber für mich.
»Apropos Pferde, sag mal …« Emily hörte auf zu lachen und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Was immer sie mich fragen wollte, es schien ihr unangenehm zu sein. »Hast du dich eigentlich schon für eines der Pferde entschieden? Meine Ma hat mir erzählt, dass dein Paps dir eins von unseren Schulpferden kaufen möchte.« Sie versuchte, es unwichtig klingen zu lassen, aber mir entging nicht, wie sie dabei nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Ich überlegte, wie ich ihr den Sachverhalt erklären konnte, ohne dass sie mich komplett merkwürdig fand. Doch als ich nach zehn Sekunden noch nicht geantwortet hatte, sprudelte es nur so aus Emily heraus.
»Also, wenn ich du wäre, würde ich mich für Cassiopeia entscheiden. Sie ist wirklich toll und ihre Betreuerin hat vor ein paar Monaten die Schule gewechselt. Morning Star ist auch supereinfach zu reiten, immer motiviert und leicht an den Hilfen. Ma hat sie in der letzten Zeit selbst trainiert, bis sie ihren Unfall hatte. Wenn du dich für sie entscheidest, bereust du es bestimmt nicht.« In ihrem Blick lag etwas Flehentliches und es dauerte weitere drei Sekunden, bis bei mir der Groschen fiel, und ich begriff, was sie mir eigentlich sagen wollte.
»Du hast Angst, dass ich einer deiner Freundinnen ihr Pferd wegnehme, richtig?«
Emily senkte den Kopf, das war mir Antwort genug, und sofort breitete sich ein unangenehmes Druckgefühl in meinem Bauch aus.
Frau Lorenzen hatte vorhin am Reitplatz erst betont, dass die meisten Pferde die Schüler bis zum Abschluss begleiten und häufig sogar noch darüber hinaus.
»Es ist nur … wegen Westy«, druckste Emily herum. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und presste eines der vielen bunten Kissen an sich, die darauf verteilt lagen. »Um ehrlich zu sein … machen wir uns alle etwas Sorgen, dass du dich für ihn entscheiden könntest, weil Aylin ihn ausgebildet hat, seit wir ihn vor drei Jahren bekommen haben. Sie hat ihn wirklich sehr lieb und geht sogar neben dem Unterricht noch arbeiten, damit sie ihn nach ihrem Abschluss kaufen kann.« Ganz langsam hob sie den Blick. »Tut mir leid. Das ist vermutlich keine besonders tolle Begrüßung von mir und ich wünschte …«
»Schon okay«, unterbrach ich sie. »Ich werde mich nicht für Westy entscheiden. Versprochen. Und ich werde auch niemandem sonst das Pferd wegnehmen.«
Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihre Lippen.
»Warum soll Westy denn überhaupt verkauft werden, wenn Aylin doch so sehr an ihm hängt?«
Emily schnaubte. »Die Geschäftsführung braucht Geld, um den mediengestützten Unterricht weiter ausbauen zu können. Meine Mutter hat zwar ziemlich viel Einfluss, was die Entscheidungen hier angeht, aber der Stiftungsrat hat sich gegen sie gestellt und gefordert, mindestens eins der Pferde dafür zu verkaufen. Vielleicht sogar noch mehr, je nachdem, wie viel Geld sie bringen. Da ist Ma machtlos. Und Blume redet wohl seit Tagen nur noch von dem großartigen Geschäft, das er mit deinem Paps machen will. Vermutlich könntest du dir jedes Schulpferd aussuchen und Blume würde es dir verkaufen. Ganz egal, welches du möchtest. Dass wir lieber die Pferde behalten wollen, als noch mehr dämliche Tablets anzuschaffen, ist dabei leider vollkommen egal.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Nur, dass ich mich augenblicklich mies fühlte. »Das tut mir wirklich leid.«
»Nein, mir tut es leid. Wenn es für Aylin nicht so wichtig wäre, hätte ich ja auch gar nichts gesagt. Das musst du mir glauben. Es ist nur … Blume ist es halt komplett egal, ob er ein tolles Team auseinanderreißt. Für ihn zählt das Geld und ein Pferd kann seiner Meinung nach jederzeit ersetzt werden.«
Klang nach Peter. Offenbar glaubte der auch, dass man einfach ein neues Pferd kaufen und damit alles Vergangene ungeschehen machen konnte. Als wäre es ein Auto oder einer seiner blöden Aktienfonds.
»Und wer genau ist Blume?«
»Der Geschäftsführer. Hermann Blume. Er hat hier das Sagen, wenn es um die Finanzen geht. Du wirst ihn noch kennenlernen.«
Hoffentlich nicht allzu schnell. Ich wollte Emily sagen, dass ich mich für die Pferde des Internats nicht im Geringsten interessierte. Doch kaum, dass ich den Mund öffnete, flog die Zimmertür auf. So schwungvoll, dass sie gegen meinen Schrank krachte.
Emily fluchte und sprang auf. »Daniel, kannst du nicht lesen? An-klop-fen«, stöhnte sie. »Ich meine, was hättest du denn gemacht, wenn wir uns gerade umgezogen hätten?«
Es war der blonde Typ vom Fußballplatz, der nun breit grinste. »Dann …«, sagte er und schien kurz zu überlegen, »… hätte ich mir die Augen zugehalten … Vielleicht. Also, kann ich reinkommen?«
Emily schnaubte, nickte aber. Mit übertriebener Geste hüpfte Daniel über die Schwelle und landete mit beiden Füßen gleichzeitig.
»Eigentlich bin ich nur hier, um Florida zu sagen, dass ihr Typ unten verlangt wird. Scheint wichtig zu sein. Deine Mutter hat gesagt, ich soll nicht trödeln und sie holen. Mehr weiß ich nicht.«
Florida? Hatte er mir etwa in den wenigen Minuten, die wir uns kannten, schon einen Spitznamen verpasst? Und was wollte die Direktorin von mir? Wenn sie Daniel geschickt hatte, um mich zu suchen, konnte das eigentlich nur eines bedeuten: Peter wollte endlich abreisen. Und was das betraf, würde ich ihn nicht behindern.
»Wir sehen uns später«, sagte ich zu Emily und warf ihr noch einmal einen Blick zu, der ihr versichern sollte, dass sie sich wegen der Pferde keine Sorgen machen brauchte. Dann lief ich auf den Flur und weiter zur Treppe, die in das Foyer führte.
Daniel kam mir nach. »Da muss irgendetwas echt Krasses vorgehen«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Die Direx sieht aus, als hätte sie den entscheidenden Elfer verschossen.«
Seine Worte ließen mich auf den Stufen vor dem Eingang langsamer werden. Warum das denn? Ich hatte angenommen, nur Peters dämlicher Hunderttausend-Euro-Karre hinterherwinken zu müssen, aber was er da sagte, verunsicherte mich. »Wie meinst du das?«
Daniel verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und nickte in Richtung der Reitanlage. »Tja, ich habe keinen blassen Schimmer. Frau Lorenzen hat mich extra abkommandiert, um dich zu holen. Und irgendwie war sie komisch dabei. Eigentlich ist die Direx ja nie schlecht drauf, außer sie erwischt einen Schüler beim Rauchen oder nach 22 Uhr noch draußen. Aber eben sah sie aus, als ob sie am liebsten jemandem den Hals umdrehen würde. Echt unheimlich.«
»Und sie sind … beim Stall?«
Daniel nickte und mir wurde flau im Magen. Ohne noch etwas zu sagen, ließ ich ihn stehen und rannte los.
Ich erreichte den Stall laut atmend und mit wild klopfendem Herzen. Peter stand in der Boxengasse zusammen mit Frau Lorenzen und einem Mann im silbergrauen Anzug. Sie redeten lautstark, so wie er es für gewöhnlich mit seinen Geschäftspartnern tat. Das übliche Alphatiergehabe im Wirtschaftsdschungel. Normalerweise fand ich das mehr als lächerlich, doch jetzt gerade machte es mir Angst.
Bitte, dachte ich. Bitte, hab nicht das getan, was ich befürchte.
In Zeitlupe näherte ich mich der Gruppe und als Peter mich entdeckte, kam er mir entgegen und legte mir einen Arm um die Schultern. »Herr Blume, darf ich Ihnen meine Tochter Katrina vorstellen?«
Der Mann streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie mechanisch. Er war ungefähr in Peters Alter, etwas älter vielleicht, mit millimeterkurzem Haar, einer rahmenlosen Brille und einer penibel gebundenen Krawatte. Unter anderen Umständen hätte ihn sein freundliches Lächeln wohl sogar sympathisch gemacht. Doch jetzt, da ich mich innerlich auf das Schlimmste vorbereitete, löste sein Händedruck eine unangenehme Gänsehaut aus.
Er hat es nicht getan, redete ich mir ein. So weit würde er nicht gehen.
Rasch sah ich zu Frau Lorenzen. Daniel hatte recht, sie wirkte längst nicht mehr so locker und warmherzig wie vorhin. Zwar lächelte auch sie, aber ihre Züge waren hart, beinahe schon verkrampft.
Ich atmete tief durch. Peter hatte nicht einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, ganz sicher. Außerdem hatte ich so deutlich gesagt, dass ich kein anderes Pferd als Daisy haben wollte. Mehrmals, immer und immer wieder. Mein Blick glitt zu Peter und ich betete, dass ich mich irrte.
Er würde es nicht …
»Du bist also die talentierte, junge Springreiterin.« Herr Blume zwinkerte mir zu und strahlte mich an. »Ich gratuliere dir, Katrina. Sinclair ist das beste Pferd, das wir an der Schule haben.«
… noch schlimmer machen.
Peter lächelte und mir wurde schlagartig kalt.
»Willst du ihn sehen, Pumpkin? Er wird dir gefallen. Und warte ab, bis Herr Blume dir erzählt, was er schon alles gewonnen hat.«
Der Geschäftsführer nickte begeistert. »Sinclair ist ein Pferd für den ganz großen Sport.«
Ich beachtete ihn nicht, sondern hielt am Blickkontakt mit Peter fest.
Schau mich an.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich sehen, wie seine Maske fiel. Die Mundwinkel sanken herab und er versteifte die Schultern. Doch gleich darauf gewann die gewohnte Fassade wieder die Kontrolle. Er legte mir den Arm auf den Rücken und schob mich vorwärts.
»Das Pferd ist sehr brav und wohl ausgesprochen sicher. Es wird dich überzeugen.«
»Natürlich wird er das«, bestätigte Herr Blume euphorisch, »Sinclair ist der Traum eines jeden jungen Mädchens.«
Wir folgten dem Geschäftsführer bis zu einer geräumigen Paddockbox, in der ein großer Schimmel stand. Der Wallach war so riesig, dass ich bestimmt nicht über seinen Rücken schauen konnte, wenn ich neben ihm stand.
Und er war schneeweiß. Genau wie Daisy.
Ich spürte, wie meine Knie anfingen zu zittern.
»Das ist er«, verkündigte Peter das Offensichtliche. Er zog mich an seine Seite und posierte neben dem Pferd wie für ein Presseshooting. »Wir drei sehen doch aus wie ein Gewinnerteam. Oder, was meinen Sie, Herr Blume?«
Der Geschäftsführer nickte. »Auf jeden Fall!«
Frau Lorenzen sagte nichts. Genau wie ich hielt sie die Lippen fest aufeinandergepresst und ich fragte mich, ob sie auch am liebsten schreien wollte.
Peter drehte sich zu Sinclair und klopfte dem armen Pferd heftig den Hals. »Braver Junge. Du bist ein gutes Pferd. Na, du warst auch sehr teuer.«
Nur Peter und Herr Blume lachten, dafür aber besonders laut.
Ich hingegen wiederholte innerlich, was er gerade gesagt hatte. Nicht du bist ja auch sehr teuer, sondern du warst. Hatte er ihn etwa schon gekauft?
»Und, Kleines? Gefällt er dir? Sieh nur, er ist ganz weiß. Sieht genauso aus wie …«
»Er sieht nicht aus wie Daisy!« Die Worte kamen lauter aus meinem Mund als beabsichtigt, aber nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen. »Du verstehst es einfach nicht, oder? Du könntest mir jedes Pferd auf der Welt kaufen. Es ist vollkommen egal, wie erfolgreich es ist, und die Farbe interessiert mich erst recht nicht. Es. Ist. Nicht. Daisy!«
Für einen Augenblick war alles still und Peter sah aus, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt.
»Ich versuche doch nur …«
»Du hast gesagt, dass wir noch einmal über Daisy sprechen, wenn alles wieder gut läuft. Du hast es versprochen!« Der Druck auf meiner Brust wurde immer stärker.
»Katrina«, setzte Peter unbeholfen an. »Ich dachte, wenn wir es einfach mal mit diesem Pferd probieren …«
Ich wusste nicht, was schlimmer war. Dass er mich nach all den Monaten noch immer nicht kannte oder dass er tatsächlich annahm, mir erst meine beste Freundin wegnehmen zu können, um sie dann eiskalt durch ein anderes Pferd zu ersetzen. Dass er annahm, mich damit glücklich zu machen.
»Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust«, zischte ich und wich von ihm zurück. Mir war klar, was Herr Blume und Frau Lorenzen nun über mich dachten, aber in diesem Moment kümmerte es mich nicht. Innerlich zählte ich die Sekunden. Drei, vier … fünf. Dann kamen die ersten Tränen, ob ich es wollte oder nicht. Peter wusste doch genau, dass meine Gefühle seit Moms Tod blank lagen und seit er Daisy weggegeben hatte nur noch mehr. Wie konnte er mich da in so eine Situation bringen?
Doch er war eben nur auf dem Papier mein Vater, in Wahrheit war er mir fremd und das würde wohl auch immer so bleiben. Ich überlegte, ob ich noch etwas sagen sollte. Aber meine Kehle fühlte sich eng an, unfähig, einen Laut herauszubringen. Und so drehte ich mich wortlos um und lief davon, bevor mich jemand aufhalten konnte.