Читать книгу Dancing with Raven. Unser wildes Herz - Jana Hoch - Страница 7
Kapitel 1
Оглавление»Keine nächtlichen Partys, keine Zigaretten und pass bloß auf mit den Jungs! Natürlich kann ich dir den Umgang nicht verbieten, das ist mir klar. Ich will ja bloß, dass du vorsichtig bist und …«
Bla, bla, bla. Ich starrte aus dem Fenster von Peters Geländewagen und ließ seine Worte einfach durch mich hindurchfließen. Nicht mehr lange und ich würde ihn los sein. Und dann trennten uns 585 Kilometer. In Gedanken wiederholte ich die Zahl wie ein Mantra. 585 Kilometer, 585 Kilometer …
»Versteh das nicht falsch, ich hätte auch nichts dagegen, wenn du einen Freund hättest. Aber eben keinen, der …«, Peter suchte nach den richtigen Worten, »… sich nur für Onlinegaming und Fitnessstudios interessiert. Ach, du weißt schon, was ich meine.« Er räusperte sich, als wäre ihm gerade selbst aufgefallen, wie überzogen und bescheuert das klang. »Was ist eigentlich mit Patrice Moreau? Der war doch sehr anständig und ich glaube, er fand dich gut.«
Patrice? Beinahe hätte ich gelacht. Ich hatte den blöden Typen letzte Woche bei einer Operngala kennengelernt. Nach außen hin hatte er zwar den perfekten Bankierssohn gemimt, aber in der Pause hatte ich ihn dabei ertappt, wie er in einer der Logen Pillen vertickte. Sehr anständig!
Peter wusste davon allerdings nichts. Ich hatte es für mich behalten, der Kerl war mir egal.
»Ich könnte Frédéric Moreau einmal anrufen und den Kontakt herstellen, wenn du möchtest.«
»Nein, danke, Pete. Aktuell will ich mich ausschließlich auf die Schule konzentrieren. Patrice würde mich da nur ablenken.«
Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass dies die One-Million-Dollar-Antwort gewesen war. Peters Gesicht hellte sich auf und er lächelte mir zu. Und das, obwohl ich ihn Pete genannt hatte. Dafür bekam ich für gewöhnlich einen vielsagenden Seitenblick zugeworfen.
»Ich bin sicher, dass es dir auf der neuen Schule richtig gut gefallen wird.«
Das würde es ganz sicher. Allein die Tatsache, dass der Umzug in ein Internat fast sechs Stunden Autofahrt zwischen Peter und mich brachte, war die Sache wert. In Berlin hatte ich mich nie wohlgefühlt und bei Peter schon gar nicht. Achtzehn Monate hatte ich nun bei ihm gelebt, aber manchmal kam es mir so vor, als wäre ich erst vor wenigen Wochen von Amerika nach Deutschland gekommen. Ich hatte versucht, hier klarzukommen. Wirklich. Aber ich vermisste mein Zuhause noch genauso wie am ersten Tag. Mein richtiges Zuhause, in Florida.
»Und warte erst einmal ab, bis du die Überraschung bekommst, die ich mir für dich überlegt habe.«
Ich schaute zu Peter. »Kann’s kaum erwarten«, murmelte ich und hoffte, dass es wenigstens ein bisschen neugierig klang. Innerlich fragte ich mich allerdings, wie lange es wohl noch dauerte, bis wir ankamen und ich endlich aussteigen konnte. Weit konnte es nicht mehr sein, wir waren vor wenigen Minuten von der Autobahn auf eine wenig befahrene Landstraße gewechselt.
»Willst du gar nicht wissen, was es ist?«, fragte Peter.
Ich seufzte. Die ominöse Überraschung erwähnte er jetzt schon das vierte Mal, seit wir losgefahren waren. Von all den Malen davor ganz zu schweigen.
»Du wirst es mir sowieso nicht verraten.«
»Genau, Pumpkin. Sonst wäre es keine Überraschung mehr.«
Pumpkin. Bei diesen Worten musste ich sofort das Fenster herunterlassen, damit mir der kühle Fahrtwind ins Gesicht wehte. So hatte mich meine Mom genannt, als ich noch klein gewesen war, und Peter hatte kein Recht, diesen Namen zu benutzen. Immerhin hatte er uns verlassen, bevor ich richtig laufen gelernt hatte. Er hatte den Großteil meiner Kindheit verpasst. Und die Tatsache, dass wir nun schon eineinhalb Jahre koexistierten, bedeutete rein gar nichts. Spitznamen hätte er mir vor zehn Jahren geben können. Jetzt war es zu spät. Vor zwei Monaten war ich sechzehn geworden, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte. Sechzehn. Bei dem Gedanken daran musste ich unweigerlich schlucken. Es war bereits der zweite Geburtstag ohne Mom gewesen. Ohne meine Freunde, ohne Tante Helen und unsere Pferde.
»Es ist jedenfalls schön, dass du dich für dieses Internat entschieden hast«, riss Peter mich aus meinen Gedanken. Er trommelte mit den Fingern auf dem superteuren Lederlenkrad, passend zu dem Lied, das gerade im Radio lief. »Es wird dir guttun, wieder Pferde um dich zu haben.«
»Ich habe mir die Schule ausgesucht, weil die meisten Fächer auf Englisch unterrichtet werden«, erinnerte ich ihn, wie schon Hunderte Male zuvor. Zwar konnte ich durch meinen jahrelangen Fremdsprachenunterricht und die Zeit in Berlin einigermaßen gut Deutsch, aber nicht, wenn es um Mathe oder gar Chemie ging. »Und ich werde nicht mehr reiten«, schob ich hinterher. Nicht, solange Daisy nicht zurück ist. »Du weißt genau, warum.«
Von einem Moment auf den nächsten versteinerte sich Peters Miene. »Ich glaube, dazu habe ich alles gesagt, Katrina.«
Sein Tonfall klang plötzlich ganz ruhig, beinahe geschäftsmäßig, und duldete keinen weiteren Kommentar. Typisch! Sobald ich ihn an Daisy erinnerte, packte er den Anwalt aus. Widerspruch zwecklos!
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich den Kopf gegen die Scheibe sinken. Ich kannte Peter gut genug, um zu wissen, dass eine Diskussion nichts bringen würde. Wenn ich Daisy wirklich zurückholen wollte, musste ich mich zusammenreißen und nach seinen Spielregeln spielen.
»Ach ja«, sagte Peter da. »Nenn mich bitte Dad, wenn wir bei der Schulleitung sind.«
Gut, vielleicht nicht nach allen Spielregeln. Denn Dad würde ich ihn ganz bestimmt nicht nennen, das konnte er vergessen. Vielleicht würde ich es mir sparen, ihn vor der Direktorin mit Pete anzusprechen. Aber Dad? Niemals. Und mal ehrlich, glaubte er wirklich, das würde uns familiärer wirken lassen?
Ich antwortete nicht und schloss die Augen. Wir schwiegen einige Minuten, bis Peter mich mit der Hand anstieß.
»Sieh mal, da steht’s schon.« Er deutete auf ein Schild mit der großen roten Aufschrift: Silver Willow International School.
Ich hob den Kopf. Tatsächlich!
Wir bogen auf eine lange Einfahrt ab. Auf beiden Seiten des Weges reihten sich Bäume, dahinter entdeckte ich strahlend weiße Zäune. Eine Gruppe zierlicher bunter Ponys graste am Rand und ein Schecke mit zweifarbiger Mähne hob den Kopf und begleitete unser Auto eine ganze Weile, bis der Zaun es nicht mehr zuließ.
»Das Pferd freut sich schon auf dich«, stellte Peter fest und lachte.
Na klar. Ich presste die Lippen zusammen, damit mir kein blöder Kommentar herausrutschte. Das hier war immerhin meine Chance auf einen Neuanfang. Und wenn alles gut lief, würde ich auch Daisy wiedersehen. Das hatte Peter zumindest vor ein paar Monaten gesagt, als ich ihn gefragt hatte, was ich tun musste, damit er mir meine Stute zurückkaufte. Seine Antwort hatte ich mir ganz genau gemerkt: Er hatte gewollt, dass ich eine Therapie machte und anschließend meinen Privatlehrer wieder gegen eine Schule tauschte, neue Freunde kennenlernte und gute Noten schrieb. Dass ich »endlich ankam«, hier in Deutschland. Er wollte ein ganz normales Leben für mich, ohne Panikanfälle, ohne Rückfälle.
Genau das hatte er gesagt.
Und ich nahm ihn beim Wort.
Allerdings musste es dafür hier auf Silver Willow möglichst glatt laufen. »Sehen wir es als Probezeit«, hatte Peter geschäftsmännisch gesagt, als ich ihm das Internat vorgeschlagen hatte. »Wir versuchen es und wenn du dich gut einlebst und dich die Situation nicht … nun ja … überfordert, dann sehen wir weiter. Und sollte es dir doch zu viel werden, dann hole ich dich ganz einfach zurück nach Berlin und wir versuchen es ein andermal.«
Ein andermal. Das würde bedeuten, dass ich Daisy so schnell nicht wiedersah. Und deshalb durfte ich diese »Probezeit« auf keinen Fall in den Sand setzen.
Peter steuerte den Wagen durch das Hoftor und stellte ihn auf einem der Besucherparkplätze ab. Kaum, dass er den Schlüssel abgezogen hatte, sprang ich heraus und sah mich um. Direkt vor mir lag das u-förmige Haupthaus des Internats. Das wusste ich, weil ich das rötlich schimmernde Steingebäude bereits im Internet gesehen hatte. Mit der efeubewachsenen Fassade und den kleinen Türmchen sah es aus wie ein Schloss. Im Innenhof entdeckte ich einen einzelnen Baum auf einer ordentlich gepflegten Rasenfläche. Vermutlich eine Silberweide. Zwar kannte ich mich mit Bäumen nicht gut aus, aber ich konnte mir denken, dass es sich bei diesem hier um den Namensgeber des Internats handelte. Zwei Mädchen, die im Schatten der Blätter saßen und ihre Bücher ausgebreitet hatten, blickten auf und begannen zu tuscheln. Sofort machte sich ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen breit und ich setzte meine Sonnenbrille auf.
Ruhig bleiben, Katrina, sagte ich mir. Das ist nur, weil du die Neue bist. Nichts weiter.
Vielleicht fanden sie auch nur Peter peinlich, der sein Aussehen in der Autoscheibe prüfte und zuerst seine Krawatte und anschließend seine Frisur richtete.
»Wollen wir?«, fragte er im Anschluss.
Ja. Ich nickte. Zumindest diesen einen Wunsch hatten wir gemeinsam.
Im Gegensatz zu der hochmodernen Website des Internats machte das Büro der Schulleitung eher einen klassischen Eindruck: schwerer Eichentisch, dunkle Regale, ein Haufen Bücher. Das Einzige, was ganz offensichtlich aus diesem Jahrhundert stammte, war der riesige Computerbildschirm.
»Herzlich willkommen«, begrüßte uns eine elegant gekleidete Frau mit kurzen rostroten Haaren. Sie trug einen grauen Blazer, glänzende Stiefel und einen feinen braunen Ledergürtel. Beim Anblick der goldenen Schnalle, die aussah wie ein Olivenkopfgebiss, fiel mir das Atmen schwerer. Genau so einen Gürtel hatte Mom oft getragen, wenn sie mich zu einer meiner Springprüfungen begleitet hatte. In meinem Hals begann es zu brennen.
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich.
»Ich bin Ines Lorenzen, die Direktorin.« Die Frau lächelte warm. »Und du musst Katrina von Lindenberg sein.«
»Katrina Carter«, korrigierte ich ganz automatisch und schüttelte ihr die Hand.
Peter setzte sein professionelles Anwaltslächeln auf. »Carter war der Name ihrer Mutter. Linda Carter. Katrina heißt jedoch von Lindenberg. So wie ich.«
Das stimmte leider. Zum Zeitpunkt meiner Geburt hatten meine Eltern noch geplant zu heiraten. Deshalb hatte ich Peters Namen erhalten. Aber damit würde ich mich niemals identifizieren können. Ich war eine Carter und das würde auch für immer so bleiben.
Zum Glück verzichtete die Direktorin darauf, weiter nachzufragen. Stattdessen zwinkerte sie mir zu. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr rechter Arm von einer Schlinge getragen wurde, die sie unter ihrem Blazer versteckte.
»Ich habe mir das Schlüsselbein gebrochen«, erklärte sie, als sie meinen Blick bemerkte. »Reiten ist und bleibt der schönste Sport der Welt … aber auch ein gefährlicher.« Die Direktorin tippte sich gegen den Arm. »Das war allerdings mein Fehler, nicht der des Pferdes. Ich habe die Distanz zwischen zwei Hindernissen falsch eingeschätzt und dachte, das würde noch passen. Das war leichtsinnig von mir. Aber aus Fehlern lernt man ja bekanntlich.«
Neben mir versteifte sich Peter spürbar. Oh nein! Ich warf ihm über die Schulter einen scharfen Blick zu. Das Letzte, was ich jetzt hören wollte, war seine Meinung zum Thema leichtsinniges Verhalten in Verbindung mit Pferden. Ich hatte seinen Appell so häufig über mich ergehen lassen müssen, dass ich ihn auswendig kannte. Und obwohl er mich nur ansah, wusste ich, dass er sofort an meinen eigenen Unfall dachte. Die Worte standen ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Du hättest tot sein können, Katrina. Verstehst du das denn nicht?
Die Direktorin räusperte sich. »Wir freuen uns sehr, dass du dich für Silver Willow entschieden hast. Dies ist zwar eine internationale Schule, aber jemanden mit amerikanischen Wurzeln haben wir hier auch nicht so häufig. Du kommst aus Berlin, oder?«
»Nein, aus Ocala. Das liegt in Florida.«
Die Direktorin musterte mich aufmerksam. Peter wollte etwas einwenden, doch sie hob die Hand und sagte nur: »Dort muss es sehr schön sein.«
Oh ja, und wie. Ocala war die Heimat so vieler Spitzenpferde und Rennbahnlegenden. Mom und ich hatten auf einer Ranch gelebt, auf der sie als Trainerin gearbeitet hatte. Wir hatten unser eigenes Haus auf dem Gelände gehabt und sogar einen kleinen Stalltrakt nur für uns. Jeden Morgen vor der Schule war ich noch an den Paddocks vorbeigelaufen und hatte unsere Pferde begrüßt.
»Normalerweise finden bei uns vor den Sommerferien Einführungstage für neue Schüler statt.« Die Schulleiterin lächelte mich an. »Aber da du ja später einsteigst, müssen wir das etwas unkonventioneller handhaben.«
Wirklich nett ausgedrückt für: Da du zu dieser Zeit noch in Therapie warst und leider nicht herkommen konntest.
Ich nickte und sie zog einen Stapel Papiere hervor, den ich für meine Anmeldeunterlagen hielt.
»Mir ist aufgefallen, dass hier noch gar kein Sportschwerpunkt angegeben ist. Hast du dich schon entschieden?«
Allerdings.
»Nein, noch nicht«, log ich. Tatsächlich war mir längst klar, dass ich der Fußballmannschaft beitreten wollte. Aber davon brauchte Peter nichts wissen. Wie ich ihn kannte, würde er sich dann bloß einmischen, weil ich auch genauso gut wieder reiten konnte. Und außerdem gab es da ja noch die ach so tolle Schachgruppe. »Ich schaue mir einfach alles einmal an.«
»Gute Idee«, erklärte Frau Lorenzen. »Wir haben eine wirklich große Auswahl. Du kannst Bogenschießen oder Tanzen lernen, wenn du möchtest. Unsere Rudermannschaft ist auch sehr erfolgreich. Und der wichtigste Schwerpunkt ist natürlich das Reiten. Ich selbst leite diese Sparte. Wenn ich deinen Vater richtig verstanden habe, bist du früher M-Springen geritten und warst hoch platziert. Unsere Springmannschaft könnte noch Verstärkung gebrauchen.«
»Katrina ist eine exzellente Reiterin«, mischte Peter sich ein und strahlte mich an, als wäre ich gerade eben erst mit einer goldenen Schleife aus dem Parcours gekommen.
»Ja, aber ich reite nicht mehr.«
Ich hatte ganz leise gesprochen, doch Frau Lorenzen signalisierte mir, dass sie es gehört hatte.
»Und trotzdem bist du hier. Wenn man Pferde einmal geliebt hat, kann man sich ihrem Zauber nie wieder entziehen. Ist es nicht so?«
Ich zuckte mit den Schultern, um nicht antworten zu müssen, und zum Glück klopfte es genau in diesem Moment an der Tür.
»Ja?«, fragte die Direktorin und keine Sekunde später schob ein Junge seinen Kopf durch den Türspalt. Sie lächelte. »Ah, Henry, da bist du ja, wie schön. Komm ruhig rein.«
Ich musterte den Typen. Groß, sportlich, mit dunklen, leicht zerzausten Haaren. Eigentlich ganz attraktiv … wenn man einmal von seinem Shirt absah. War das etwa das Schullogo, das da auf der einen Seite seiner Brust prangte?
»Katrina, das ist Henry McKenzie, dein Pate«, sagte Frau Lorenzen da. »Er ist zwei Jahrgänge über dir und hat früher in England gelebt. Ihr werdet euch sicherlich prima verstehen.«
Ich hob die Augenbrauen. Das letzte Mal hatte ich einen Paten gehabt, als ich auf die Highschool gekommen war. Molly war auch zwei Jahrgänge über mir gewesen und unfassbar talentiert darin, coole Flechtfrisuren zu machen. Wenn ich an unsere gemeinsamen Pausen auf dem Schulhof dachte, vermisste ich sie sofort. Ich sah zurück zu Henry, der mir nur kurz zunickte und dann mit begeistertem Lächeln Peters Hand ergriff.
»Sie müssen Peter von Lindenberg sein, oder?«, fragte er in lupenreinem Deutsch, vollkommen ohne jede Spur eines Akzents. »Ich habe Ihren Artikel in der letzten Ausgabe der Wirtschaftswoche gelesen. Und ich finde es wirklich großartig, dass Sie sich für Amnesty engagieren, und das nicht nur mit Ihrem Geld, sondern auch persönlich.« Henry lächelte. »In den letzten Sommerferien habe ich ein Praktikum dort gemacht.«
O Gott. Der Typ sah meinen Vater an wie ein Hund, der ein Kunststück aufgeführt hatte und nun Lob erwartete. Klar, Peter war Geschäftsführer einer renommierten Wirtschaftskanzlei, aber musste er ihn wirklich so anhimmeln? Schließlich konnte man sich denken, dass Peter nur Geld an Amnesty International spendete, damit er einen Karmaausgleich hatte. Auf der einen Seite beriet er Wirtschaftsunternehmen, wie sie ihre dreckig erwirtschafteten Milliardengewinne am Fiskus vorbeischleusten, und auf der anderen Seite überwies er regelmäßig großzügige Summen an diverse Wohltätigkeitsorganisationen. Menschenrechte waren ihm halt wichtig, behauptete er, wenn man ihn danach fragte.
Jetzt nickte er und lächelte warm. Nichts mochte er lieber, als erkannt zu werden. Noch dazu von jungen Menschen, die sich seiner Meinung nach ja viel zu wenig mit den wichtigen Themen des Lebens befassten.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, um Henry dann genauer zu mustern. »Sie haben also ein Praktikum bei AI gemacht? Hier in Deutschland?«
Henry schüttelte den Kopf. »In London. Ein Großteil meiner Familie wohnt noch dort.«
»Oh, London! Katrina wollte schon immer mal dorthin. Stimmt doch, oder?« Peter strich mir über den Kopf. Jetzt ging er eindeutig zu weit. Ich war ja kein Pudel!
»War das nicht die Londoner Amnesty-Gruppe mit diesem Skandal um veruntreute Gelder?«, fragte ich scheinheilig. »Peter hatte dafür großes Verständnis, das ist eigentlich genau sein Metier.«
Peters Lächeln verschwand und mir wurde schlagartig klar, dass ich gerade zu weit gegangen war. Auch Henry sah irritiert aus.
»Ich …« Verdammt, warum hatte ich nicht eine Sekunde länger nachgedacht? »… meine ja nur, dass … ach egal.«
»Henry, willst du Katrina nicht schon einmal den Campus zeigen?«, rettete mich Frau Lorenzen aus der unangenehmen Situation. »Wir erledigen dann hier den Papierkram und kommen nach.«
»Das wäre toll«, sagte ich, dankbar, dass sie mir eine Möglichkeit bot, aus der Nummer wieder herauszukommen. »Ich kann es kaum erwarten, alles zu sehen.«
»Henry.« Kaum waren wir draußen auf dem Gang, blieb ich vor ihm stehen und sprach seinen Namen so langsam aus, als hätte ich einen seltsamen Geschmack auf der Zunge. »War das nicht irgend so ein Tyrannenkönig, der reihenweise seine Frauen umgebracht hat?«
Mister Schullogo legte bloß den Kopf schief. »Und Katrina? Hieß so nicht der Wirbelsturm, der 2005 New Orleans verwüstet hat?«
Was? Ich musste so entgeistert aussehen, dass es Henry zum Schmunzeln brachte. Dann sagte er: »Henry der Achte lebte im späten Mittelalter und hat nur zwei seiner sechs Frauen hinrichten lassen, nämlich Anne Boleyn und Catherine Howard.«
Ah ja. Er trug also nicht nur das Silver-Willow-Emblem auf dem Shirt, er war tatsächlich ein Oberstreber.
»Ist das deine Art, Mädchen zu beeindrucken? Mit Geschichtswissen?«
Seine Augen funkelten belustigt, während er sich in Bewegung setzte und den Flur entlanglief. »Nein, da kenne ich effektivere Methoden.«
Effektivere Methoden, soso. Ich wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte. Aber da redete Henry bereits weiter.
»Das Internat wurde 1892 gegründet. Einer der Gründer ist ein direkter Vorfahre von Frau Lorenzen. Sein Name war Johann von Henndorf.« Es sprudelten immer mehr Informationen aus Henry heraus und bereits nach wenigen Minuten fragte ich mich, ob das hier eine Museumsführung werden sollte. Doch schließlich beendete er seine Rede und blieb im Foyer stehen. »Die Details unserer Schulgeschichte kannst du später in dem Korridor vor der Bibliothek nachlesen.«
Da konnte ich mich wohl gerade noch beherrschen.
Henry grinste, als hätte er meine Gedanken gelesen, und öffnete mir die Tür.
Wir gingen nach draußen und er zeigte mir die Mensa, die einzelnen Unterrichtsgebäude und die Aula, einen frei stehenden Bau mit seitlicher Verglasung.
»Die Schule legt sehr viel Wert auf Tradition und kulturelle Weiterbildung«, sagte er und hielt vor der Fensterscheibe an, damit ich einen Blick hineinwerfen konnte. Der Raum war riesig mit einer Bühne und sogar einer Empore, auf der allerhand Scheinwerfer und technische Geräte standen. »Mehrmals im Jahr veranstalten wir Theateraufführungen, Tanzveranstaltungen und … auch Partys. In ein paar Wochen steigt zum Beispiel die jährliche Halloweenparty. Darauf freuen sich alle immer total, besonders Emily. Du wirst sie nachher auch noch kennenlernen.«
Emily, wer war denn jetzt schon wieder Emily? Vielleicht seine Freundin? Ich überlegte kurz, ob ich nachhaken sollte, entschied mich dann aber anders. Nach der stundenlangen Autofahrt mit Peter war ich müde und durchgeschwitzt. Umso schneller wir zu dem Teil der Führung kamen, an dem er mir mein Zimmer zeigte und sich verabschiedete, desto besser. Außerdem war ich nicht scharf darauf, Einzelheiten seiner Lovestory zu erfahren.
»Aber wir sind auch sportlich echt gut aufgestellt.« Henry lief weiter und ich folgte ihm über einen gepflasterten Weg zur Sporthalle und den angrenzenden Plätzen. Zwar hatte ich mir den Campus schon auf Google Maps angesehen, aber ich staunte nicht schlecht, wie weitläufig das Gelände war. Über riesige Grasflächen führten gepflegte Wege, die die verstreut liegenden Gebäude miteinander verbanden.
Henry zeigte mir die Tennisplätze, das Trainingsgelände des Leichtathletikteams und die Bogenschießanlage.
»Die Schule veranstaltet mehrfach im Jahr Wettkämpfe, zum Beispiel das Pfingstturnier oder die Rudermeisterschaften. Wusstest du, dass Silver Willow eine Reihe berühmter Absolventen vorweisen kann?«
Jetzt klang er so stolz, als hätte er selbst deren Ausbildung übernommen. Ich nickte bloß, sagte aber nichts, weil meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas anderem angezogen wurde. Wir näherten uns einem Fußballfeld, auf dem einige Jungs Torschüsse übten. Ohne auf Henry zu warten, lief ich näher heran und beobachtete sie. Der Torwart war wirklich gut und hielt fast jeden Ball, selbst die schwierigen. Nur einer streifte ihm über die Fingerspitzen, ehe er mit voller Wucht im Netz landete.
»Seht ihr, Jungs, so macht man das!«, rief der Schütze, ein blonder Junge mit frechem Grinsen, und riss triumphierend einen Arm nach oben. Als er Henry und mich entdeckte, kam er zu uns herübergejoggt.
»Hey, Alter, hast du diesen WM-würdigen Schuss gesehen? Beim nächsten Spiel ziehen wir die Gegner aber so richtig ab!« Er hielt seine flache Hand hoch und nahm sie erst wieder herunter, als Henry sie abklatschte. Dann sah er mich an und sein Grinsen wurde noch breiter.
»Ist das die Neue, Mann? Die ist eindeutig zu hübsch für dich.« Bevor Henry auf den Spruch reagieren konnte, streckte der Junge mir die Hand entgegen. »Hi, ich bin Daniel Hansen. Steht auch auf dem Trikot.« Er drehte sich um, damit ich den Schriftzug auf seinem Shirt lesen konnte. »Merk dir meinen Namen, ich werde nämlich der beste Mittelfeldspieler des Universums.« Mit blitzenden Augen fügte er hinzu: »Und der Bestaussehendste bin ich schon. Aber das ist dir bestimmt längst aufgefallen.«
Ich konnte es nicht verhindern. Zum ersten Mal an diesem Tag musste ich grinsen.
»Und du bist?«, wollte er wissen.
»Katrina Carter … aus Florida.«
Okay, seine Vorstellung war deutlich cooler gewesen. Aber auf die Schnelle war mir nichts Besseres eingefallen.
»Freut mich sehr, Katrina Carter aus Florida.« Daniel zwinkerte mir zu. »So, ich muss jetzt wieder zurück. Sonst haben die anderen Pfeifen kein Vorbild, an dem sie sich orientieren können.« Er lachte und klopfte Henry zum Abschied auf die Schulter. »Wir sehen uns nachher. Und nicht vergessen, morgen halb fünf Training!«
Henry nickte und als Daniel wieder zu den anderen lief, warf er einen Blick auf die Uhr. »Wir sollten zurückgehen, wir sind schon ziemlich lange unterwegs.«
Ich protestierte nicht. Je eher wir die Tour beendeten, desto früher konnte ich mir mein Zimmer ansehen und mich mit allem vertraut machen. Zum Glück hatte ich bei der Anmeldung in dem Feld für weitere Anmerkungen angegeben, dass ich ein Einzelzimmer haben wollte. Das bedeutete, dass ich gleich einfach mal kurz allein sein, mich ausstrecken und die Augen schließen konnte.
Doch dazu kam es nicht. Denn gerade als Henry und ich den riesigen Baum im Innenhof hinter uns gelassen hatten, schwang die schwere Doppeltür des Haupthauses auf und Peter und Frau Lorenzen traten in die Sonne.
Peter lächelte. »Ihr kommt gerade rechtzeitig zurück. Frau Lorenzen und ich haben alles besprochen und es wird Zeit für die große Überraschung, Katrina.«