Читать книгу Dancing with Raven. Unser wildes Herz - Jana Hoch - Страница 12
Kapitel 6
ОглавлениеVielleicht war es so etwas wie eine Eingebung, eine winzig kleine Idee. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich es versuchen wollte. Wenn ich mit meinem Gefühl nicht richtiglag, konnte ich mich ja immer noch zurückziehen, auf Henry warten und ihm dabei zusehen, wie er die nächsten Stunden damit verbrachte, Diamond nachzujagen. Aber jetzt … war ich einfach zu neugierig.
Im Augenwinkel merkte ich zwar, dass Emily mich beobachtete, aber ich blendete sie aus, so gut es ging.
Genau wie bei Henry musterte der Palomino mich. Seine Augen blitzten, als wollte er sagen: Versuch es doch, du hast keine Chance.
Ja, ganz richtig. Wenn ich es darauf anlegte, ihn einzufangen, würde er vor mir weglaufen. Doch das hatte ich nicht vor. Stattdessen ging ich nur so weit an ihn heran, bis er den Kopf nicht mehr zum Fressen absenkte und ich seine volle Aufmerksamkeit hatte. Genau in der Sekunde, in der er das Gewicht zurückverlagerte und sich bereit machte davonzugaloppieren, lief ich rückwärts. Anstatt nach hinten auszuweichen, machte Diamond einen Satz auf mich zu und blieb dann verwundert stehen. Er beobachtete mich und gerade, als er erneut fressen wollte, schnalzte ich, damit er mich weiter ansah. Überrascht schoss sein Kopf nach oben, er stampfte auf. Beim nächsten Versuch klatschte ich in die Hände. Der Palomino legte die Ohren an, doch nur ganz kurz. Dann zuckten sie wieder nach vorne.
Wenn du mit einem Pferd kommunizieren möchtest, sorge zuerst dafür, dass du seine ungeteilte Aufmerksamkeit hast, hörte ich Moms Stimme in meinem Inneren.
Wie soll ich das tun?, fragte mein kindliches Ich und ich musste unweigerlich lächeln, weil ich noch genau wusste, was sie damals geantwortet hatte.
Stelle dem Pferd eine Aufgabe, die so leicht ist, dass es sie auf jeden Fall lösen kann. In einem Round Pen zum Beispiel kannst du ihm mit häufigen Handwechseln sagen, in welche Richtung es laufen soll und es so dazu bringen, auf deine Körpersprache zu achten. Auf einer freien Wiese …
»… kannst du dafür sorgen, dass es immer ein Ohr in deine Richtung gedreht hält oder dich ansieht«, flüsterte ich in die Stille.
Du lenkst den Fokus auf dich, hatte Mom gesagt. Immer wieder.
Und das tat ich. Noch zweimal hielt ich Diamond vom Grasen ab und folgte ihm, wenn er vor mir weglief. Trotz der Entfernung ließ ich ihn nicht aus den Augen und wenn er ein Ohr von mir abwandte, pfiff ich leise, damit er wieder aufpasste, was ich tat. Reagierte er nicht gleich, ging ich näher an ihn heran und wiederholte es. Irgendwann hob er nicht nur den Kopf, sondern machte seinerseits ein paar Schritte auf mich zu, kaute und leckte sich über die Lippen. Gut so. Von Mom wusste ich, dass das ein positives Zeichen war. Es signalisierte mir, dass er sich entspannte und vielleicht bereit war, mit mir zusammenzuarbeiten. Testweise setzte ich meine Füße nach hinten und wollte am liebsten vor Freude lachen, als der Palomino mir folgte. Ich schnalzte und beschleunigte das Tempo. Doch das war zu viel. Sofort schüttelte Diamond den Kopf und reagierte, indem er einen gewaltigen Sprung in meine Richtung machte. Whoa! Ich nahm die Arme nach oben und reckte das Kinn, um ihm zu zeigen, dass er mir nicht zu nahe kommen sollte. Als er es ignorierte, klatschte ich in die Hände. Diamond wich zurück und stieg auf die Hinterbeine.
Alles ist gut, hätte Mom jetzt ganz sicher gesagt und mich dabei beruhigend angelächelt. Du hast deine Frage mit viel Energie gestellt und er hat mit viel Energie geantwortet. Aber er ist zurückgegangen und das ist das, was du wolltest. Richtig?
Richtig. Ich nickte, obwohl Mom es gar nicht sehen konnte. Obwohl sie es nie wieder sehen würde. Aber irgendetwas sagte mir, dass sie gerade bei mir war.
Kurz nahm ich mir Zeit, Diamond zu spüren. Ich las seine Körpersprache, hörte tief in mich hinein und vertraute auf das, was meine Intuition mir sagte. Diamond war übermütig, verspielt und auch etwas respektlos. Aber er war nicht bösartig oder wütend. Ich konnte es noch einmal versuchen.
»Also gut«, sagte ich zu ihm und setzte mich wieder in Bewegung, rückwärts an einem der Hindernisse vorbei. Diamond spitzte die Ohren und erst dachte ich, er würde stehen bleiben. Doch dann trabte er mir nach und dieses Mal wurde er auch langsamer, als ich meine Arme hob. Im Schritt folgte er mir über den Rasen und immer, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich seine Aufmerksamkeit verlor, lief ich schneller. Dann schüttelte Diamond den Kopf, dass ihm die Mähne nur so um den Hals peitschte, und kam mit funkelnden Augen vor mir zum Stehen. Ab und an musste ich ihn daran erinnern, nicht zu nah zu kommen, und manchmal bremste er auch gar nicht und stürmte einfach an mir vorbei. Doch zu meinem Erstaunen musste ich nur in die entgegengesetzte Richtung rennen, damit er wieder zurückkam, pfeilschnell und vor Vergnügen buckelnd. Erst nach einigen Minuten wurde unser Spiel ruhiger. Ich hatte immer noch nicht das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, und wusste, dass vermutlich ein Windhauch genügte, um mir seine Aufmerksamkeit zu entziehen. Aber Diamond folgte mir. Und als ich ihn schließlich einlud, an meine Seite zu kommen, zögerte er nicht. Mit den Nüstern an meiner Hand liefen wir nebeneinander von der Wiese. Gras wechselte zu Pflastersteinen und Diamonds Hufe klapperten auf dem Boden. Mein Herz schlug schneller.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Emily an den Zäunen der Offenställe vorbeischlich, die sich neben dem Trailplatz befanden. Einer der Paddocks war leer. Emily huschte zum Tor, öffnete es und gab mir ein Handzeichen. Ich verstand sofort, war aber nicht sicher, ob der Plan funktionierte. Dennoch steuerte ich darauf zu. Diamond machte keine Anstalten, mir von der Seite zu weichen. Doch einen Katzensprung vom Paddock entfernt, verharrte er plötzlich. Ich hielt die Luft an. Komm schon, murmelte ich in Gedanken und lief weiter. Nichts. Er rührte sich nicht. Verdammt. Was sollte ich jetzt tun? Wenn ich ihn zu lange überlegen ließ, würde er umdrehen und weglaufen. Das spürte ich genau. Aber wie konnte man ihn …
Einem inneren Impuls folgend, schnalzte ich und rannte einfach los, durch das offene Tor hindurch und quer über den Auslauf. Zwei Sekunden geschah nichts. Dann hörte ich Diamond heranschießen. Gleich darauf donnerten seine Hufe neben mir über den Sand. Er umkreiste mich und kam schließlich zum Stehen. Als ich ihn mit meiner Körpersprache daran erinnerte, in seinem Bereich zu bleiben, stieg er auf die Hinterbeine. Aber es war keine Aggressivität, die da aus ihm sprach, sondern reiner Übermut.
Es war verrückt. Aber ich musste plötzlich lachen. Vielleicht, weil sich eine Anspannung von mir löste, die ich zuvor gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Vielleicht, weil Diamonds Energie auf mich abfärbte. Oder aber, weil ich mich für einen Augenblick wieder wie das Mädchen fühlte, das ich einmal gewesen war.
Mit einer Schulterdrehung lud ich Diamond ein, zu mir zu kommen, und hielt ihm die Hand entgegen, eine stille Frage, ob ich ihn berühren durfte. Er drückte seine Nüstern dagegen, also streichelte ich mit den Fingerspitzen über seinen Hals und er erlaubte es, dass ich ein paar seiner wilden Strähnen entwirrte. So standen wir da, bis es Diamond zu langweilig wurde, er mit dem Huf aufstampfte und in mein Shirt zwickte.
»Hey!«, rief ich und schickte ihn aus meinem Bereich heraus. Diamond drehte auf der Hinterhand und trabte davon.
Erst jetzt fiel mir auf, dass Emily immer noch am Zaun stand und mich beobachtete. Rasch kletterte ich durch die Holzlatten und stellte mich neben sie. Für eine Sekunde kreuzten sich unsere Blicke und ich erwartete schon einen Kommentar, doch sie sagte nichts. Also schwiegen wir und sahen zu, wie Diamond sich im Sand wälzte, aufstand und sich schüttelte.
Einige Minuten vergingen, bis Emily deutlich ein- und wieder ausatmete. »Das war … ziemlich beeindruckend«, sagte sie leise, ohne mich anzusehen. »Wir arbeiten mit den Schulpferden auch manchmal frei, so ist das nicht. Henry kann sogar ohne Trense durch einen ganzen Parcours springen. Sinclair ist immer voll bei ihm und würde einfach alles für ihn tun. Aber Diamond … ich weiß nicht, er ist anders.«
Ich wandte ihr den Blick zu und Emily wich mir aus und sah stattdessen auf ihre Reitstiefel. Kurz schwiegen wir, dann angelte sie nach ihrem Zopf, zog ihn sich über die Schulter und drehte die Spitzen ein.
»Ich … wollte … mich übrigens noch bei dir entschuldigen, weil ich so blöd zu dir war«, presste sie hervor. »So bin ich eigentlich gar nicht und ich hatte mich auch wirklich darauf gefreut, wieder eine Mitbewohnerin zu bekommen.«
Man musste mir meine Überraschung ansehen. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber garantiert nicht damit.
»Es ist nur … Henry ist mein bester Freund und ich war so wütend, dass ausgerechnet Sinclair verkauft worden ist. Aber im Grunde kannst du nichts dafür und Ma auch nicht. Das war eine Entscheidung des Stiftungsrats und dagegen kann man halt nichts machen. Außerdem hat Henry mir erzählt, dass du gar nicht mehr reitest.« Sie sah hoch. »Warum eigentlich? Dein Dad hat meiner Ma gegenüber behauptet, dass du ziemlich erfolgreich in der Klasse M gesprungen bist.«
»Pete«, korrigierte ich automatisch.
»Okay.« Emily wirkte überrascht. »Pete. Aber er ist doch dein Vater, oder?«
Ich verzog das Gesicht. »Sagen wir mal, er war maßgeblich an meiner Erzeugung beteiligt. Mehr nicht.«
Sie blinzelte, aber ich tat, als würde es mir nicht auffallen und ging auch nicht weiter aufs Springreiten ein.
»Hattest du vor Sinclair denn auch schon ein eigenes Pferd?«
Sofort spürte ich ein Stechen im Bauch. Emily wollte nur freundlich sein und mich etwas kennenlernen. Aber über Daisy wollte ich auch mit ihr nicht sprechen. Genauso wenig über Mom, unsere anderen Pferde und die Ranch, auf der ich aufgewachsen war. Also nickte ich nur, wandte mich von ihr ab und stützte die Arme auf den Zaun.
Insgesamt hatten Mom und ich fünf Pferde gehabt. Amberly, unsere alte Pintostute, hatte mich begleitet, seit ich denken konnte, mir das Reiten beigebracht und mich sicher durch meine ersten Turnierprüfungen getragen. Als sie eines Tages auf der Wiese eingeschlafen war, hatte Mom Terrence gekauft – das komplette Gegenteil von gutmütig und kindersicher. Der schwarze Wallach hatte mich gelehrt, was es bedeutete, sattelfest zu sein. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch bildlich vor mir sehen, wie ich mich wieder und wieder vom Boden aufgerappelt hatte und ihm hinterhergestiefelt war. Bereits nach kurzer Zeit hatte ich aufgehört, meine blauen Flecken zu zählen. Aber aufgeben kam nicht infrage und so hatten wir später ebenfalls ein paar Schleifen sammeln können.
Big Jack, den riesigen Clydesdalewallach, hatte Mom vor dem Schlachter gerettet. Aufgrund seines undankbaren Körperbaus galt er als unreitbar, aber Mom hatte ihm mit viel Geduld und gezielten Übungen zu mehr Körperbewusstsein verholfen und seine Muskulatur so weit aufgebaut, dass er im Sommer mit viel Begeisterung in der Lage gewesen war, eine Kutsche zu ziehen.
Mustang, Moms Wildpferd, hatten wir aus einer Auffangstation in Nevada geholt. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem wir ihn ausgesucht hatten. Als wir uns die unzähligen Pferde in den Corrals angesehen hatten, war mein Blick direkt auf einen wunderschönen gescheckten Hengst gefallen und ich hatte Mom bekniet, ihn auszuwählen. Stattdessen hatte sie sich für einen zerbissenen, klapprigen Roan mit kantigem Gesicht und struppiger Mähne entschieden. Nie zuvor hatte ich ein hässlicheres Pferd gesehen!
»Aber der Schecke sieht viel schöner aus«, hatte ich gesagt und bockig meine Arme verschränkt. Mom hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt. »Und genau deshalb werden wir ihn nicht mitnehmen. Er wird auf jeden Fall ein Zuhause finden. Der da …«, sie meinte den hässlichen Stichelhaarigen, »… hat schlechtere Karten.«
Mein zehnjähriges Ich hatte eine Weile gebraucht, um Moms Handlung und ihre Bedeutung zu verstehen. In der Zwischenzeit hatte ich das Pferd bloß »Mustang« gerufen, um meiner Abneigung für ihn Ausdruck zu verleihen. Und irgendwie war der Name geblieben, selbst als ich ihn immer mehr als Freund betrachtete. Mustang war das beste Pferd, das meine Mutter je gehabt hatte, und es war mir stets so vorgekommen, als könne er ihre Gedanken lesen. Er vertraute ihr blind und sie durfte sogar ohne Sattel und Trense auf ihm reiten. Einmal hatte ich das Gleiche mit Terrence versucht und anfangs hatte ich mich großartig gefühlt. Aber dann hatte er plötzlich nicht mehr angehalten und mir war nichts anderes übrig geblieben, als mich auf seinem Rücken festzuklammern, bis er von allein langsamer wurde. Bei dem Gedanken an Terrence und unsere gemeinsame Zeit wurde mein Herz gleich wieder schwerer. Wie alle unsere Pferde wohnte er nun bei meiner Tante Helen in Georgia. Alle? Nein. Alle außer Daisy. Peter hatte mir nie verraten, wohin er sie gegeben hatte, egal wie sehr ich geweint, wie laut ich geschrien oder wie sehr ich rebelliert hatte. Es ist besser so, behauptete er immer. Damit ich mich erst einmal auf mich konzentrieren und mein Leben wieder in den Griff bekommen konnte. Aber was wusste er schon? Mein Leben war ein einziger Albtraum, seit Mom gestorben und ich in das Flugzeug nach Deutschland gestiegen war.
Tränen stiegen in meinen Augen auf und ich biss mir auf die Unterlippe. Ich würde nicht aufhören, um Daisy zu kämpfen! Ja, ich hatte einen Fehler gemacht, aber ich hatte alles getan, um es wiedergutzumachen. Jetzt würde ich noch die »Probezeit« auf Silver Willow bestehen. Und dann war Peter am Zug!
Steine knirschten hinter uns auf dem Boden und ich drehte mich um.
Henry kam zurück, zusammen mit Frau Lorenzen, Jonas und Aylin. Jonas hielt einen Futtereimer in der Hand, Aylin trug mehrere Longen über dem Arm. Alle vier blieben wie angewurzelt stehen, als sie Diamond auf dem Paddock erblickten. Frau Lorenzen löste sich als Erstes aus der Gruppe und kam zu uns.
»Na, wie es scheint, werden wir hier gar nicht mehr gebraucht«, sagte sie und lächelte uns zu. »Wie habt ihr ihn denn eingefangen?«
Emily grinste. »Du wirst es kaum glauben, Ma. Das war total irre! Katrina hat …« Sie brach ab und suchte nach den richtigen Worten. Als sie keine fand, stieß sie mich an. »Ja, wie hast du das eigentlich gemacht?«
»Ich …« Mir wurde bewusst, dass mich nun alle ansahen und die Hitze stieg mir in den Kopf. Henry zog ungläubig die Augenbrauen nach oben und Aylin flüsterte Jonas etwas ins Ohr. Bloß Frau Lorenzen sah mich ruhig und abwartend an. Ich wischte mit den Handflächen über meine Jeans und trat einen Schritt zurück. »Er ist mir einfach nachgelaufen«, sagte ich dann schnell. »Keine Ahnung, warum. Muss wohl Zufall gewesen sein.«