Читать книгу Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - Страница 4

1.

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Auf der Uferpromenade spielte ein Leierkastenmann La Paloma. Die Sonne schien, man würde später einmal sagen können, dies sei ein schöner Tag gewesen. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen in der offenen Kajütentür und pfiff gedankenverloren die Melodie mit. Auf dem Schild am Kopf der Seebrücke zeigte eine überdimensionale Uhr an, dass die nächste große Hafenrundfahrt um 16 Uhr stattfinden sollte. Was davor stattfinden würde, stand nicht auf dem Schild.

Meine Mutter hatte einmal gesagt, sie wolle anonym bestattet werden. Das war einige Jahre her, sie hatte mich angerufen und unvermittelt verkündet, falls sie in absehbarer Zeit sterben sollte, wünsche sie eine anonyme Bestattung. Ich wusste nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Ich fragte sie, ob sie krank sei, aber zu ihrem Leidwesen erfreute sie sich bester Gesundheit. Grundsätzlich hätte ich dagegen nichts einzuwenden gehabt. Eine anonyme Beisetzung wäre günstiger gewesen, aber Falk hatte mir das ausgeredet. Die Seebestattung war seine Idee gewesen. Während ich nicht in der Lage war beziehungsweise es ablehnte, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, hatte er Informationsbroschüren herangetragen, aus denen er mir vorlas, um sein Anliegen mit Begriffen wie ressourcenschonend, preiswerter Verbrennungssarg und keine Liegegebühren zu untermauern.

Die Bestatterin lehnte rauchend am Brückengeländer und sah auf ihr Handy. Falk turnte über die mit einem dunkelgrünen Algenteppich bedeckten Steine am Ufer, um eine Möwe zu fotografieren, die im flachen Wasser unter dem Anleger auf eine tote Scholle einhackte. Der brackige Gestank des Hafenwassers vermischte sich mit dem Geruch von Bratfisch und frisch gebrühtem Kaffee, der von der Uferpromenade herüberwehte, auf der unbekümmerte Urlauber unter blendend weißen Sonnenschirmen vor Eisbechern, Marzipantorte und Draußennurkännchenkaffee an Bistrotischen saßen, die die Sonne reflektierten. Ein Containerschiff schob ein paar Wellen das Ufer hinauf. Die Möwe schreckte hoch und zog meckernd in Richtung See, dicht über Falk hinweg, der fluchend aufsprang, strauchelte und die Kamera am ausgestreckten Arm balancierte.

Bringt Glück, rief die Bestatterin lachend und eilte zu Falk, um ihm ein Taschentuch zu reichen und seine Kamera zu halten, während er sich den Möwendreck aus den Haaren wischte. Ich lief ein paar Schritte von der Seebrücke hinunter und die Promenade hinauf und studierte die Piktogramme auf einem orangefarbenen Kasten, der seiner Aufschrift nach Hundekotentsorgungsbeutel enthielt.

1. Ziehen Sie den Entsorgungsbeutel wie einen Handschuh über.

2. Ergreifen Sie das Exkrement.

3. Verknoten Sie den Beutel und entsorgen ihn im nächsten städtischen Abfallbehälter.

Ich ließ meinen Blick über den Touristenzug schweifen, der sich an den mit Windjacken und Fischerhemden behängten Drehständern vor den Boutiquen vorbei in Richtung Strand schob. Ich war nicht einmal sicher, ob ich ihn erkennen würde.

Als der Leierkastenmann So ein Tag, so wunderschön wie heute anstimmte, rollte die Bestatterin entschuldigend die Augen. Ich sah am Maritim Hotel hinauf, fing an, die Stockwerke zu zählen, kam irgendwo bei zwanzig von unten durcheinander und gab es auf.

Ich hatte mir den Tod immer als Möglichkeit vorgestellt. Eine Möglichkeit, die sich jedes Mal unwillkürlich aufdrängte, sobald ich auf einem hohen Gebäude oder einer Brücke stand. Ich hatte nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich hatte oft daran gedacht, aber so, wie man eben an etwas denkt, das möglich ist. Genauso wie ich auch, wenn ich im Museum allein vor einem wertvollen Kunstwerk stand, unwillkürlich daran denken musste, dass ich jetzt gerade die Möglichkeit hatte, dieses Kunstwerk zu zerstören, und niemand schnell genug zur Stelle wäre, um mich daran zu hindern. Saß ich als einziger Fahrgast im Bus oder in einem Taxi, dann fiel mir grundsätzlich ein, dass es möglich war, dass der Fahrer mich in eine verlassene Gegend fahren und ermorden würde. Ich hatte keine Angst, ich stellte mir diese Dinge nur vor, wie man sich eben Dinge vorstellt, die theoretisch passieren konnten.

Die Bestatterin sah nervös auf ihr Handy.

Wir könnten dann so langsam, sagte sie zögernd. Falk nickte.

Ich schüttelte den Kopf. Wir warten noch auf jemanden.

Ich sah die Promenade auf und ab und versuchte, zwischen all den Köpfen ein Gesicht ausfindig zu machen, von dem ich nicht wusste, wie es inzwischen aussah. Ein Gesicht, das ich aus dem Internet und aus Zeitungen kannte und von einer einzigen, kurzen Begegnung vor dreizehn Jahren.

Als Kind hatte ich angenommen, mein Vater sei entweder tot oder in Amerika oder beides. Amerika war das Weiteste, das ich mir vorstellen konnte. Außer tot. Tot war, dachte ich, noch weiter weg als Amerika. Bevor ich eine Vorstellung davon hatte, was der Tod bedeutete, hatte ich die Idee, dass man einfach immer älter wurde und immer größer, bis man, wenn man schließlich sehr, sehr alt war, ungefähr tausend Jahre alt, so groß war, dass man zu Fuß das Meer durchqueren konnte. Eines Tages würde ein tausendjähriger Vater aus Amerika vorbeispaziert kommen, dachte ich, mit ozeannassen Füßen, und dann konnte meine Mutter mal sehen. Im Grunde war mein Vater so etwas wie der Weihnachtsmann oder Gott, eben einer dieser Männer, von denen niemand, zumindest niemand Ernstzunehmendes, mit Sicherheit sagen konnte, ob es sie nun eigentlich gab oder nicht. Im Laufe der Zeit begann ich mich jedoch zu fragen, wo all die sehr, sehr alten Menschen abgeblieben waren, und ich verbannte die Idee von den tausendjährigen Riesen in die dunkle Abstellkammer meines Kopfes, in der schon der Irrglaube, dass Inseln schwimmen, dass Fischstäbchen die Spazierstöcke der Haifische sind und dass der uralte Billeteur des Schauspielhauses wirklich meine Nase gestohlen hatte, hausten und mit dem Weihnachtsmann, dem Nikolaus, dem Osterhasen und der Zahnfee eine WG der in schamhafter Erkenntnis verworfenen Theorien bildeten.

Etwa zur gleichen Zeit sah ich im Fernsehen eine Sendung für Kinder, in der das Leben eines berühmten Mannes nacherzählt wurde. Die Geschichte schloss mit den Worten: Und dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Dieser Satz verfolgte mich für geraume Zeit. Plötzlich wurde mir klar, was es hieß zu sterben: Das Herz hörte zu schlagen auf, und dann war man tot. Es klang banal und wie etwas, das jedem Menschen jederzeit zustoßen konnte. Fortan presste ich, wenn ich auf dem Schoß meiner Mutter saß, ein Ohr an ihre Brust und ängstigte mich, wenn ich nichts hören konnte, weil der Busen im Weg war. Mutter fand das sehr komisch. Sie machte sich einen Spaß daraus, die Augen zu schließen und sich tot zu stellen, bis ich sie zwickte und bettelte, sie möge damit aufhören.

Später hatte der Tod mich immer wieder auf die eine oder andere Weise gestreift, ohne mehr zu hinterlassen, als ein kurzes schales Gefühl. Ich war in Städten aufgewachsen, wo das Leben gefährlich war. Ich hatte gesehen, wie jemand aus dem Fenster im zehnten Stock eines Hochhauses sprang, das auf meinem Schulweg lag, und einige Jahre später den mit einem weißen Laken abgedeckten Körper eines Selbstmörders, der sich in München, wo wir für ein paar Spielzeiten lebten, vor die U-Bahn geworfen hatte. Nur die Füße schauten heraus, die in hell- und dunkelbraunkarierten Pantoffeln steckten, die gleichen Pantoffeln, wie Falk sie heute trug. Am meisten wunderte ich mich darüber, dass man von einer U-Bahn überfahren werden konnte, ohne seine Pantoffeln zu verlieren.

In der Oberstufe, auf einer Fahrt an die Costa Brava, hatte ich einen leblosen Körper im Wasser treiben sehen, war hingeschwommen und hatte eine Weile das zitternde, blau angelaufene Gesicht eines Mannes ratlos in meinen Händen gehalten. Dann kamen ein paar andere Männer und trugen ihn davon, und ich sah vom Wasser aus zu, wie sie erfolglos versuchten, ihn wiederzubeleben. Ich wusste nichts über diesen Mann, der damals etwa so alt gewesen sein musste, wie ich es jetzt war.

Vor wenigen Jahren hatte ich mir die Hinrichtung Saddam Husseins auf YouTube angesehen und dabei gedacht, dass mich von allen meinen Toten dieser am meisten betraf, weil ich mich dazu entschieden hatte, mir das anzusehen, und das etwas war, das ich nicht würde rückgängig machen können. Ich war eine, die sich freiwillig jemandes Hinrichtung im Internet ansah.

Als das Schiff ablegte, sah ich ihn. Jedenfalls glaubte ich für einen kurzen Moment, ihn zu erkennen. Er saß auf einer Bank am Ufer. Mitten in dem Gewirr auf der Promenade, zwischen Ständen mit Bernstein und Modeschmuck, saß ein schwarz gekleideter Mann mit dunkler Sonnenbrille und grauem Bart und sah dem Schiff hinterher. Ich spürte ein anschwellendes Brennen unter der Kopfhaut, vergleichbar mit dem Gefühl, das einen überfällt, wenn man da hingreift, wo man sein Portemonnaie zu wissen glaubt, und feststellt, dass es sich dort nicht befindet. Die Schiffsschraube wühlte braunes Wasser auf, das bis an die Reling spritzte. Der Mann auf der Bank am Ufer sah in meine Richtung und bewegte sich nicht. Ich unterdrückte den Impuls, ihm zuzuwinken, und konzentrierte mich auf einen Kaugummi, der an der Reling klebte, eine akkurate Reihe milchzahnkleiner Abdrücke darin. Als ich wieder aufsah, war der Mann verschwunden.

Falk hatte die Idee gehabt, im Hamburger Abendblatt eine Traueranzeige zu schalten, und so hatte die Nachricht vom Tod der Schauspielerin Margarethe Mayer es doch noch in die Zeitung geschafft. Beisetzung im engsten Familienkreis. Ich hatte nicht gewusst, wen ich hätte anrufen sollen. Falk hatte Datum und Uhrzeit der Abfahrt des Schiffes sowie unsere Adresse angegeben. Ich hatte zuerst protestiert, dann überwog die Neugier. Ich stellte mir vor, dass irgendjemand auftauchen und irgendeine Information mitbringen würde, etwas, das ich bisher übersehen hatte. Es meldete sich niemand. Ich hatte die Anzeige ausgeschnitten und ohne Absender zu Händen Herrn Wolf Eschenbach an ein Theater in Zürich geschickt. Vielleicht hatte sie ihn dort nicht mehr erreicht. Die Spielzeit war vor ein paar Wochen zu Ende gegangen, die Mitarbeiter waren bereits in die Sommerpause entlassen. Bis auf ihn, der in der nächsten Spielzeit dort nicht mehr inszenieren würde. Er würde in der nächsten Spielzeit in Hamburg den Sommernachtstraum inszenieren, wie ich dem Internet entnommen hatte. Seitdem hatte ich einen Plan, von dem ich noch nicht wusste, wie ich ihn umsetzen würde, und dieser Plan verfolgte mich seit Wochen. Er war nicht sehr ausgereift, aber der Rest würde schon von selbst kommen. Die Premiere war im Dezember; rechnete man mit einer Probenzeit von sechs bis acht Wochen, würde er also spätestens im Oktober nach Hamburg kommen. Die entscheidende Frage war, ob Mutter davon gewusst hatte.

Unter Deck starrte ich eine Weile die Urne an, ein geschmackloses Gefäß mit Goldrand, das von Blumen umkränzt auf einem Tisch stand, über dem eine Tafel mit verblichener Coca-Cola-Werbung Matjes mit Hausfrauensoße anbot. Zu denken, dass sich in diesem Gefäß etwas befand, was neulich noch der Körper meiner Mutter gewesen war und jetzt in einen Topf passte, zumindest teilweise. Ich hatte einmal irgendwo gelesen, dass nicht die ganze Asche in die Urne gefüllt wurde, sondern lediglich ein symbolischer Teil. Was mit dem Rest geschah, war unklar. Die Bestatterin hatte uns einen Prospekt vorgelegt, im dem die Urnen durchnummeriert waren wie die Hamburger U-Bahn-Linien: U1, U2, U3, U4. Es gab sogenannte Künstler-Urnen, die besonders scheußlich aussahen, und Öko-Urnen aus Pappmaché, für die Falk sich begeistern konnte. Ich hatte mich für die günstigste entschieden. Ich sah keinen Sinn darin, Geld auszugeben für etwas, das auf dem Meeresboden versenkt werden sollte.

Das Schiff bewegte sich gemächlich aus der Lübecker Bucht und durch die Dreimeilenzone, die wir erst hinter uns lassen mussten, wie die Bestatterin erklärte, und die eigentlich eine Zwölfmeilenzone war, aber Dreimeilenzone hieß, weil drei Meilen ursprünglich die etwaige Reichweite eines Kanonenschusses symbolisierte und jeder Küstenstaat sein Hoheitsgebiet bis zu dem Punkt ausdehnen durfte, den er theoretisch gerade noch in der Lage war, vom Land aus zu verteidigen; eine Information die mich mehr amüsierte, als Falk mir zugestand, wie ich an seinem verwundeten Blick ablas. Wie absurd es war, hier so beieinanderzusitzen, dachte ich. Und wie Falk sofort reinpasste, sich fügte, in all das. Durch das Bullauge sah ich die Besatzung eines vorbeifahrenden Segelbootes mit dem Namen no risk, no fun arglos winken. Ich winkte zurück und kam mir albern dabei vor. Warum überkam einen auf Schiffen der Impuls, fremden Menschen zu winken?

Die plötzliche Stille, als der Motor ausging und das Schiff anhielt, war so groß und so unheimlich, dass mir erst in diesem Moment auffiel, wie laut es vorher gewesen war. Erst jetzt hörte ich die Musik, die aus schwachen Computerlautsprechern kam, die links und rechts von der Urne standen. My heart will go on, Hans Albers oder die Nationalhymne, alles wäre möglich gewesen. Über tausend Titel, hatte die Bestatterin gesagt, mit dem bescheidenen Stolz der technisch Versierten einer Generation, für die das noch nicht selbstverständlich war, ihre Lesebrille gezückt und sich gemeinsam mit Falk über ihren iPod gebeugt. Ich konnte nicht einmal sagen, welche Musik Mutter gefallen hätte, und es war nur eine Sache mehr, die ich nicht entscheiden wollte. Was interessierte es die Toten, welche Musik auf ihrer Beerdigung lief. Mir war es völlig gleich, welche Musik auf meiner Beerdigung laufen würde, das konnte wer auch immer dann entscheiden. Die Kinder, die ich nicht haben würde. Falk, möglicherweise. Falls es in absehbarer Zeit dazu kam.

Während der Beisetzung war es Falk, der in Tränen ausbrach, so heftig, dass die Bestatterin irritiert innehielt und ihn eine Weile ratlos ansah, bevor sie mit einem Blick, der teilnahmsvoll zwischen uns hin und her pendelte und etwas zu verstehen glaubte, das nicht zu verstehen war, weiter von schweren Zeiten und von Trost sprach. Nicht von Gott. Sie hatte sich vorher erkundigt, ob wir einen Pastor dabeihaben wollten, was ich dankend abgelehnt hatte.

Warum weinte Falk und ich nicht? Seine Eltern lebten noch, sie wohnten im Schwarzwald und waren seit vierzig Jahren verheiratet, miteinander sogar, schickten ihm Pullover und Socken zum Geburtstag und Herrenschokolade, die er nicht mochte, die ich dann aufaß. Ich hatte Falk bereits das eine oder andere Mal weinen sehen, aber nie auf diese Art, und ich wusste nicht, wofür ich mich mehr schämte: seine Reaktion oder meine. Ich kannte sein stummes, vorwurfsvolles Weinen, das immer einen Zweck verfolgte; er weinte, um etwas auszulösen in mir, er begriff nicht, dass er damit gewöhnlich das Gegenteil erreichte.

Das Schiff zog Kreise um die Stelle, an der die Urne verschwunden war. Sie würde auf den Grund sinken und sich dort langsam auflösen. Ich hatte mich vor der Möglichkeit gefürchtet, dass die Asche verstreut werden würde, davor, das sehen und riechen zu müssen und womöglich Gegenwind, man kannte das aus Filmen; aber die Bestatterin hatte erklärt, dass das in Deutschland nicht erlaubt sei.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was Mutter sich vorgestellt hatte, ob es das hier war: Falk, der Rotz und Wasser heulte, und ich daneben, mit einem fremden, tauben Gefühl. Meine Mutter hatte das Unglück immer geliebt. Das Unglück an sich, nicht irgendein spezielles. Als ich noch sehr klein war, zu klein eigentlich, hatte sie mir zum Einschlafen immer wieder dieses Lied vorgesungen, das mir für alle Zeiten im Gedächtnis geblieben war: das Lied vom kleinen Matrosen, der die Welt umsegelte und ein armes Mädchen liebte, und dieses Mädchen musste sterben, und der Matrose war daran schuld. Ich hatte nie verstanden und verstand eigentlich noch heute nicht, warum das Mädchen hatte sterben müssen, aber ich ahnte, dass etwas Ungeheuerliches vorgefallen sein musste und dass den Matrosen eine schreckliche Schuld traf. Ich hatte Falk später einmal davon erzählt, und seine Theorie war, dass das Mädchen eine Hafenhure gewesen sei und sich vom Matrosen die Syphilis geholt habe, aber diese Interpretation gefiel mir nicht.

Als Kind hatte ich, trotz aller Vorzeichen, eine Art Ewigkeit an Mutter vermutet, und später, genau genommen noch bis vor wenigen Wochen, hatte ich geglaubt, sie hätte sich eingerichtet in ihrem gemäßigten Unglück. In der letzten Zeit – den letzten Jahren, eigentlich – war sie immer häufiger bereits tagsüber betrunken. Wenn sie mich anrief, einmal in der Woche, meistens am Freitagabend, sagte ich, ich sei gerade beschäftigt, auch wenn dies nicht der Fall war. Sie fragte nie nach, sondern sprach einfach weiter. Erzählte von Situationen, an die ich mich nicht erinnern konnte oder die ich anders in Erinnerung hatte, und irgendetwas hielt mich davon ab, das dann zu sagen. Sie redete, und ich lief durch die Wohnung, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und beschäftigte mich mit anderen Dingen, machte dabei ab und an ein Geräusch der Zustimmung oder Verwunderung, ich hatte das perfektioniert. Sie sprach unaufhörlich, als hätte sie Angst, ich könne verschwinden, sollte sie einmal eine Pause entstehen lassen. Ich hatte aufgehört, beleidigt zu sein, Dinge zu sagen wie: Mir geht es übrigens auch gut. Ich wusste nicht, wann es angefangen hatte, dass ich dieses Unbehagen spürte, sobald ich ihre Stimme hörte. Diesen Widerstand, der, wenn auch nicht ausschließlich, mit ihrer Art zu sprechen zusammenhing, der Notwendigkeit, bis in die letzte Reihe gehört zu werden. Ihre Stimme war alles, was ihr geblieben war, nachdem, wie sie selbst zu sagen pflegte, ihr Körper sie verlassen hatte; und ich war nicht sicher, ob es an meiner Wahrnehmung lag oder ob in dieser Aussage tatsächlich ein Vorwurf mitschwang. Ein unbegründeter, wie ich fand, denn sie hatte nach meiner Geburt noch zehn Jahre lang einigermaßen großartig ausgesehen.

Ich konnte mich nicht an unser letztes Gespräch erinnern. Ich erinnerte mich an unser letztes Treffen: Sie hatte einen Arzttermin in Hamburg, das war etwas länger her als ein Jahr. Wir trafen uns in der Innenstadt, tranken einen Kaffee im Hanseviertel, ich gab vor, nicht viel Zeit zu haben. Sie war unkonzentriert, flirtete mit den Bankern am Nebentisch, die ihre Mittagspause hier verbrachten, fragte: Und wie geht es Frank? Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Auf dem Weg zum Bahnhof kamen wir am Schauspielhaus vorbei, und sie fing an, auf den derzeitigen Intendanten zu schimpfen, mit dem sie nicht wieder zusammenarbeiten wolle. Sie hatte seit zehn Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden, aber wenn sie von ihrer Zeit am Theater sprach, dann wie von etwas, das eigentlich nicht vorbei war. Sie arbeitete in den letzten Jahren von zu Hause aus, Telefonmarketing, wie sie sagte, sie sprach nicht gern davon. Ich hatte mir lange vorgestellt, dass sie gelangweilte Hausfrauen anrief und ihnen Zeitschriftenabonnements oder Topfsets aufschwatzte. Womit sie ihr Geld wirklich verdiente, hatte ich zufällig herausgefunden, als ich einmal zu Besuch war und am späten Abend an die Tür ihres Arbeitszimmers klopfte, die nur angelehnt war. Als ich eintrat, hörte ich Mutter ins Telefon stöhnen. Nicht laut oder übertrieben schauspielerisch, sondern gleichmäßig und konzentriert, sie tat nichts anderes dabei, saß aufrecht am Schreibtisch und hielt nicht einmal inne, als sie mich bemerkte. Sie machte einfach weiter und sah mich dabei an, mit einem Blick, den ich sehr gern vergessen würde. Ich stand eine Weile im Türrahmen, dann zog ich die Tür hinter mir zu, ging langsam die Treppe hinunter und legte mich auf das Sofa. Am Morgen fuhr sie mich zum Bahnhof und stieg nicht mit aus. Falk hatte ich nichts davon erzählt. Ich hatte sie nie wieder nach Geld gefragt.

Ich rannte durch den Innenraum des Schiffes, riss die Tür mit der Aufschrift WC auf und übergab mich in ein nach synthetischer Zitrone riechendes Klo. Die Maschinen dröhnten, das Schiff hatte wieder volle Fahrt aufgenommen. Der Noppenboden vibrierte beruhigend unter meinen Knien. Die Bestatterin musterte mich mit mäßig besorgtem Blick, half mir auf, legte eine Hand auf meine Schulter und ließ sie dort liegen. Ihre Bluse spannte über der Brust und gab ein winziges ellipsenförmiges Stück Haut frei. Eine Weile standen wir sehr nah beieinander im Türrahmen, ich konnte ihr Deodorant und ihren Raucheratem riechen. Dann schob sie mich in Richtung Bar, an der Falk stand und mit apathischem Blick einen Turm aus Würfelzucker baute.

Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?

Einen Schnaps, bitte, sagte ich matt und legte mein Gesicht auf dem Tresen ab. Falks Zuckerturm kippte um, und einen Moment sah er aus, als würde er darüber in Tränen ausbrechen. Die Bestatterin trat hinter die Bar, füllte ein Glas mit Wasser und stellte es vor mir ab. Auf dem blaugestreiften Papiertischläufer standen die Wörter Hawaii, Rio und Ahoi. Ich nahm das Glas und ging zurück hinaus aufs Deck, wo sich in der Ferne zu meiner Erleichterung bereits die Küste näherte, der Priwall, die Passat und auf der anderen Seite das Maritim Hotel in seiner ganzen Scheußlichkeit, das einen langen Schatten auf den Strand warf.

Die Überflüssigkeit der Dinge

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