Читать книгу Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - Страница 7
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ОглавлениеAm Abend in der Küche zerrieb Falk Pfefferkörner zwischen den Fingern, zerdrückte Knoblauchzehen mit dem Handballen auf dem Rand der Spüle, schüttelte mit beiden Händen energisch eine gusseiserne Bratpfanne über dem Herd; die Selbstverständlichkeit, mit der er sich in der fremden Küche zurechtfand, irritierte mich. Durch das Haus zog der seltsam lebendige Geruch von Gebratenem, und ein warmes rötliches Licht blitzte durch die Tannen im Garten, ein vermutlich atemberaubender Sonnenuntergang, den man von hier aus nicht sehen konnte. Falk war autoritär am Herd, er ließ keine Hilfe zu, nicht einmal Zwiebeln durfte ich schneiden und war dankbar dafür, legte mein Gesicht, das sich heiß und schwer anfühlte, auf die kühle Tischplatte und sah ihm zu. Wenn man Falk kochen sah, konnte man auf den Gedanken kommen, dass er gut im Bett sei. Die Präzision, mit der er vorging, die Aufmerksamkeit, die er jeder Zutat widmete. Andererseits gehörte Falk zu den Menschen, die ich mir nicht beim Sex vorstellen konnte, was an seinem Beruf lag, seinem Verhältnis zu Körpern. Er selbst hatte keinen Körper, jedenfalls keinen, der sich durch irgendetwas in den Vordergrund drängte. Alles an ihm war zu groß und zu dünn. Fraglich, ob er überhaupt Sex hatte. Seit ich vor drei Jahren bei ihm eingezogen war, war er nur wenige Male nachts nicht nach Hause gekommen, und ich hatte nicht gefragt. Wir vermieden es, von solchen Dingen zu sprechen.
Falk schaufelte Bratkartoffeln auf große Teller mit verblichenem Zwiebelmuster, wir aßen schweigend. Als er fertig war, legte er das Besteck auf den Tellerrand, lehnte sich zurück, seufzte, schob die Handflächen unter die Achseln, ich kannte diese Gesten auswendig. Er stand auf, räumte die Teller ab, kochte Tee, weil er keinen Kaffee im Haus gefunden hatte, wie er mir erklärte, beinahe entschuldigend, als sei dies sein Haus und ich sein Gast, und ich blieb sitzen, sah in den dunkler werdenden Garten, das rote Licht verschwand langsam hinter den Tannen. Ich sah Falk zu, der zwei Blättchen übereinanderlegte, Tabak darauf breitete, Gras auf den Tabak bröselte, langsam am Klebstreifen leckte, das Papier sorgfältig glatt strich, die Filterseite auf den Tisch klopfte, ich kannte auch diese Bewegungen auswendig. Wir reichten uns den Joint hin und her, Falk berührte meine Hand dabei jedes Mal einen Moment länger als nötig, ich inhalierte tief und musste husten. Der Tee war schwarz und ein wenig zu stark, Falk mochte ihn so; ich hielt die Tasse in beiden Händen und blies kleine Ringe in die Oberfläche. Falk klemmte den Joint in den Mundwinkel, sagte bleib so, stand auf und holte seine Kamera.
Falk, sagte ich. Warum fotografierst du mich andauernd?
Weil du so schön bist, sagte Falk und blies den Rauch in meine Richtung, das möchtest du doch hören. Er hielt die Kamera im Arm wie ein Kind, eine schöne alte Spiegelreflex, Liebhaberstück. Er hatte an der Hochschule für bildende Künste Fotografie studiert, und womöglich hätte er es in der Kunstszene zu etwas bringen können, wäre er nicht vollkommen ambitionslos. Er hatte mir einmal Bilder gezeigt, die er während des Studiums gemacht hatte und von denen er sich später in einer pseudoprofessionellen, unglaubwürdigen Eitelkeit distanzierte: verstörende Schwarzweißfotografien mit prätentiösen Titeln, immer ein wenig düster und unheimlich, Landschaftsaufnahmen, auch Aktbilder, eine Serie schöner, vampirhafter Frauen, über die ich ihn ausfragte, mit einer Neugierde, die er geschmeichelt für Eifersucht hielt und dennoch oder gerade deshalb ungestillt ließ. Kurz nach dem Studium hatte er Geld gebraucht, sich, halb im Scherz noch, auf eine Stellenausschreibung beworben, um der Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt einen Gefallen zu tun; es hatte sich einfach so ergeben, wie er sagte, und nun fotografierte er seit zehn Jahren Leichen in der Rechtsmedizin. Anfangs hatte ich all diese einfallslosen Fragen gestellt, mit angeekelter Faszination, ich wollte es wieder und wieder hören, wie das sei, den ganzen Tag von Tod umgeben zu sein, ob er sich manchmal bei der Arbeit übergeben müsse, ob er nachts von den Toten träume. Ob er überhaupt Sex haben, auf die Toilette gehen, seinen eigenen nackten Körper im Spiegel betrachten könne, ohne daran zu denken, wie er von innen aussähe. Falk antwortete freundlich, geduldig und nüchtern, wie es seine Art war, mit Sätzen, die er sich irgendwann einmal für diese wiederkehrende Situation zurechtgelegt hatte: dass er sich daran gewöhnt habe, dass er versuche, nur immer den Ausschnitt zu sehen, nicht den ganzen Körper, dass er nicht darüber nachdenke. Seine Ambitionslosigkeit hatte etwas Beruhigendes, und irgendwie passte sie auch zu ihm. Etwas an ihm war dunkel. Ich kann mir nicht helfen, aber lebensbejahend sieht anders aus, sagte meine Mutter. Sagte ausgerechnet meine Mutter, nachdem sie uns das erste und letzte Mal besucht hatte. Seitdem war sie davon überzeugt, dass Falk und ich ein Paar seien, und nichts in der Welt brachte sie davon ab, ich jedenfalls nicht, warum sollte ich auch, es spielte keine Rolle, und schämen tat ich mich seiner nun auch wieder nicht. Falk hatte gekocht, einen Coq au Vin, den er zwei Tage lang mariniert hatte, ich sagte mehrmals, dass dieser Aufwand absolut nicht nötig sei, aber Falk bestand darauf. Mutter sprach noch lange davon. Wir tranken viel, und Mutter war vergnügt, Falk ein souveräner Gastgeber, er gehörte zu den Menschen, die es unbeabsichtigt schafften, dass ich mich in ihrer Gegenwart bescheuert fühlte. Er war höflich und aufmerksam in einer Art und Weise, die mich aggressiv machte. Er fiel niemandem ins Wort, lachte nie zu laut über seine eigenen Witze, zu den flachen Witzen anderer lächelte er nachsichtig. Als ich einmal von der Toilette zurückkam, lag eine bedeutungsvolle Stille im Raum, etwas schien gesagt oder getan worden zu sein, in meiner Abwesenheit. Falk saß am Tisch unter dem Fenster und meine Mutter ihm gegenüber und sah mich versonnen, beinahe glücklich an, als hätte er gerade um meine Hand angehalten oder um ihre. Falk schwang konzentriert die leere Kaffeetasse in der Hand, lächelte in den Satz am Boden, vielleicht über einen anderen, einen gesagten Satz, und mich beschlich das Gefühl, dass sie etwas teilten, von dem ich ausgeschlossen war.
Die Hitze nahm kaum ab in der Nacht, und wir saßen auf der Terrasse des Hauses, das meiner Mutter nicht gehört hatte und somit auch mir jetzt nicht gehörte, eine Tatsache, die mich ungemein erleichterte. Über uns ein Sternenhimmel, wie man ihn in der Stadt nicht zu sehen bekam. Falk lächelte müde, als ich den Großen Wagen bemerkte, das einzige Sternzeichen, das ich benennen konnte, und mein kindlicher Zwang, das auch immer gleich zu tun. Aus der Dunkelheit drang ein gleichmäßiges, unablässiges Zirpen. Wir hatten die Speisekammer ausgeräumt und tranken alles, was wir gefunden hatten, mit pflichtbewusstem Ernst aus: Rotwein und Eierlikör, Aperol und einen Rest Gin, wir reichten uns schweigend die Flaschen hin und her; wenn es nach Falk ginge, würde ohnehin weniger gesprochen auf der Welt. Er strich sich durch das wellige Haar, das begonnen hatte, grau zu werden – seit er mich kannte, wie er manchmal scherzhaft sagte, aber es war möglich, dass er recht hatte –, strich es immer wieder zurück, als müsse er dringend Ordnung schaffen auf seinem Kopf, mit diesen großen, feinen Händen, Pianistenhände, hatte ich einmal zu ihm gesagt, und es hatte ihm gefallen, obwohl er gar nicht Klavier spielen konnte. Falk wirkte jungenhaft und dann wieder alt, alterslos unterm Strich. Ein letzter Kochgeruch von gebratenen Zwiebeln stieg aus seinem Hemd. Mir war schwindelig, ich war endlich betrunken, meine Zunge rau und pelzig vom Wein. Ich sah Falk an und fand ihn auf eine Art schön, seine verschwitzte Frisur, die Lippen rotweinblau. Ich dachte darüber nach, ihn zu küssen, aber ich war sicher, er würde das falsch verstehen. Ich schloss die Augen und hörte den Grillen zu. Eine kleine schwachsinnige Sehnsucht überfiel mich, nach einem neuen, einem ganz anderen Leben. Hier, in diesem Dorf, in einer Straße, die den Namen eines Vogels trug, in einem Haus, das nicht mir, sondern der Bank gehörte. Die Möglichkeit, so zu leben. Hatte ich die Entscheidung getroffen, es nicht zu tun? Alles, was war, hatte sich ergeben, bis jetzt, nicht aus einer inneren Logik, einer Notwendigkeit heraus, sondern vielmehr aus der Abwesenheit jeglicher Notwendigkeiten. Ich konnte mich nicht erinnern, Entscheidungen getroffen zu haben. Die letzten Jahre waren in einer Art Lähmung verstrichen, einer Mischung aus Furcht und Ungeduld, und das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte. Ich musste unwillkürlich laut lachen über diese Gedanken; Falk sah mich an, wie man eine Kranke ansieht, dieses arrogante, nachsichtige Bedauern in seinen Augen. Mich überkam eine plötzliche, unsinnige Wut auf ihn, wie er da saß, sich den Wein in ein bauchiges Glas schenkte und mir einen milde tadelnden Blick zuwarf, wenn ich die Flasche an die Lippen setzte. Auf seine Hilfsbereitschaft und dass er lauter Dinge tat, für die ich hätte dankbar sein müssen. Nicht dass ich es nicht war.
Ich fragte, Falk, möchtest du wissen, was ich gerade gedacht habe, und er sagte, nein, das will ich nicht, das will ich wirklich nicht, ich hatte große Lust, ihn zu verletzen. Eine Mücke verendete im Wachs der Kerze auf dem Tisch vor uns. Ich sagte in die Stille hinein, wenn du dich umbringen wolltest, wie würdest du es machen?
Gift, sagte Falk ernst und ohne zu zögern.
Gift ist ziemlich weiblich, sagte ich, echte Männer erschießen sich.
In Gegenden wie diesen, sagte Falk und nahm mir die Flasche weg, hängt man sich auf dem Dachboden auf.
In Gegenden wie diesen, sagte ich trotzig, setzt man sich ins Auto und fährt gegen den nächstbesten Baum.
Falk hustete und wischte sich den Wein aus den Mundwinkeln.
Deine Theorien, sagte er.
Ich wusste, was das heißen sollte. Falk nahm die Dinge hin. Er glaubte nicht an Selbstmord, er glaubte an Unfälle, er hatte jeden Tag einen auf dem Tisch.
3500 Menschen kommen in Deutschland jedes Jahr durch Autounfälle ums Leben, dozierte Falk mit Nachrichtensprecherstimme. Als sei dadurch irgendetwas bewiesen. Sie hatte obduziert werden müssen. Jemand hatte Dinge angestellt mit dem Körper meiner Mutter, die ich mir nicht vorstellen wollte und über die Falk nicht sprach. Es sei normal, dass obduziert werde, wenn jemand eines unnatürlichen Todes starb. Ich wollte wissen, was sie mit ihr gemacht hatten, obwohl ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte. Ich wollte es von Falk hören, in allen Einzelheiten. Ob es stimmte, was ich einmal gelesen hatte: dass sie das Gehirn am Schluss zusammen mit allen anderen Organen in die Bauchhöhle warfen, den Körper wieder zunähten, und der Kopf blieb leer. Ich wollte Falk quälen und ihn ansehen und manchmal schön finden, mit seinen Pianistenhänden, seinem zu großen, zu dünnen Körper und seiner Bitterkeit, die vielleicht meine Schuld war.
Vergasen vielleicht, sagte ich und dachte an den Kopf meiner Mutter im Ofen.
Vergasen ist so negativ konnotiert, sagte Falk.
Ach so, sagte ich. Und welche Form von Suizid ist bitte positiv konnotiert?
Falk schwenkte das Glas in der Hand, nahm einen tiefen Schluck und sagte mit feierlichem Gesicht: Ins Schwert stürzen, mit dem Herzen voran.
Ich dachte an damals, an meine Mutter in unserer Küche, ich hätte ihn gern gefragt, was das war, dieser Moment, aber wahrscheinlich erinnerte er sich nicht oder hätte vorgegeben, sich nicht zu erinnern, und ich hätte ihm nicht geglaubt.
Irgendwann in der Nacht fing Falk zu weinen an. Er weinte erwachsen, leise und unverzweifelt. Draußen dämmerte es bereits, die Grillen hörten auf, und die Vögel fingen an. Wir lagen nebeneinander auf dem Bett meiner Mutter, Falk hatte nicht angeboten, auf dem Sofa zu schlafen, er hatte sich bis auf die Unterhose ausgezogen und sich neben mich gelegt, eingerollt wie ein Kind. Die Anwesenheit seines Körpers, blass, behaart und so dünn, dass man das Herz schlagen sah, war beruhigend und beunruhigend zugleich. Sein Atem, sein frisch geduschter Männergeruch, dieser unerträglich lebendige Geruch. Sein Weinen, das mir zeigen sollte, dass ich verantwortlich war für das Unglück in seinem Leben. Zu wissen, dass er sich nicht wegdrehte, dass er mir zugewandt lag, eine unbeholfene Hand in meinem Rücken. Es wäre möglich gewesen, mit Falk zu schlafen, hier im Bett meiner toten Mutter, möglich und absurd; nicht dass ich es gewollt hätte, es war nur eine Möglichkeit, und mir war auf eine zerstörerische Weise alles gleichgültig. Falk aber würde nicht mit mir schlafen, Falk hatte Prinzipien, bei ihm musste alles etwas bedeuten, ein Moralapostel vor dem Herrn. Ich starrte auf das Bild über dem Bett. Wie absurd das eigentlich war, dachte ich: zu leben, während andere tot waren. Ich spürte einen Druck in der Brust, ein fremdes, lähmendes Gefühl. Ich stand auf und tastete mich im Dunkeln die Treppe hinunter. Ich konnte nicht in diesem Bett liegen, neben Falk, der da war und schlief, als wäre das nichts. Ich wäre gern auf der Stelle ins Auto gestiegen und zurück nach Hamburg gefahren, ich konnte nicht atmen in diesem Haus.
Durch das Küchenfenster fiel bläuliches Mondlicht und zeichnete die Silhouette des Rahmens auf den Tisch. Ich trank einen Schluck kalten Tee und legte das Gesicht an die Scheibe. Der Garten dahinter hatte aufgehört zu existieren. Man konnte nicht sicher sein, dass nicht am Morgen alles verschwunden war. Das war ja das Sonderbare, dachte ich, dass immer alles am nächsten Tag noch da war, ich konnte nicht aufhören, mich darüber zu wundern.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch aus der Dunkelheit und öffnete die Tür; auf der Terrasse saß eine zerzauste Katze. Auf der Fußmatte hatte sie ein Begrüßungsgeschenk abgelegt, einen frisch erlegten kleinen Vogel.