Читать книгу Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - Страница 9

6.

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Am nächsten Tag kamen die Spediteure, die Falk bestellt hatte; Männer, die genau so aussahen, wie die Männchen auf den Kartons, mit blauen Latzhosen und roten Gesichtern. Sie luden die Möbel in einen Umzugswagen, es war mir unklar, was damit geschehen sollte, Falk hatte es mir vermutlich gesagt, ich hatte es vergessen, es war mir auch gleich. Ich dachte, dass es Mutter gefallen hätte, diese Männer im Haus zu haben, die laut sprachen und scherzten und die Kommode gegen den Türrahmen donnerten. Falk, schon geduscht und wach und konzentriert, bezahlte die Männer in bar und schloss eilig die Tür hinter ihnen. Ich war noch nicht ganz wach; stand auf der Terrasse, mit einer Tasse Tee in der Hand, die Falk dort hineingedrückt haben musste, und sah in den regennassen Garten, atmete den Kuhgeruch der feuchten Felder ein und dachte an die Möglichkeiten, die man hatte oder nicht. Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregenderes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas ganz anderes. Und immer so weiter. Ich fragte mich, was Mutter gewollt hatte, ob sie überhaupt noch irgendetwas gewollt hatte oder ob sie bereits vor langer Zeit damit aufgehört hatte.

Wir saßen uns schweigend am Küchentisch gegenüber, Falk hatte Rühreier mit Tomaten gemacht, ich wusste nicht, wo er die Lebensmittel herhatte, aber mich amüsierte der Gedanke, er könne in der Früh beim Bauern ans Tor geklopft und um ein paar Eier gebeten haben. Ich konnte nichts essen; ich konnte nicht aufhören zu lachen, über uns, hier im Haus meiner toten Mutter, wie ein Paar in Unterwäsche am Frühstückstisch. Wie schnell das ging, dachte ich, erst war alles fremd und seltsam und ein bisschen eklig gewesen, und jetzt aßen wir ihre Lebensmittel und tranken aus ihren Tassen, lagen in ihrer Badewanne, schliefen in ihrem Bett, als sei das immer so, als sei das normal. Als wäre sie nur verreist und hätte uns ihr Haus überlassen, damit wir ihre Blumen gossen und die Katze fütterten.

Wir beeilten uns, fertig zu werden, weil ich so wenig Zeit wie möglich in diesem Haus verbringen wollte. Falk sprach mit dem Vermieter, handelte einen guten Preis aus, für die Renovierungsarbeiten, den ganzen Rest, die wertloseren Möbel. Legte mir Schriftstücke vor, unter die ich meine Unterschrift setzte, zu mehr reichte meine Kraft nicht.

Einmal fuhr Falk eine Ladung aussortierter Kleider irgendwohin, und ich blieb allein im Haus, eine lange Dreiviertelstunde lang, lief durch die Räume, immer noch darauf gefasst, etwas zu finden, mit dem ich nicht gerechnet haben würde. Aber ich fand nichts. Nichts, was deprimierender gewesen wäre als ihre Unterwäsche, ihre leeren Schnapsflaschen und die Visitenkarte einer Psychotherapeutin in Lübeck unter der grünen Unterlage auf ihrem Schreibtisch.

Am frühen Nachmittag fuhren wir in den nächsten Ort, um zu Mittag zu essen. Es erstaunte mich immer wieder aufs Neue, wenn sich aus den Wiesen und Weiden hinter einem Kreisverkehr plötzlich eine Ortschaft schälte, eine dieser kleinen, sinnlos vor sich hin existierenden und doch einwandfrei funktionierenden Parallelwelten mitten in der backsteinernen Trostlosigkeit des norddeutschen Niemandslands, die man normalerweise nur dann passierte, wenn man versehentlich zu früh von der Autobahn abgefahren war. Orte, die man eventuell das eine oder andere Mal hinter dem Zugfenster hatte vorbeirauschen sehen und von denen man nie sicher sein konnte, dass sie wirklich existierten, dass sie tatsächlich aus mehr bestanden als aus der Fassade eines Bahnhofs, eines Getreidesilos und einer Reihe ungünstig an der Bahntrasse gelegener Grundstücke. Und die etwas Rührendes an sich hatten, wenn sie plötzlich vor einem lagen, sich offenbarten in der ganzen selbstverständlichen Wohlgeordnetheit einer Kleinstadt mit kleinen Straßen, kleinen Häusern, Postfiliale und Busbahnhof und der lieblosen Funktionalität ihrer Einkaufszentren, Fast-Food-Restaurants und Multiplex-Kinos. Den Trost, der für mich in der Trostlosigkeit solcher Orte lag, diese eigenartige Mischung aus Ekel und Sehnsucht, den sie in mir auslösten, schien kaum jemand zu begreifen; und vielleicht war das eines der wenigen Dinge, die Mutter und ich immer geteilt hatten: die Freude darüber, irgendwo fremd zu sein, sich aufhalten zu dürfen für kurze Zeit, an irgendeinem beliebigen Ort, den man niemals wiedersehen würde.

Das Restaurant von der Streichholzschachtel, die ich in Mutters Küche gefunden hatte, entpuppte sich als griechische Taverna in einem flachen Neubau mit einem größenwahnsinnigen Parkplatz davor, der geisterhaft leer in der Nachmittagssonne lag. Calimera, sagte ich zum Kellner, der sich, als wir eintraten, in Zeitlupe von einer Bank erhob, gähnend an unseren Tisch schlurfte und wortlos zwei Ouzo vor uns abstellte. Falk öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, als hätte er plötzlich beschlossen, dass es sinnlos war, mich zu korrigieren; vielleicht wusste er auch nicht, was Guten Tag auf Griechisch hieß, oder er fühlte sich angesichts der Indifferenz des wahrscheinlich noch nicht einmal aus Griechenland stammenden Kellners ausnahmsweise einmal nicht verantwortlich.

Der Kellner schlurfte zurück hinter den Tresen und drückte auf der Stereoanlage herum, bis verlässlicherweise leise Sirtaki-Musik ertönte. Ich kippte meinen Ouzo hinunter und griff schnell nach Falks Glas, während er konzentriert die Karte studierte, deren laminierte Seiten sich mit einem klebrigen Schmatzen voneinander lösten. Der Alkohol legte eine Feuerschneise durch meine Speiseröhre. Das Restaurant war riesig, ein langgezogener, leerer Saal, ein kleiner Springbrunnen in der Mitte des Raumes, in dem eine pummelige Putte ein dürftig vor sich hin plätscherndes Rinnsal aus einem Tonkrug in ein muschelförmiges Becken goss. Immerhin schien Mutter einmal hier gewesen zu sein. Aber wann und aus welchem Grund? Hatte sie allein an der Bar gesessen, mit dem Kellner geflirtet? Oder war sie mit jemandem hier, und wenn ja, mit wem? Kam sie vielleicht öfter, kannte man sie hier und fragte sich jetzt, warum sie nicht mehr kam? Ich schwitzte und hatte das Bedürfnis, mich auszuziehen, aber ich hatte nicht genug Sachen an, die ich hätte ausziehen können. Ich bestellte einen Bauernsalat, obwohl ich plötzlich nicht mehr hungrig war; ich spürte einen seltsamen Druck in der Mitte meines Körpers, der mir die Anwesenheit sämtlicher Organe ins Gedächtnis rief, als wäre mit einem Mal nicht mehr genügend Platz in mir, als wäre da etwas, das dort nicht hingehörte. Es fühlte sich etwa so an, wie ich mir das Gefühl vorstellte, schwanger zu sein, obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen konnte. Und wenn es ein Problem gab, das ich nicht hatte. Wir saßen schweigend wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, nicht aus Desinteresse aneinander, sondern weil alles bereits gesagt worden war, nach 30 Ehejahren oder mehr, und sahen aus dem Fenster. Ein schmales Beet mit Stiefmütterchen und Märchenfiguren aus verblichenem Plastik vor einer niedrigen Steinmauer, dahinter der Parkplatz, auf dem einsam Falks Auto stand und noch kleiner aussah, als es war. Das Auto trug Falks Initialen und sein Geburtsdatum als Kennzeichen, Falk war ein einfacher Mensch im Grunde seines komplizierten Herzens.

Ich wollte nicht zurück in das Haus. Ich wollte hier einfach so sitzen, in einem Restaurant, das meine Mutter vielleicht einmal besucht hatte oder oft oder nie, an einem staubigen Platz in der Nachmittagshitze in einem Ort, von dem ich nicht einmal den Namen wusste, weil ich nicht auf die Straße, den Kreisverkehr, das gelbe Schild am Ortseingang gesehen hatte, sondern über die Felder, die sich in einer Weite erstreckten, in der man, wie Mutter zu sagen pflegte, sehen konnte, wer morgen zum Kaffee kommt. Angenommen, es käme jemand. Ich versuchte, mich an irgendetwas zu erinnern, eine Straße, einen Baum, einen Busch, der über den Zaun quoll und Blüten auf den Asphalt warf, deren Namen ich nicht kannte; ich wusste nichts von diesen Dingen, und manchmal bedauerte ich das. Falk hingegen war auf dem Land aufgewachsen und ging für gewöhnlich umher, zeigte auf Bäume und Vögel und sagte Roteiche und Kolkrabe; ich konnte eine Amsel nicht von einer Drossel unterscheiden und eine Buche nicht von einer Birke, dafür hatte ich schon als Kind Menschen sich aus Hochhäusern und vor U-Bahnen stürzten sehen, solche Sachen waren auch etwas wert, eine Kindheit, die einen vorbereitete auf das wahre Leben. Dabei hatte ich mir als Kind immer gewünscht, auf dem Land aufzuwachsen, richtig auf dem Land, nicht in all den kleinen und mittelgroßen Städten, in denen wir gelebt hatten, meine Mutter und ich, den gesichtslosen Orten in Nord-, West- und Süddeutschland, kurzzeitig auch in der Schweiz; in ihren hoffnungsvollen Zeiten wohnten wir mitten in Hamburg, und als ich begann, darüber froh zu sein, zogen wir fort, in immer kleinere Orte, an immer kleinere Bühnen, bis ich endlich alt genug war und allein zurückkehrte. Mutter hingegen hatte sich immer weiter zurückgezogen an die Peripherie des Landes, bis sie schließlich hier verschwunden war.

Der Kellner räumte Falks leeren Souflaki-Teller und die Hälfte meines Salates ab und brachte unaufgefordert zwei weitere Ouzo, die ich, meine Magenschmerzen und Falks Blick ignorierend, beide trank. Ich hätte dem Kellner ein Foto von ihr unter die Nase halten können: Kennen Sie diese Frau, wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen, war sie Stammkundin, hatten Sie ein Verhältnis mit ihr, hat sie zu viel getrunken, warum haben Sie sie dann ins Auto steigen lassen? Ich hatte kein aktuelles Foto von ihr. Ich bedankte mich, zahlte und gab ein sinnlos hohes Trinkgeld.

Rauchen wir einen, sagte ich, als wir auf dem Parkplatz standen und Falk alle Autotüren aufriss, um die angestaute Hitze zu vertreiben. Der Ouzo machte seltsame Geräusche in meinem Verdauungstrakt. Jetzt nicht, sagte Falk. Ich muss noch fahren.

Als wir das zweite Kreuz am Straßenrand passierten, schrie ich, halt an, und Falk hielt an. Ich wusste nicht, wo wir waren, Falk schien es auch nicht genau zu wissen. Eine Landstraße in der norddeutschen Provinz, von Bäumen gesäumt, die nah beieinanderstanden; dahinter zu beiden Seiten Felder. Bauerschaften, Schlafdörfer, in denen Menschen in Backsteinhäusern wohnten, früh morgens mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz in der nächstgrößeren Stadt fuhren und abends wieder zurückkehrten. Am Himmel fraß sich ein breiter Kondensstreifen langsam durch das makellose Blau. Ich schwitzte und fühlte eine Übelkeit in mir aufsteigen. Falk schaltete den Motor aus und ließ die Hände auf dem Steuerrad liegen, als warte er auf weitere Instruktionen. Ich stieg aus, lief ein paar Meter zurück und ging vor den beiden zusammengenagelten Brettern in die Hocke, die am Wegesrand hinter Stofftieren, Grablichtern und Rosen in Plastikfolie, wie man sie an Tankstellen bekam, in der Erde steckten. Kevin stand in Schreibschrift auf dem Querbalken geschrieben, darunter ein knapp drei Monate zurückliegendes Datum. Der Gedanke, dass der Name Kevin auf einem Grab stand, war befremdlich. Jemand, der Kevin hieß, hatte nicht tot zu sein. Er war in den neunziger Jahren geboren, also später als ich. Falk war ebenfalls ausgestiegen und studierte die Karte, über die Kühlerhaube des Autos gebeugt, lief ein paar Schritte am Straßenrand auf und ab, fuhr sich durch die Haare, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. War es hier gewesen, irgendwo ganz in der Nähe, jemand hatte mir das wahrscheinlich gesagt, ich wusste es nicht mehr, alles sah gleich aus in dieser Gegend. Die Alleen ähnelten einander, mit ihren Bäumen, was für welche, Falk wüsste das bestimmt, aber es interessierte mich nicht genug, um ihn danach zu fragen. Manche davon wiesen Abschabungen an der Rinde auf, vom Wild angefressen vielleicht oder dem Metall eines Autos, das sich um den Stamm gewickelt hatte. Ich hatte nicht daran gedacht, ein Kreuz aufzustellen, ich hatte mir den Namen nicht gemerkt, den irgendwer vermutlich genannt hatte, den genauen Standort der Straße, des Baumes, denn ein Baum, das wusste ich immerhin, war es gewesen, kein Brückenpfeiler oder sonst etwas, was an Orten wie diesen eventuell in der Gegend herumstand. Wer war Kevin, wer wäre er geworden? Es quälte mich plötzlich, nichts über ihn zu wissen. Die Vorstellung, wie viele Menschen täglich an dieser Stelle vorbeifuhren und nicht anhielten, das Kreuz aus den Augenwinkeln wahrnahmen, das wahrscheinlich ohnehin den nächsten Winter nicht überstehen würde. Im nächsten Frühjahr wären die Blumen und Kuscheltiere verschwunden, auch die Briefe, die dabei lagen, kariertes Papier in Klarsichthüllen, aus einem Schulheft herausgerissen, die Wörter Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit in unausgereifter Mädchenschreibschrift, eine Schulaufgabe vielleicht, ein vom Klassenlehrer angeregtes Psychobrainstorming, das eine unpassende Scham in mir auslöste.

Mehr Kreuze als Bäume, sagte Falk in die Landschaft hinein, kein Wunder. Warum das kein Wunder war, sagte er nicht, und natürlich war es Unsinn, aber ich wusste, was er mir sagen wollte: dass ich auf dem Holzweg war mit meinem Verdacht, Mutter könne absichtlich gegen einen Baum gefahren sein, sie könne sich vorsätzlich das Leben genommen haben. Eine spontane Entscheidung, eine sogenannte Kurzschlussreaktion. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich gegen einen Baum fuhr, war zugegebenermaßen ungleich höher. Jemand namens Kevin beispielsweise, der spätnachts von einer Party im übernächsten Ort kam, eine dieser Großraumdiscos, für die in schreienden Farben auf an Laternenpfählen und Bushaltestellenhäuschen angebrachten Schildern geworben wurde. Der ein paar Fanta-Korn zu viel gekippt und heimlich Vadderns Auto genommen hatte.

Eine Weile standen wir schweigend und sahen in die Landschaft. Falk rauchte. Windräder standen regungslos auf dem Horizont herum, die schwarzweißen Leitpfosten reflektierten die milder werdende Sonne. Ich lief ein paar Schritte die Straße hinunter und übergab mich in den Graben. Falk holte eine Plastikflasche mit abgestandenem Wasser aus dem Kofferraum und reichte sie mir, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte die Kippe in den Graben. Waldbrandgefahr, dachte ich und ging zurück zum Auto.

Als ich aufwachte, parkte der Wagen vor dem Haus. Falk hatte mich nicht geweckt, er hatte gewartet, bis ich von selbst wach wurde. Er rauchte, die Beine aus der offenen Fahrertür gestreckt, die Kamera im Schoß; er hatte mich beim Schlafen fotografiert, obwohl das verboten war. Er sah mich an und nickte langsam dieses ihm eigene, ironische Na-warte-Lächeln um die zuckenden Mundwinkel. Na, sagte Falk, warf die Kippe in den Schotter, drückte sie mit der Schuhspitze aus, fuhr sich mit der Hand durch das Haar, na, meine Liebe. Falk sagte immer die Wahrheit, um von ihr abzulenken.

Die Überflüssigkeit der Dinge

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