Читать книгу Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - Страница 6
3.
ОглавлениеWas zu tun war: den Telefonanschluss kündigen, Versicherungen und Mitgliedschaften, von denen ich nichts wusste, nichts wissen wollte; Falk regelte und erledigte, öffnete Briefe, telefonierte mit Ämtern, mit dem Notar, der Bank. Das Wort Nachlass schwebte eine Weile mit eigenartigem Klang im Raum, zog Kreise im Erdgeschoss, durch die Diele in die Küche und zurück ins Wohnzimmer, wo Falk auf und ab lief, energisch Kartons faltete, die Handflächen unter die Achseln schob, konzentriert Möbelstücke anstarrte und mir Sätze zurief wie: Das hier könnte was wert sein. Ich wartete darauf, dass sich etwas einstellte, ein Gefühl, das mir in einer Situation wie dieser angemessen erschienen wäre; es stellte sich nichts ein. Ich stand, unfähig, irgendetwas anzufangen, nutz- und ratlos vor Schränken und Regalen herum, mit einem Gefühl von Vergeblichkeit angesichts all der Dinge.
Das Klavier, auf dem ich nicht spielen gelernt hatte, blaue Notenhefte, Schumanns Kinderszenen und Bachs Inventionen, vergilbte Elfenbeintasten, auf denen meine Mutter gespielt hatte, in anderen Wohnungen in anderen Städten, in einem früheren Leben. Falk schrieb mit Filzstift Ina auf einen Karton, auf dem zwei Männchen mit Schiebermützen und Latzhosen abgebildet waren, Die Umzugsprofis, 6 × in Deutschland, riss Seiten aus Frauenzeitschriften und Werbeprospekten, wickelte Geschirr darin ein, weißes Porzellan mit Goldrand und verblichenem Rosenmuster. Hielt Dinge hoch, und ich schüttelte den Kopf oder nickte.
Ich war einige Jahre nicht in diesem Haus gewesen, vielleicht drei oder vier. War ich dann da, war sie ungeduldig, rastlos, tigerte durch die Räume, trug Dinge heran, die sie sich zugelegt hatte, zeigte sie her, brachte sie wieder fort. War oft schon betrunken, wenn ich kam, rauchte zu viel, hörte nicht zu. Wir fuhren mit dem Auto in die Kreisstadt, in das immer gleiche italienische Restaurant, wo man sie kannte, La Grotta: ein schummriger Keller mit klebrigen Plastiktischdecken, Stoffblumengestecken in geschmacklosen Vasen und Eros Ramazzotti aus scheppernden Deckenlautsprechern. Mutter regte sich auf, dass ich Pizza Margherita bestellte, sie selbst aß Salat und Frutti di Mare, schüttete karaffenweise Wein in sich hinein, flirtete mit dem Kellner, einem spindeldürren älteren Herrn namens Toni oder Luigi; dann kam der Koch nach vorn, ein Inder in speckiger Schürze, küsste meiner Mutter die Hand und nannte mich Señorita, es war grotesk, ich weiß nicht, was genau mich daran störte, alles störte mich. Später spazierten wir durch eine trostlose Innenstadt aus flachen Backsteinbauten, tranken Cocktails in leeren Bars, manchmal fing ich Streit an, provozierte sie, bis sie Flecken im Ausschnitt bekam. Zurück fuhr ich das Auto, weil sie betrunken war. Zu Hause trank sie weiter, drehte die Musik auf, bis ich mir ihren Arm über die Schulter hängte, sie die Treppe hoch und ins Schlafzimmer zerrte. Ich schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer oder schlief nicht, lag wach und wartete auf den Morgen, an dem ich, zerstritten oder nicht, abreiste. Sie fuhr mich zum Bahnhof, hielt es nicht aus, immer waren wir viel zu früh dort und sie fort, bevor der Zug kam.
In einer Schale auf dem Küchentisch ein Durcheinander aus Zetteln, ein Plastikchip für Einkaufswagen, Kugelschreiber mit Werbeaufdruck, eine Streichholzschachtel mit der Adresse eines Restaurants. Ich nahm ein Glas aus dem Schrank, ein Senfglas mit verwaschenem Schlumpfmotiv und feinen Spülmaschinenkratzern, das eine vage Erinnerung auslöste, fuhr mit dem Daumen über die raue Oberfläche, trank ein Glas Leitungswasser im Stehen am Fenster und sah in den Garten, in dem nichts mehr wuchs. Auf der Terrasse kämpften zwei Spatzen. Ich versuchte, mir meine Mutter vorzustellen, in diesem Haus, ich konnte sie mir nicht vorstellen, nicht bei den kleinsten, unscheinbarsten Handlungen und Gesten, es gelang mir einfach nicht, mir auszumalen wie sie Geschirr spülte, sich eine Scheibe Brot schmierte; in meiner Vorstellung saß sie, reglos und mit einer Tasse Tee, einer Flasche Likör am Tisch, in der von einer unsichtbaren Uhr zertickten Stille, den Rücken zum Fenster, und wenn wir telefonierten, hallte ihre Stimme, noch immer kräftig und überartikuliert, durch die Leere des Hauses. Ich hatte sie mir immer so vorgestellt, in den letzten Jahren, hier an diesem Küchentisch, ich wusste nicht warum.
Ich öffnete den Kühlschrank. Eine Flasche Weißwein, ranzige Butter, übelriechendes Hackfleisch in rotweißkariertem Metzgerpapier, Medikamente und Batterien. Das Eisfach war vereist, eine Packung Rahmspinat darin eingewachsen, abgelaufen im letzten Jahrtausend. In der Ecke hinter dem Kühlschrank stand ein Plastiknapf mit verschimmeltem Futterrest, als ich mit dem Fuß dagegenstieß, stiegen Fliegen auf. Ich hatte nichts gewusst von einer Katze. In der Speisekammer fand ich eine Palette Katzenfutter, schwankte einen Moment zwischen Huhn und Kalb, entschied mich für Letzteres, leerte eine halbe Dose auf eine Untertasse. Den Napf warf ich mitsamt seinem Inhalt in den Müll.
Ich habe Katzen nie leiden können, ihre arrogante, undankbare Art, ich wollte immer einen Hund haben oder wenigstens ein Meerschweinchen, aber Mutter war dagegen, und schließlich bekam ich Romeo und Julia, zwei Wellensittiche, mit denen es allerdings schon bald ein tragisches Ende nahm; ich hätte ihnen andere Namen geben sollen, hatte Mutter später einmal tatsächlich gesagt. Romeo war gelb, und Julia war blau, und eigentlich waren es zwei Julias, aber das interessierte mich damals noch nicht. Sie wohnten in einem geräumigen Käfig auf der Fensterbank in der Küche, und abends sagte ich ihnen Gute Nacht und hängte ein Tuch über den Käfig. Eines Abends stellte meine Mutter aus unbekannten Gründen – vielleicht hatte sie das Fenster öffnen wollen, um zu lüften oder um einem Liebhaber nachzuwinken – den Käfig auf die Nachtspeicherheizung und ließ ihn dort stehen, und am nächsten Morgen fand ich Romeo und Julia tot im Sand auf dem Käfigboden liegend.
Ich öffnete die Terrassentür. Draußen war es wärmer, als die Kühle im Haus vermuten ließ. Brüchige, moosbefleckte Steinplatten, ein rostiger Metalltisch darauf, ein Klappstuhl, auf dessen Sitzfläche verdunstetes Regenwasser einen Schmutzring hinterlassen hatte. Blaue Glaskugeln auf Holzstangen, die in den Beeten steckten oder dort, wo früher einmal Beete gewesen waren, vom Regen verwaschen, die Farbe abgeplatzt. Eine rostige Schaufel, ein einzelner schmutziger Handschuh, eine Gießkanne aus grünem Plastik. Wo der Garten aufhörte, fingen die Felder an, dazwischen eine Wand aus hohen dunklen Tannen. Ich lief ein paar Schritte durch den Garten. Durch das Fenster sah ich Falk im Wohnzimmer auf und ab gehen, sich an der Hüfte kratzen, durch das Haar streichen. Falk, der alles richtig machte, als hätte er nie etwas anderes getan, als ein Leben in Pappkartons verschwinden zu lassen, wohlüberlegt, ruhig und präzise. Ich setzte mich auf die Stufen, die von der Terrasse herab in den Garten führten, den Rücken zum Fenster. Ich suchte nach einem Bild in meinem Kopf: meine Mutter im Sommer, ihr abendlicher Gang durch den Garten, wie sie stehen bleibt, die Arme verschränkt, den Kopf schräg, ihr abwesender Blick, während hinter den Tannen langsam das Licht aus dem Tag trottet. Wie sie dann prüfend einen Zweig berührt, sich in die Beete bückt, während ich auf der Terrasse stehe, in der geöffneten Tür, ungeduldig, mit gepackten Taschen. Ich war nicht sicher, ob es eine solche Situation gegeben hatte, zu symbolisch erschien es mir, das Bild eines Abschieds, aber das hatte ich damals nicht gedacht, das dachte ich jetzt, und wahrscheinlich stimmte es nicht.
Dass sie imstande gewesen ist, sich mir zu nehmen. Man sagt sich das Leben nehmen, als würde man sich selbst um etwas bringen. Aber was nimmt man sich, wenn man sich das Leben nimmt? Die anderen sind es, denen man etwas nimmt. Die sogenannten Hinterbliebenen. Auch so ein Wort. Ich ging zurück ins Haus und lief unschlüssig durch die Räume. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Einen Abschiedsbrief, mit Bettlaken verhängte Möbel, etwas Eindeutiges. Es war zu ordentlich für jemanden, der nur kurz einkaufen fährt, es war nicht ordentlich genug für jemanden, der vorhatte, nie mehr zurückzukehren.
Im Badezimmer im Obergeschoss starrte ich eine Weile ihre Bürste an, die auf dem Waschbeckenrand lag, mit ein paar restlichen Haaren darin, die langen, kräftigen grauen Haare meiner Mutter. Ihre Badezusätze auf dem Wannenrand, Körperöle und Cremes auf dem Bord über dem Waschbecken. Ich war nicht in der Lage, irgendetwas anzurühren. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und betrachtete die Schimmelflecken an der brüchigen Dichtung des Fensters. Durch das Milchglas waren die schemenhaften Schattierungen der Tannen im Garten zu erkennen.
Ihre Haare in der Bürste. Die Haare einer Lebenden, die morgens aufstand, duschte, sich die Zähne putzte, die Haare kämmte. Die Bürste zwischen Seife und Zahnpastatube liegen ließ. Vielleicht einen Kaffee trank am Küchentisch, die Katze fütterte, das Haus verließ. Ins Auto stieg. Ich drückte den Stöpsel in den Abfluss, ließ kaltes Wasser ins Waschbecken einlaufen und legte mein Gesicht hinein.
Ich habe meine Mutter nicht alt werden sehen. Das heißt, ich muss wohl dabei gewesen sein, aber ich erinnere mich nicht. Ich hatte ein Bild von ihr im Kopf, das dunkle Haar zum Kranz geflochten, eine Seeräuber-Jenny im roten Kleid, ich habe dieses rote Kleid sehr geliebt an ihr. Dann das andere Bild, am Tisch in dieser dunklen Küche, in diesem viel zu großen Haus, ihr graues ernstes Alkoholgesicht. Es gab kein Dazwischen in meiner Erinnerung, meine Mutter ist für mich nur immer sehr jung und dann, plötzlich und vor der Zeit, alt gewesen. Ich wusste nicht, was zuerst da gewesen war, der Alkohol oder der Stillstand; die Resignation oder das Ausbleiben der Rollenangebote oder beides zugleich. In meinem Kopf waren diese zwei Bilder, die zwei Zeiten meiner Mutter, die ich nicht zusammenbekam, und nur eine vage Vorstellung von den fernen Jahren dazwischen. Hatte es einen Moment der Entscheidung gegeben? War sie eines Morgens aufgestanden und hatte sich gesagt, heute, heute werde ich mir das Leben nehmen, aber vorher gehe ich noch ein halbes Pfund Gehacktes kaufen und räume die Spülmaschine aus? Hatte sie, im Bewusstsein, dass dieser ihr letzter Tag sei, einen letzten Kaffee am Küchentisch getrunken und war dann mit einem feierlichen Gefühl ins Auto gestiegen? Für sie, die sie in den letzten Jahren gewesen ist – wenngleich ich nicht sicher war, dass ich das so sagen konnte, denn schließlich war ich in den letzten Jahren kaum noch dabei gewesen –, hatte ich nur dieses eine Bild von ihr am Küchentisch, ihr gerader, verspannter Rücken, das Ticken der Uhr und das leise Gurgeln des Kühlschranks in der Stille des Hauses. Alles verschwamm in meinem Kopf wie beim Betrachten alter Fotos, wenn man nicht weiß, ob man sich tatsächlich an die Situation auf dem Bild erinnert oder ob man nur die Fotografie so häufig angesehen hat, dass man glaubt, sich zu erinnern, an die Orte und Zeiten, die Wohnungen und Häuser, in denen wir gelebt hatten, meist für kurze Zeit, ein, zwei Jahre, bevor es ein Engagement in einer anderen Stadt oder wieder jemanden zu vergessen gab. Ich verwechselte Menschen und Hotelzimmer auf Gastspielreisen, die Erinnerungen überlagerten sich und wuchsen in meinem Kopf zu einem großen, undeutlichen Bild zusammen; ein langer, dunkler Flur, eine kleine Küche, eine große Küche mit rundem Tisch, die Macken im dunklen Holz, in das ein Pfeifenraucher sein Messer gebohrt hatte; dunkle Dielen oder heller Teppich, die grauen, warmen Körper der Nachtspeicherheizungen, ein Durchgangszimmer mit Flügeltür; in der nächsten Wohnung Zentralheizung, ein Balkon, eine Untermieterin, eine Katze oder doch keine Katze.
Über die Wand des Schlafzimmers zogen sich feine Risse durch den Putz. Die Vorhänge waren zugezogen, das Bett ordentlich gemacht, nicht in Eile verlassen, eine Packung Schlaftabletten und eine Flasche Wasser auf dem Nachttisch. Über dem Bett hing ein überlebensgroßes Plakat, auf dem meine Mutter einen Dolch in der Hand hielt. In ihren hoffnungsvollsten Zeiten hing dieses Bild, in der Dunkelheit beleuchtet, an der Fassade des Hamburger Schauspielhauses. Manchmal blieben Passanten davor stehen und lasen den Namen des Stückes, groß, obendrüber, und den Namen meiner Mutter, klein, untendrunter. Öffnungszeiten und Telefonnummer des Kartenvorverkaufs.
In meiner ältesten Erinnerung an das Theater stehe ich in der Gasse neben dem Inspizientenpult und sehe meiner Mutter beim Sterben zu. Ein Anblick, an den ich mich gewöhnen sollte, aber zu diesem Zeitpunkt ist er noch neu, und ich bin vier Jahre alt, ein ernstes, blasses, pummeliges Mädchen, ich höre die Erwachsenen reden, ungewöhnlich ist das Wort, ein ungewöhnlich stilles Kind. Der Inspizient passt auf, dass ich nicht auf die Bühne laufe, seine Hand liegt schwer auf meinem Kopf und schließt sich wie ein Helm um meinen Schädel. Es ist dunkel, bis auf einen Verfolger, auf meine Mutter gerichtet, die rasende Amazone, einen blassen Achill zerfleischend, merklich angeschlagen, jedoch noch äußerst wortgewandt, wenn man bedenkt, dass sie sich schon vor mehreren Minuten einen Dolch zwischen die Brüste gestoßen hat. Ein heller, klarer Kinderschrei aus dem Off. Stille. Vorhang. Meine Mutter liebte diese Geschichte, sie erzählte sie noch Jahrzehnte später bei jeder Gelegenheit.
Ich legte mich aufs Bett, drehte das Gesicht ins Kissen und atmete vorsichtig ein, es roch nach Weichspüler oder einem Parfüm, das ich nicht kannte, das nichts auslöste. Penthesilea starrte mich an, ihr schöner Wahnsinn ein Mahnmal besserer Zeiten. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Mutter jeden Abend hier gelegen und dieses Bild betrachtet hatte oder auch nicht, schließlich nimmt man nicht wahr, was einen täglich umgibt. Wie sie eine Schlaftablette genommen, einen Schluck Wasser getrunken, das Licht gelöscht hatte. Ich schloss die Augen. Ich konnte mir gar nichts mehr vorstellen.