Читать книгу Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - Страница 5

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Es gab zwei oder drei Dinge, die ich von meinem Vater wusste.

Der Rest bestand aus Mutmaßungen und Schlussfolgerungen, die ich den unbedachten Äußerungen und widersprüchlichen Erzählungen meiner Mutter entnahm. Die Vehemenz, mit der sie gleichzeitig oder sehr kurz nacheinander zwei völlig gegensätzliche Behauptungen zu verteidigen imstande war, faszinierte mich bis zuletzt. Der Alkohol verwischte die Erinnerungen, aber er war nicht allein schuld. Es hatte gedauert, bis mir das aufgefallen war.

Die Geschichte meiner Entstehung war ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile fehlte. Eine Liebesgeschichte, möglicherweise. Eine Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang, wobei mir nicht ganz klar war, worin die Tragik lag. Womöglich war er verheiratet gewesen oder war es noch immer. Eventuell hatte er noch eine zweite Familie oder, besser gesagt, eine erste, da wir, meine Mutter und ich, nicht zählten.

Vielleicht – und aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich weil die Vorstellung zu ungeheuerlich schien, war mir diese Möglichkeit erst in den letzten Jahren in den Sinn gekommen – wusste er überhaupt nichts von meiner Existenz.

Mit Sicherheit war zu sagen, dass er Mitte der achtziger Jahre, genauer gesagt in der Spielzeit 86/87, am Hamburger Schauspielhaus Das Käthchen von Heilbronn inszeniert hatte. Mutter spielte das Käthchen, er hatte sie beim Intendantenvorspiel an der Schauspielschule entdeckt. Ein Dreivierteljahr später wurde ich geboren. Ein Unfall, der ihrer Karriere jedoch zunächst nichts anzuhaben schien. Sie hatte mir den Namen Katharina gegeben, nach dem Käthchen, irgendwann war Ina daraus geworden.

Ich hatte mir meine ganze Kindheit und Jugend über ausgemalt, wie ich eines Tages nach meinem Vater suchen würde. Es war nur eine Vorstellung, ein Film in meinem Kopf, dessen Drehbuch je nach Lebensphase und den Büchern, die mich zuletzt beeindruckt hatten, variierte. Die Idee, irgendwann einmal aufzustehen und etwas zu tun. Eine Art Vorfreude auf ein unkonkretes Später. Bis dahin wartete ich, ohne zu wissen worauf. Etwas hielt mich zurück. Etwas, das mit den Jahren stärker wurde und lähmender und sich auf alle Lebensbereiche ausdehnte. Ich verbrachte ganze Tage auf dem Bett oder am Fenster damit, mir auszumalen, wie mein Leben, sollte es eines Tages beginnen, aussehen würde. Das Warten hatte noch nicht diesen schalen Beigeschmack, und hätte mir damals jemand gesagt, dass sich in der folgenden Dekade nichts Wesentliches ereignen würde, vermutlich hätte es sich anders angefühlt. Es fühlte sich gut an. Damals war ich immer unglücklich verliebt in irgendwen, und wenn das Gefühl schwächer wurde, suchte ich mir jemand Neues, in den ich unglücklich verliebt sein konnte, und genoss den Schmerz, der mit leisem Ziehen das Brustbein hinaufkletterte und wieder verebbte, jedes Mal wenn ich an jemanden dachte. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, schob ich mir eine Aufbackpizza in den Ofen und setzte mich vor den Fernseher, sah Talkshows und schlecht synchronisierte Sitcoms und pseudodokumentarische Realityformate. Es hatte etwas zutiefst und auf verstörende Weise Befriedigendes, fremden Menschen beim Leben zuzusehen, Leben, die ich nicht hätte führen wollen und vor denen ich mich in jugendlicher Arroganz in Sicherheit wähnte.

Wahrscheinlich ging es dabei letztendlich nur um das Hinauszögern der Enttäuschung, die ich erwartete. Das Schweigen meiner Mutter, das beharrlich sein konnte und dramatisch aufgeladen, hatte mich immer ein unkonkretes Schlimmes vermuten lassen. Etwas musste vorgefallen sein, das so ungeheuerlich war, dass Mutter jede Aussage, zumindest im nüchternen Zustand, verweigerte. Diese Ungeheuerlichkeit war mir als kleines Kind nicht bewusst gewesen, nicht etwa weil Mutter sich mir gegenüber zurückgehalten hätte, sondern weil ich alles, was sie sagte, mit der unerschütterlichen Ernsthaftigkeit kleiner Kinder hinnahm. In der Welt, in der ich lebte, metzelten sich Menschen auf der Bühne gegenseitig ab, später tranken sie dann Wein in der Kantine, strichen mir lachend durch das Haar, beteuerten, dass es ihnen gut gehe, dass nichts davon in echt passiert sei. Wenn Mutter ins Telefon schrie, dass sie diesen oder jenen Scheißkerl zu erschießen beabsichtigte, war ich überzeugt, dass dieser oder jener Scheißkerl am nächsten Tag tot sei, am übernächsten jedoch wieder schnapstrinkenderweise in unserer Küche sitzen und sein Messer in den Tisch bohren würde. Erst in dem Alter, da sich langsam zumindest der Versuch, die Dinge zu begreifen, aus dem Dämmerzustand des Daseins schälte, hatte sie mir Angst gemacht, und ich hatte versucht, nicht an das, von dem so beharrlich geschwiegen wurde, zu denken.

In der Pubertät wiederum begann ich, einen leisen Gefallen daran zu finden, und ein wohliges Schauern mischte sich unter die Angst, vor dem, das da lauerte, der Geschichte, die nur umkreist wurde, in Andeutungen und unbedachten Äußerungen. In dieser Zeit fing es an, dass Mutter nach Hause kam und trank. Sie ging direkt in die Küche, warf ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich an den Küchentisch, wie man sich an den Schreibtisch setzt, an die Stirnseite des Tisches, den Rücken zum Fenster, ein Glas und eine Flasche vor sich wie eine Aufgabe. Sie konzentrierte sich darauf, den Alkohol zu vernichten, als sei er schuld an allem, und wahrscheinlich war er das auch, aber das war letztendlich eine Huhn-Ei-Frage. Mutter trank, und ich sah ihr zu. Irgendwann hatte ich festgestellt, dass die interessanten Informationen durch den Alkohol kamen, und ich folgte Mutter in die Küche, setzte mich ihr gegenüber und beobachtete sie, wie man ein Labortier beobachtet. Und Mutter sprach. Wenn sie betrunken war, sprach sie von den Möglichkeiten, die man, sie, hatte oder gehabt hatte oder gehabt hätte oder eben leider nicht. Wenn sie stockte, schenkte ich ihr nach. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man Alkoholiker konfrontieren sollte, sie zum Trinken zwingen und ihnen dabei zusehen, um sie zu beschämen und letztlich dadurch zum Aufhören zu bewegen. Aber die Wahrheit war, dass ich das damals nicht gedacht hatte, dass ich mir das viel später erst zurechtlegte, eigentlich erst in letzter Zeit, als ich mir einredete, etwas versucht zu haben, aus einem verspäteten Schuldgefühl heraus.

Diese Abende, die unweigerlich in Nächte übergingen, in denen ich mir angewöhnte, das Gas abzustellen und es erst am nächsten Vormittag, wenn sie jammernd in der Ecke lag, wieder anzustellen, waren wie ein ernstes Spiel zwischen uns. Niemand machte Licht, in den langen Minuten, in denen nicht gesprochen wurde, weil es jedes Wort abzuwägen galt, weil ich die Gedanken angeschlichen kommen sah, hinter der Sorgenstirn meiner Mutter, ihrem Schatten, der sich gegen den schwach ausgeleuchteten Fensterrahmen abzeichnete. Ich fuhr mit den Fingern die Macken im Holz des Tisches nach, obwohl ich mich nicht erinnerte, ob es den, der sie hinterlassen hatte, damals schon gab oder schon wieder nicht mehr gab oder ob das ein anderer Tisch gewesen war, an dem er gesessen hatte, in einer anderen Stadt. Ab und zu wanderte ein Schatten über die Decke, wenn auf der Straße ein Auto vorbeifuhr. Mutter konnte schweigsam sein, wenn man die falschen, die richtigen Fragen stellte, und ich sah ihr zu, wie sie Informationen ordnete hinter der Stirn, sie in Zweierreihe antreten ließ wie Kindergartenkinder. Ich hörte die Stille durch das Geräusch des Einschenkens, das Knallen ihres Glases auf die Tischplatte, von Runde zu Runde unkoordinierter, das Rauschen der Wasserleitungen in der Wand, das dumpfe Zucken, mit dem sich die Gastherme ein- und ausschaltete, Fernsehgeräusche aus den umliegenden Wohnungen, Schritte im Treppenhaus, die sich näherten und wieder verebbten, das Rasseln von Schlüsseln, Türen, die ins Schloss fielen. Ich wusste, dass ich sie nicht unterbrechen durfte, wenn ich an das Wesentliche heranwollte, wenngleich ich nicht genau wusste, worin es bestand, aber ich hoffte, das eines Nachts herauszufinden. Nach einer Weile waren wir so eingespielt, dass ich sofort in die Küche ging, wenn sie nach Hause kam, wortlos zwei Wassergläser aus dem Schrank über der Spüle nahm und randvoll mit Schnaps schenkte. Als ich mir zum ersten Mal selbst auch ein Glas einschenkte, sah sie mich halb belustigt, halb anerkennend an und fragte: Hast du morgen Schule?

Erst zur Dritten, sagte ich, was wahrscheinlich gelogen war, aber ich nahm es schon lange nicht mehr genau mit der Anwesenheit im Unterricht. Ich hatte die Unterschrift meiner Mutter perfektioniert, ihre geschwungene aggressive Schrift, wie ein Gymnasiallehrer sie von einer Schauspielerin wahrscheinlich nicht anders erwartete, zwei große M wie Margarethe und wie Mayer, dahinter jeweils eine Wellenlinie, die die Buchstaben nur andeutete. Meistens benutzte ich das Wort unpässlich, das mir passend schien, weil sie es einmal auf einer echten Entschuldigung verwendet hatte und es glaubhaft altmodisch klang, wie ich fand, und weil außerdem jede genaue Nachfrage eine Indiskretion bedeutete, die ein in die Jahre gekommener Sportlehrer sich pubertierenden Mädchen mit hysterischen Theatermüttern gegenüber nicht erlauben konnte. Ich hatte mir die maximale Anzahl an Fehlstunden ausgerechnet, die mich gerade noch bestehen lassen würden, baute einen Puffer von einigen Stunden für einen eventuellen echten Krankheitsfall ein und war in keinem Fach öfter anwesend als unbedingt nötig.

Wenn sie weinte, hatte ich gewonnen. Mutter weinte oft und grundlos, wie mir schien, und ich saß da, mehr fasziniert als betroffen, auch ein wenig stolz, auf die Macht, die ich über sie zu haben glaubte. In diesen Momenten hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit, also war ich grausam. Ich selbst weinte nie. Gelegentlich schrie ich, knallte Türen oder schloss mich im Badezimmer ein. Das einzige Mal, dass ich als Kind geweint habe, war, soweit ich mich erinnerte, als Mutter Romeo und Julia getötet hatte.

Die Überflüssigkeit der Dinge

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