Читать книгу Die Banalen und die Bösen - Jannis Oberdieck - Страница 10
7 - Pläne für eine neue Welt
ОглавлениеDie Terrasse der Villa liegt ein wenig erhöht, wie ein Balkon von schneeweißer Balustrade in geschwungenem Stein gerahmt. Über ihr durchsetzt sich der Geruch frischgemähten Grases bereits mit erstem Grillrauch unter orange-gelbem Sonnendach, beiderseits nur noch grenzenloser Himmel darüber, angenehm-provisorisches Zeltlager-Ambiente darunter, leider schweißtreibend heiß trotz Ventilator. Daher haben alle bereits ihre Jacketts ausgezogen und Ärmel hochgekrempelt, als stände die große Verbrüderung bevor.
Auf der anderen Seite unseres hitzegeplagten Tisches unterhält sich Stritter gerade angeregt mit einem Herrn Anfang 50, der sich mir als Dr. Günther Musmann, binnenmarktpolitischer Sprecher des EU-Parlaments, vorgestellt hat. Ebenfalls Christliche Partei. Er macht einen freundlich-zurückhaltenden, fast schon etwas sanften Eindruck. Halbglatze und Vollbart unterstreichen die grundsätzliche Eierform seines Schädels, Augenbrauen permanent betroffen hochgezogen kräuseln seine Stirn in fast klingonischen Falten - bis hin zu jener polierten Stelle jedenfalls, an der sich die Sonne noch schweißbeperlt spiegelt. Gemeinsam untersuchen sie einen Halter für Grillsaucen und versuchen, aus exotischen Namen Rückschlüsse über ungefähre Geschmacksrichtungen abzuleiten.
Daneben sitzt ein äußerst seriös wirkender Herr, der sich mit Ingo über Sport austauscht und zu kurzen, explosiven Zurschaustellungen von wechselweise Empörung und Häme neigt: Heinrich Krampfhorst, MdB für die Frühere Arbeiterpartei, die Liste der Sozialdesolaten, aus dem Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Hager und drahtig, kurz-graues Haar, schmales Gesicht mit hörnerner Brille: Irgendwie wirkt er ausgezehrt und steht offenbar stark unter Strom. Musmann und Krampfhorst tragen jeweils die Reste grauer Anzüge mit unterschiedlichen Modeverbrechen als Krawatten.
Ein wenig abgeschlagen im Einzelsessel macht sich Amalia Metzger, MdB für die Umweltpartei aus dem Ausschuss für Werbung, Verkehr und digitale Infrastruktur (mit Anfang 40 die jüngste außer Ingo) energisch über eine Zusammenstellung unterschiedlichster Salate her. Sie trägt eine knallrote Bluse über weißem Hemd, am Hals baumelt stilisiert ein Bronzedelphin, Gesichtszüge weitgehend in pampig-herabgezogenen Mundwinkeln erstarrt. Keinerlei Makeup, der Topfschnitt ihrer blonden Haare lässt auf eine eindeutige Präferenz für innere Werte schließen. Momentan schwitzt sie lieber still vor sich hin.
Meine Wenigkeit gibt sich derweil damit beschäftigt, überbackenen Schafskäse auf Baguette zu streichen und mit gut eingedrückten Oliven zu garnieren. Dabei lausche ich dem Summen der Bienen und vor allem erneut dem Lied der Vögel, sogar eine Gartengrasmücke schon entdeckt. Ein bisschen mache ich mir zwar Sorgen, dass die anderen mich für arg beschränkt befinden, weil ich so lange autistisch mit diesem Baguette herumfuhrwerke, doch erstmal halte ich den Kopf noch lieber eingezogen. Sobald ich aufsehe, wird mich zumindest die Metzger in ein Gespräch verwickeln, diesen Trick kenne ich bereits.
Vom Tennisplatz kommen nun die beiden letzten Mitglieder unserer Gruppe geschlendert, ein äußerst ungleiches Paar. Er Ende 40, sportlich, sonnengebräunt, idealer Schwiegersohn. Noch nicht einmal ihr Match hat seine perfekt sitzenden Haare in Unordnung bringen können. Die Frau daneben ist mindestens zehn Jahre jünger und so füllig, dass sie wohl ihre eigenen Tennissachen mitbringen musste. Sie lacht schallend und stößt ihrem Partner den Ellbogen in die Rippen, dass dieser einen Meter zur Seite taumelt, dabei wirft sie ihre ungezähmt schwarze Lockenpracht zurück. Es sieht aus, als trüge sie ein kleines Schaf auf dem Kopf und den gutgelaunten Charme einer Dampfwalze vor sich her. Der Mann antwortet lachend etwas, das ich aufgrund unerwartet dicken US-Akzents nicht verstehe.
Ingo stellt beide vor als Mister Richard Schuester, Vertreter von XSolutions, und Frau Ludmilla Wilks vom EU-Parlament, Mitglied der Früheren Sozialistenpartei und des Handelsausschusses. Tatsächlich, er stellt den Mann zuerst vor, für gute Kinderstube wohl noch zu jung. Frau Wilks jedoch winkt nur beiläufig in die Runde und schreitet sofort zum Servierwagen. Schließlich ächzt die Sitzecke, als sie sich neben Schuester fallenlässt: »Komm, Richard, darauf stoßen wir mit einem Ouzo auf Eis an. Hier, für Sie!«
Frühere Sozialistenpartei? Hier? Derart „etabliert“ sind die doch noch gar nicht? Werden sie wohl auch nie, solange sie sich in Einwanderungs- und Bildungspolitik nicht auf eine gemeinsame Position einigen können. Ich weiß noch, wie ich bei einer Konferenz zum ersten Mal einem MdB von der Früheren Sozialistenpartei begegnete. Erst kam der Typ eine Viertelstunde zu spät und bei seinem Eintreten stöhnten alle genervt auf: Krasser Fall von Mobbing, dacht ich viszeral. Bis klar war, dass er sich alle fünf Minuten zu Wort meldete, um einen recht pompösen Grundsatzmonolog zu halten. Schnell wurde klar, dass er dabei weder das Thema unserer Sitzung noch die zugehörige Rechtslage kannte. Einer von denen halt, denen Prinzipielles wichtiger ist als schnöde Machbarkeit. Habe die Partei daraufhin als vermutlich harmlos und relativ wirr abgespeichert und fortan genau deswegen gewählt. Ob das auf diese Wilks auch zutrifft?
Erstaunlicher Weise ist sie bei weitem nicht so durchschwitzt, wie dies bei ihrem Körperumfang zu erwarten wär, stürzt den Ouzo in Eins hinab. Schuester hingegen blickt sein Glas an, als hätte er normaler Weise nichts mit Alkohol zu schaffen, da er Regeln für gesundes Managerleben bis aufs Komma befolgt. Ingo hilft ihm jedoch aus seiner Lage, indem er zum Tisch herüberkommt und eine kleine Ansprache beginnt: »Jetzt, wo wir alle beisammen sind, stelle ich euch mal das Rahmenprogramm für dieses Wochenende vor. Natürlich komplett auf freiwilliger Basis, seht es mehr als eine Art Wohlfühlprogramm.« Er streicht sich den Seitenscheitel zurecht und blickt einen Moment spöttisch-abwartend in die Runde. Jetzt hier auf der Terrasse ist er zu anhaltendem Geduze übergegangen, auch wenn ansonsten niemand mitzieht: vertrauensbildende Maßnahme vermutlich.
»Zunächst einmal haben sich einige wahrscheinlich schon gefragt, warum ich hier am Grill stehe. Der Trick ist, dass wir dem gesamten Personal übers Wochenende freigegeben haben. Wir haben die Villa also komplett für uns: sturmfreie Bude, Leute!« - Doktor Musmann lächelt schwach. Frau Metzger sieht Ingo an, als wäre er etwas, das sie soeben unter ihrer Schuhsohle entdeckt hat.
Leicht verunsichert fährt unser Gastgeber fort: »Deshalb grillen wir jetzt erst einmal, damit ihr euch stärken könnt. Aber keine Sorge: Später am Abend kommt noch ein erstklassiger Catering-Service. Schlagt euch den Bauch also nicht zu voll, nicht wahr?« Kurz sieht es aus, als wolle er uns wieder Zustimmung heischend angrinsen, anscheinend aber hat er aus seiner letzten Erfahrung gelernt. »Das Abendessen ist für 20.00 Uhr geplant. Ab 21.00 Uhr beginnt dann die Weinprobe, wir haben ein paar ganz exquisite Tröpfchen für euch ausgewählt. Morgen um 9.00 kommt wieder der Catering-Service für das Frühstück und ab 11.00 lassen wir ein paar hochspezialisierte Masseurinnen für euch antanzen. Wenn ihr Interesse habt, tragt euch auf der Liste ein, die ich gleich rumgebe, und wählt eure bevorzugte Behandlung. Keine Sorge: Das ist natürlich alles 100%ig seriös. Wir sind hier ja schließlich nicht bei Volkswagen, nicht wahr?« Wie gefürchtet lässt er sich nun doch zu schallend-irrlichterndem Gelächter hinreißen. Stritter fletscht die Zähne und grinst zurück, Krampfhorst jedoch sieht ein wenig enttäuscht aus.
»Tja, das warʼs dann eigentlich schon. Um 13.00 Uhr gibt es noch Mittag, damit ihr euch für die Heimfahrt stärken könnt. Wie ihr seht, wird dieses Wochenende das, was wir daraus machen. Also: Nutzt die Einrichtungen hier auf dem Grundstück, die Sauna im Haus und seht zu, dass ihr eine schöne Zeit habt!«
Allgemein setzt zaghaft-fröhlich zustimmendes Gemurmel ein, aber Ingo ist leider noch nicht fertig. Etwas entschuldigend hebt er die Arme und steht so, bis erneut Ruhe einkehrt: »Aber, Leute, ihr wisst ja, wie das ist. Wenn eine neue Gruppe zusammenkommt, braucht man immer ein Kennenlernspiel, um das Eis zu brechen.« Durch meinen Kopf zucken sofort düstere Erfahrungen zahlreicher Pflichtfortbildungen, auch in den Blicken rundum liegt mehrheitlich Entsetzen. Lediglich Stritter beugt sich erwartungsvoll vor.
Ingo verscheucht eine verirrte Biene von den Grillsaucen und linst dann listig rundum: »In eurem Alltag müsst ihr wahrscheinlich schon genug Probleme lösen. Deshalb soll es heute hier um Kreativität gehen (in Krampfhorsts Miene steht offener Ekel). Stellt euch folgendes vor: Wissenschaftlern ist es tatsächlich gelungen, ein Tor in eine andere Welt zu öffnen.« Ingo senkt die Stimme. Wäre es bereits dunkel, würde er jetzt wohl eine Taschenlampe unter sein Gesichtchen halten. »Die Atmosphäre dort ist zwar nicht giftig, aber auch nicht atembar. Die Schwerkraft ist wie bei uns. Automatisierte Drohnen wurden zur Erkundung hinübergeschickt und brachten Aufnahmen von äußerst bizarren Pflanzen und Tieren mit sich, keines davon kulturschaffend. In zwanzig Kilometern Entfernung wurden jedoch die Ruinen einer Stadt entdeckt. Das technische Niveau scheint zumindest vergleichbar mit unserem: Eure Aufgabe ist es nun, als Team eine Expedition zu organisieren.«
Meiner Erfahrung nach ist das Grundprinzip solcher Planspiele immer gleich: Je verschrobener und abwegiger die Spielidee, desto garantierter angeblich die Kreativität. Bin jedoch noch nie über ein Planspiel gestolpert, das derart unbestimmt war: Was für Ressourcen? Welche Zielvorgaben? Warum können wir uns nicht einfach in Frieden unterhalten? Oder ist dies ein Test, bei dem Ingo und Schuester eine Vorauswahl der Kandidaten treffen, mit denen man sich später unter vier Augen zusammensetzt? Dann ist es vermutlich das Beste, möglichst wenig Initiative und eigenständiges Denken zu zeigen. Eigenartiges Sujet auf jeden Fall. Ja, tatsächlich: Zu diesem Zeitpunkt halte ich das alles noch für frei erfunden.
Offenbar teilt auch Frau Wilks einige meiner Bedenken: »Ach, kommen Sie schon, Ingo! Sie müssen uns doch ein bisschen mehr Informationen geben, damit wir arbeiten können.« - Gleichmütig zuckt unser Gastgeber mit seinen Achseln und blinzelt in die mittlerweile keck von rechts linsende Sonne. »Im Grunde habt ihr bereits alle verfügbaren Infos. Aber ihr könnt gern noch gezielt Fragen stellen, während ich mich um das Grillfleisch kümmere.« Sprichtʼs und geht hinüber, während wir Teilnehmer dieses Wellness-Wochenendes uns ratlos anblicken. Träge Gelassenheit aufgrund drückenden Wetters und der Wunsch, sich vor anderen in bestmögliches Licht zu rücken, ringen sichtlich miteinander. Schließlich unternimmt der für Selbstdarstellungen offenbar empfängliche Doktor Musmann einen noch etwas schwunglosen Anlauf: »Nun ja. Mir scheint, wir bräuchten Wissenschaftler... verschiedenste Wissenschaftler... und Soldaten als Geleitschutz. Vielleicht das European Gendarmerie Force?« Unsicher blickt er in die Runde, ein Girlitz tschilpt Zustimmung, Krampfhorst beschränkt sich undeutbar auf abgehacktes Nicken.
»Bringt nichts«, breche ich schließlich hervor, selbst überrascht von soviel Initiative ausgerechnet meinerseits: wahrscheinlich die Nervosität, vielleicht auch durch die letzte Woche wieder zu sehr an heikle Ansagen gewöhnt. »Die Atmosphäre dort ist nicht atembar. Und wir wissen nicht, was für Mikroorganismen es gibt. Also müssten alle Beteiligten Schutzanzüge mit Sauerstoffflaschen tragen. Bei dieser Schwerkraft wiegt so etwas aber fast dreißig Kilo, und dabei reicht der Sauerstoff nur für vierzig Minuten.«
Die Runde blinzelt mich träge, ja geradezu verschlafen aus dem Halbschatten heraus an. Lediglich Stritter pfeift beeindruckt, während er sich mit einer Serviette kühlend Luft zufächert: »Sie kennen sich ja aus?«. Natürlich folgen solcher Selbstexponierung in unbekanntem Kreis trotz all dieser Jahre noch immer stetig Schamaufwallungen nach, die niedergerungen werden wollen. »War früher bei der Freiwilligen Feuerwehr«, spiele ich meinen Beitrag ein wenig herunter, Fachwissen ist stets befremdlich hier im Tal der Ahnungslosen. Dennoch, bis jetzt ernte ich anerkennende Blicke. Trotzdem: Jetzt besser zurücknehmen, andere vorpreschen lassen und sorgfältig anschauen, mit wem du es zu tun hast!
Rundum setzt man sich nun aufrechter, Reaktivierung routinierter Konferenzhaltungen: Keinerlei Aussagekraft bezüglich tatsächlicher Aufmerksamkeit, selektiv abzuschalten, ist schließlich einer der wichtigsten Schlüssel zum Erfolg. Jedoch: Voll zupackender Energie übernimmt Frau Wilks das Ruder. »Dann brauchen wir also einen Transportwagen für zusätzliche Sauerstoffflaschen.« Vor meinem geistigen Auge schwelen Bilder, ein Trupp Gestalten in schweren Schutzanzügen stapft durch unwirtlich-fremde Landschaft unter sengender Sonne, Handkarren mit Sauerstoffflaschen hinter sich herziehend, fern so fern das Heimatland. Verblüffend, wie leicht sich so etwas planen lässt, wenn man selbst im sicheren Hafen sitzt. »Schwierig«, steuert Doktor Musmann bei. »So schwere Wagen würden befahrbares Gelände benötigen. Oder Raupenketten.« Funktioniert doch: Ein and´rer wird´s schon sagen, erster Elan versiegt erneut in weichgekochter Ratlosigkeit.
Nun erbarmt sich jedoch auch die Metzger: »Auf jeden Fall brauchen wir für diese Expedition eine feste Frauenquote. Das Kommando sollte unbedingt ebenfalls eine Frau haben. Wenn das dann in Fernsehen und Zeitungen zu sehen ist, werden die jungen Mädchen verstehen, dass das Erforschen von Unbekanntem absolut auch Frauensache sein kann. Gut wäre jemand, die energisch und weiblich zugleich ist.« - Einen Moment lang herrscht verblüfftes Schweigen. Dieser zeitgemäß vielleicht wichtigste Punkt musste also wieder einmal eigens von einer Frau angesprochen werden, Männer sind ja so wenig lernfähig. Nur Krampfhorst hat derweil begonnen, den Kronkorken seiner Bierflasche in Richtung eines kleinen Tors aus Salz- und Pfefferstreuer zu schnippen. Doktor Musmann putzt energisch seine randlos-dezente Brille zur Vorbereitung verschärfter Konzentration und murmelt leicht schuldbewusst etwas, das nach »gewiss, gewiss« klingt. Stritter bleibt noch immer auffällig still, vermutlich hat die Bibel zum Thema „Reisen“ wenig zu sagen und Stellen zur Rolle der Frau könnten derzeit ungeeignet sein. Als man in meine Richtung blickt, fokussiere ich schnell auf einen Dunklen Zierbock, der mutig die Balustrade erklimmt, um dort unaufdringlich gemusterte Flügeldecken zu putzen: Bist du nicht ein bisschen spät dran dies Jahr, mein Kleiner?
»Das ist es!«, bringt uns die Wilks vehement begeistert zurück zum Thema: »Wir brauchen so etwas wie dieses Raupenfahrzeug bei der Marslandung! Ingo, wie hoch ist unser Budget?« Unser Gastgeber hat sich inzwischen eine Grillschürze umgebunden, Kiss the cook, vor ihm färben sich erste glühende Kohlen bereits vor Zusatzhitze weiß. Lächelnd breitet er auf diesen Zuruf hin seine Arme aus wie ein Varietékünstler: »The sky is the limit.« Und genau das ist wohl das Zauberwort. Sogar Krampfhorst beteiligt sich nun enthusiastisch, man kann über so viel Planungswillen nur staunen. Noch als Ingo erste Grillware zu Tische trägt, holt die Wilks Schreibzeug aus ihrer fast koffergroßen Handtasche und Doktor Musmann beginnt, Skizzen zu entwerfen. Man einigt sich nach und nach auf einen Treck von drei bewaffneten Raupenfahrzeugen, einige Erkundungsdrohnen dazu, welche aus den Fahrzeugen heraus steuerbar sein sollen. Die marinierten Filetspieße mit Paprika hingegen sind wunderbar rauchig vom Rost gekommen, Frau Metzger bleibt jedoch bei blassem Huhn. Stritter weiß mittlerweile Grillsaucen zu empfehlen, lediglich Schuester hält sich beobachtend zurück. Kaum drei Sätze bislang, durchaus auffallend.
»Gut, damit kommen wir bis in die Stadt«, fasst Doktor Musmann letztlich zusammen und tunkt sein Würstchen mutig in eine Sauce namens Malaysia. »Dort lassen wir die Drohnen ausschwärmen. Wonach aber suchen wir?« Wieder blickt er fragend in die Runde, während seine Zähne das Fleisch zerkauen.
Die Metzger: »Also, ich würde wissen wollen, warum diese Zivilisation offenbar fast restlos untergegangen ist. Ich meine, vielleicht gibt es immer noch irgendeine Gefahr, von der wir so schnell wie möglich wissen sollten? - Oder war das vielleicht eine Ökokatastrophe?«, schiebt sie parteibewusst rasch hinterher. Für einen kurzen Moment blitzt jedoch auf, dass sie privat vielleicht durchaus bewandert ist im Bereich von Science Fiction/Fantasy, dunkle Geheimnisse und dergleichen. Krampfhorst stimmt zu, Ingo hat seine Kronkorken inzwischen eingesammelt: »Wir müssten so etwas wie ein Archiv oder eine Bibliothek suchen.« Das frische Bier in seiner Hand schwitzt vor Temperaturunterschied, doch noch mehr Entspannung kann ich wirklich nicht gebrauchen. Allmählich wäre es vielmehr an der Zeit, mich wieder einzuklinken, man gerät so schnell in Vergessenheit. Doch Doktor Musmann hat den Faden bereits aufgenommen: »Es müsste auf jeden Fall ein digitales Archiv sein, falls es so etwas hier gibt. Wir kennen die Sprache schließlich nicht und haben außerhalb unserer Fahrzeuge nur 40 Minuten. Die sinnvollste Ausbeute unserer Expedition wäre also, wenn wir so etwas wie... Speichermedien mitnehmen könnten, die sich hinterher in Ruhe auswerten lassen.«
»Auf keinen Fall«, meine Chance ist gekommen: »Wir dürfen nichts von da mit herüberbringen. Schließlich haben wir überhaupt keine Ahnung, was für Mikroorganismen es dort gibt. Und welche Auswirkungen sie hier hätten.« Doktor Musmanns Miene gefriert in Irritation, bei solcher Aufgeschlossenheit für Neue Medien noch auf Widerspruch zu stoßen. Die Metzger winkt ab. »Aber Herr Müller, dafür gibt es doch Desinfektionsmittel und... Elektronenmikroskope?« Offenbar hat sie keinerlei Vorstellung von den praktischen Schwierigkeiten einer Mikroskopie.
Also versuche ich es mit Grundlagenwissen: »Sehen Sie, Frau Metzger, in den letzten Jahren hat man auf Bundesebene sehr viel Geld dafür ausgegeben, Gefahren durch Bioterrorismus einzuschätzen und wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Eine fremde Atmosphäre müssen sie sich sicherheitshalber wie ein ganzes Arsenal von solchen Biowaffen vorstellen: Alles Mögliche an Bakterien, Viren, Pilzen oder Toxinen kann es dort geben. Unsere Standarddekontaminationsmittel wie zum Beispiel Peressigsäure können zwar ein breites Spektrum davon unschädlich machen, aber bei weitem nicht alles. Für den Rest braucht es spezifische Dekontaminationen, wofür allerdings zuallererst klar sein muss, womit genau wir zu rechnen haben. Das stellt sich leider häufig erst zu spät heraus. Denken Sie nur etwa an Milzbranderreger, die sich in Sporenform jahrzehntelang halten, um sich bei Kontakt mit Wirtskörpern zu vermehren! In dieser fremden Welt könnte es Dutzende von Erregern geben, die nach genau demselben Schema funktionieren. Am besten halten wir uns daher an den Befund des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, dass eine hundertprozentig vorbeugende Dekontamination nicht möglich ist«, stoße ich hervor, während aller Blicke durchaus schwer auf mir lasten. Uff, das war wohl wieder viel zu viel an Inhalt.
Rundum kaut man noch an diesen klumpig-geballten Informationen. Die Metzger gleicht stirnrunzelnd offenbar innerlich mit den von ihr gesehenen Katastrophenfilmen ab, in denen Einsatzkräfte mit Schutzanzügen einfach in einem Plastikzelt abgeduscht werden: So schwer sieht das nicht aus. Stritter beobachtet Schuester, der Doktor Musmann beobachtet. Die Wilks grinst wegen irgendetwas rätselhaft, vielleicht dem Ouzo geschuldet. Krampfhorst rückt seine Hornbrille auf der schmalen Nase zurecht und schaut mich über die Ränder hinweg bedauernd an: »Das mag ja gut und richtig sein, Herr Müller. Aber ich fürchte, es entspricht nicht den Realitäten. Wenn wir so ein... Portal in eine andere Welt öffnen konnten, werden es die Chinesen in ein paar Jahren auch schaffen. Und die werden sich solche Gedanken nicht machen.« Ganz klar: ein Philantrop, gefangen im Körper eines Politikers. »Genau«, fällt Doktor Musmann bei, »wir müssen unseren technologischen Vorsprung sichern«, offenbar eine Reflexhandlung.
Nun schaltet sich auch Schuester zu. Alle Augenpaare wandern überrascht hinüber: »Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu, Herr Müller. Was immer wir von dort hierherBRingen (das BR spricht er stets als Großbuchstaben), muss so penibel wie nur möglich untersucht werden. Auch wenn es Jahre dauert. Aber auf der anderen Seite gibt es gewisse Zwänge („Swenge“, sagt er). Wenn ich mir anschaue, was Sie alle bis jetzt an Ausrüstung beantragt haben, schätze ich die Kosten vorsichtig gesagt auf 200 Millionen („sweihunnert“, sagt er). Dieses Geld muss irgendwie wieder hereinkommen („h´rrain“, sagt er). Letztlich sind Sie also darauf angewiesen, von dort etwas mitzuBRingen, was sich baldmöglichst marktfähig verwerten lässt.«
»Ja, aber die enormen Risiken...« setze ich kurz an, breche jedoch vernünftiger Weise ab, will ja nicht freveln wider Gott und Wirtschaft. Natürlich geben wir einerseits Millionen zur Bekämpfung von Bioterrorismus aus, verzichten andererseits aber auf basalste Sicherheitsmaßnahmen, sobald es um Gelder privater Unternehmen geht. Was natürlich daran liegen mag, dass derartige Bekämpfung mittlerweile fest in den Händen eben derselben Unternehmen ist. Schärfe mir noch einmal siedendheiß ein: Vergiss nicht, dass du hier bei XSolutions bist, Martin. Die sind nachvollziehbarer Weise nicht sonderlich erbaut, wenn man Kontaminationsrisiken problematisiert. Außerdem hast du Wochenende. Immerhin, Krampfhorst blickt mitfühlend: »Sie haben ja Recht, Herr Müller. Aber denken Sie doch an die Chinesen. Das sind nun mal die Realitäten.« Angesichts seines treuherzigen Blicks fällt es erstaunlich leicht, einfach zustimmend zu nicken.
»Also (Frau Wilks schenkt sich erneut Ouzo nach): Wir brauchen Spezialisten, die vielleicht in der Lage sind, so etwas wie Festplatten zu erkennen und genau zu sagen, welche Teile des übrigen Systems fotografiert oder ausgebaut werden müssen. Wie steht es mit der Möglichkeit, dafür einen ferngesteuerten Roboter einzusetzen?«
Widme mich nun vorsichtshalber erst einmal der Beschäftigung, mein Grillfleisch so klein wie möglich zu schneiden. Dieses ganze Gerede über Kontamination hat mich aufs Unangenehmste daran erinnert, weshalb ich hier bin: Bei erstbester Gelegenheit sollte ich Teile dieses Essens in ein Probentütchen packen. Nicht zu fassen, dass ich bislang an überhaupt nichts gedacht hab vor lauter Sonne und Hunger! Aber das Fleisch wurde ja auch nicht zugeteilt, jeder hat sich selbst bedient, so etwas wiegt in Sicherheit. Bislang wohl keine Larven, seltsamen Fäden oder schwarze Bröckchen gar, vermutlich im Abendessen besser zu kaschieren. Dann auch viel weniger Licht. Und: Die Viecher können sich eine ganze weinselige Nacht ungestört entwickeln, während etwaige Nebenwirkungen auf Alkohol geschoben werden. Dieses Wochenende hat schließlich gerade erst begonnen, Holzauge, sei bloß wachsam.