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3 - Ein Staatssekretär erwacht

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Wohnen ist natürlich ein Problem in Berlin. Selbst die Kanzlerin residiert genau dort in einem Mietshaus, wo die Spree im steinernen Bett um ihre Museumsinsel dümpelt, vierter Stock, Rest in Händen des Bundeskriminalamts. Es gibt kein Villenviertel hier, wo man sich gemeinsam mit Stars zur Unterhaltung und Unternehmern für Kontakte sorgsam abzuschotten vermöchte: Erstere ziehen lieber ins fiebernde Metropolenleben nach Berlin-Mitte, Kreuzberg und so weiter, Letztere hingegen rotten sich gegenwärtig in Grunewald zusammen. Ohne Alibi-Künstler gäbe es schlechtes Image, sich beim Geldadel einzuquartieren, daher bleiben Politiker in Berlin derzeit einfach über. Eines der vielen ungelösten Probleme dieser Stadt.

Mich zog es damals nach Dahlem: Hort gepflegter Gutbürgerlichkeit, laut Berliner Sozialatlas einer der ganz wenigen Stadtteile »ohne Handlungsbedarf«, Studenten- und Professorenviertel mit vielerlei Botschaften und Museen. Hier am Waldrand, wo Hüttenweg und Koenigsallee aufeinandertreffen, liegt meine Erdgeschosswohnung mit baumumstandenem Garten, derlei ist mir wichtig. Natürlich sind hundert Quadratmeter zu groß für mich allein, doch immer noch besser als das Haus bei Bonn: auf seine Weise übervölkert mit Gespenstern geschiedener Ehefrauen, ausgezogener Kinder und eigener Verlassenheit, die mich unentwegt angähnten. Den Großteil unserer Möbel habe ich diesen Gespenstern gelassen, sauberer Schnitt und dergleichen, hoffentlich verstehen sie sich gut mit ihren neuen Besitzern.

Mit nur 877 Wohnungseinbrüchen letztes Jahr liegt Dahlem für Verhältnisse Berlins im Mittelfeld, solider Durchschnitt. Meine entspiegelten Panoramafenster mit Pilzkopfbeschlag und Sicherheitsfolie hielten bereits drei Versuchen misserfolgsmüder Einbrecher stand, weshalb ich diesen Veteranen nun hinreichend vertraue, sie sogar abends noch unverstellt für Blicke in meinen von Solarlampen inselartig erhellten Garten zu nutzen, Wohngefühl leicht mediterran. Die ersten zwei Jahre ging das noch nicht: ständig diese Panik, dort Schatten umherhuschen zu sehen, antizipiert-splitterndes Glas und wer weiß was noch. Heute hingegen schauen die Schatten zu mir herein und ich gelassen zu ihnen heraus, bin also nunmehr angekommen.

Und so sitze ich auf meinem blassgelben Ledersofa, Notebook im Schoß, gegenüber prasselt der Fernseher im munteren Zehren eines kleinen Feuers. Für Flachbildgeräte bietet mein neuer Wohnkomfort nämlich längsseits eine ummauerte Wandvertiefung, die an die Höhlung des verwandten Blickfangs „Kamin“ gemahnt: Habe das Ganze auf die Spitze getrieben, indem ich dort wahrlich und wahrhaftig Kaminfeuervideos per USB abspiele. Ist die anfänglich-trotzige Selbstironie erstmal verbraucht, entfaltet ungehemmter Wille zu wohliger Selbsttäuschung tatsächlich eine gewisse Behaglichkeit - Best Fireplace HD, anheimelndes Knistern und Knacken vor konstant-dezentem Tosen lodernder Flammen, auf Dauer doch überraschend versöhnlich.

Doch heute ist irgendwie der Wurm drin. Zuviel ist passiert, zum ersten Mal seit langer Zeit. Normaler Weise kann ich das gut: hier sitzen, Kopf ausschalten, einfach treiben lassen. Führungsverantwortung in einer Behörde, und sei es nur die meinige, bedeutet, zehn Stunden täglich präsent zu sein: stets Meetings und Konferenzen, die während der Arbeitszeit nicht unterbringbar waren. Unter derartigen Bedingungen bildet sich ganz organisch eine Leitungsebene heraus, die nur noch für ihre Arbeit lebt. Ohne Nestwärme einer toleranten Familie, die Fremde abends bereitwillig für einige Stunden aufnimmt, bleibt somit nur wenig: für mich in der Regel der Trost der Natur, als ostfriesisches Nordlicht von unvergänglichen Bildern gezeichnet, die immer noch zuverlässig und tief durch meine Sinne fluten. Wie ich als Kind auf Dünen liegend in wolkenverzogene Himmel starre, bis die Augen leer sind; wie mir salzig-anbrandender Küstenwind genüsslich letzte Gedanken aus dem Schädel fegt; gebettet in Sand und Gras die Werke dieser Landschaft atmend, hin zum Horizont ohne Träger und Säule, bis sich jener eigentümlich nagende Hunger nach Selbstverlust, Selbstverlöschung in mir stillt. Heimweg im ängstlichen Blöken verwollener Schafe über Wiesen und Deich - bis ich glücklich bin.

Sie sehen schon: So hatte ich trotz oder wegen ostfriesischen Schietwetters in mir jene Liebe zur Natur herangezüchtet, für die schwärmerische Gemüter in jugendlichen Jahren nur allzu anfällig sind. Eine Liebe, deren stetig tröpfelndes Gift mich stetig weiter aus den Geselligkeiten und sozialen Konventionen meines Alters löste, bis ich mich eher in zerspülten und verwitterten Felsen am Wasser wiederfand. Kurz, diese in ihrer Verlassenheit immer noch wilde Landschaft mit ihrem düsteren, ziellos in den Wolken glimmendem Licht hatte in mir Bilder eines Paradieses gesät, für das ich fortan kämpfen wollte ohne sagen zu können, ob es Ur- oder Abbild in mir zu retten galt. Vorsprachliche Bilder allesamt, die neu zu entfachen mir seit Jahren zunehmend gewaltsamer erscheint, um den Preis eines in mitmenschlicher Hinsicht verödenden Lebens. Urlaube in Berghütten, um ohne Bücher und sonstige Worte im majestätischen Schweigen der Gipfel aufzugehen; Wandertouren mit quengelnder Familie und blasenübersäten Kinderfüßen; Segelfahrten inmitten sonnendurchgleißter Wellen und salzverkrusteter Lippen. Ein stetiges Anrennen gegen Windmühlenflügel vergifteter Natur, so scheint mir heute, schwülstig-schwärmerisch obendrein.

Als es Exfrau Jasmin schließlich zu beschwerlich fand, zog sie sich zusehends zurück in die ätherischen Gefilde entstofflichter Natur samt Federn und Regenmacherstab: von Morgenyoga zu innerer Einkehr, von Feng Shui zu meditativer Aurareinigung, von Veganismus zu spiritueller Bewusstseinstransformation, von Reinkarnationstherapie zu weisen Wassergeistern samt Rute und Pendel, sogar die familiär gesehen unheilvolle Makrobiotik gestreift, schamanistische Trommelkurse und kosmizistische Tarotkarten stets allgegenwärtig: Heilung, Jetzt statt Selbst, endlich eine eigene Variante gefunden in zunehmender Abgrenzung zu mir. Erwachen ist das Spüren der Stille im Raum, Ich hingegen höchster Ausdruck eines permanent Erfüllung suchenden Elementarteilchens in hyperaktiven Leistungsgesellschaften. Stets ihr emphatisches »Das ist aber SPIRITUELL!! «, beständig in hörbarem Kursivdruck, Großbuchstaben obligatorisch. Irgendwann jegliches Gespür dafür verloren, was dieses Wort vielleicht bedeuten mag, im inneren Diktionär abgespeichert als „idiotisch, jedoch positiv besetzt“: So macht Selbstverwirklichung Narren aus uns allen. Levi, der Sohn, vor uns beiden in ein Studium der BWL geflohen, dann selbständig mit Zeitarbeitsagentur, mit ihm büße ich für meine Sünden. Vielleicht auch eine späte Rache für den Namen, den Jasmin ohne Rücksicht auf historische Altlasten damals dickschädlig-dichterisch durchsetzte. Tochter Nadine hingegen selbstausbeuterisch tätig in einer Kinderklinik, fast eine Stunde Anfahrt, kaum zuhause und an Wochenenden angeblich zu erschöpft für Rückrufe, wer will es ihr verdenken.

Doch sollt´ es sein -- dass ewig jenes Träumen / fortwährte -- wie´s bei jugendlichen Schäumen / mir oft erschien --, schier Narrheit wär´s zu hoffen, / einst stünd´ mir ein noch höh´rer Himmel offen. Tja. Und während ich so die von mir beherrschte Ödnis überblicke, immerhin teuer und geschmackvoll, fällt mein Blick erneut auf diese Einladung zum Wellness-Wochenende, dem Evasapfel direkt neben meinen Schulbüchern. Oh, das sollte ich Ihnen wohl ebenfalls erklären: Es gibt ein sehr ausgefallenes Hobby, das ich mein Eigen nenne. Während andere Leute in ihrer Freizeit Sudokus lösen, blättere ich durch neu erschienene Schulbücher das Fachs Politik, was als Form des Zeitvertreibs wahrscheinlich auf Anhieb so unverständlich ist, dass ich sie doch ein wenig erläutern sollte.

Da gibt es zunächst einmal jene Stellen, die offenkundig zum Lachen gedacht. Zum Beispiel hier, ein Schulbuch Klasse 9, das zu einem der wichtigsten Aspekte sozialer Marktwirtschaft den Denkmalschutz erklärt: Auf so eine Idee muss man erst mal kommen, im Grunde ist das Kabarett pur. Dabei interessiert mich letztlich gar nicht, was auf der anschließenden Doppelseite zur historischen Entstehung dieser sozialen Marktwirtschaft alles verschwiegen und verdreht wird: dass die Deutschen etwa 1945 noch in wirklich großer Mehrheit die Planwirtschaft beibehalten wollten, die sie von Hitler her kannten und sich in ihren Augen bewährt hatte. Dass die USA dagegen waren, weil sie das befreite Deutschland als Absatzmarkt ihrer Produkte wollten und deshalb Ludwig Erhard ausgruben. Dass die immer noch weitgehend ungebrochene Erfolgsgeschichte der bis dahin unbedeutenden und sozialistisch ausgerichteten Christenpartei eben damit begann, dass amerikanische Unternehmensverbände diese Partei im Grunde aufkauften und Millionen in deren Wahlpropaganda steckten (die Geburtsstunde unserer „gemeinsamen Werte“, bei denen es sich offenbar um Investitionswerte handelt). Daraus hätte man zwar ein wunderbares Lehrstück darüber machen können, wie Geld und Propaganda Mehrheitswillen zurechtbiegen, aber natürlich ist das nicht Aufgabe dieser Doppelseite.

Interessant hingegen wird es für mich, wenn beim Lesen diese leichte Befremdung aufsteigt, dass etwas nicht stimmt, ohne es zunächst genauer benennen zu können. Wie etwa bei der irritierten Feststellung, dass „Soziale Marktwirtschaft“ eigentlich groß geschrieben werden sollte. Da muss man das Buch schon zur Seite legen, eine Zeitlang aus dem Fenster starren und in sich hineinhorchen, ehe man darauf kommt: Als simples Adjektiv, welches dieses Nomen beständig begleitet, wird damit natürlich suggeriert, dass Marktwirtschaft bereits an sich so sozial sei wie alles, was Arbeit schafft. Wenn ich auf derartige Dinge komme (und manchmal dauert es durchaus Tage), habe ich immer das befreiende Gefühl, mich aus meiner Ministeriumsblase mit ihren ganz eigenen Selbstverständlichkeiten und Sprachregelungen erfolgreich herausgewunden zu haben. Ein Kurzurlaub, der den Kopf wieder frei macht.

Außerdem hilft derartige Lektüre sehr dabei, Orientierung darüber zu gewinnen, was gegenwärtig anerkannte Meinung sein soll. Diese Dinge ändern sich nämlich leider häufiger, als man glaubt, und oft in sehr unvorhersehbarer Weise. Es gibt jedoch kaum etwas Unangenehmeres als eine Präsentation vor höchsten Entscheidungsträgern, bei der man anhand entsetzter Blicke feststellen muss, den momentan offiziellen Konsens eindeutig verfehlt, das Ohr ganz entschieden nicht am Puls der Zeit gehabt zu haben. Zeitungslektüre hilft hierbei schon sehr, doch Schulbuchlektüre erst macht klar, in welchem Ausmaß sich Grundlagen kontinentaldriftmäßig verschoben haben. Nehmen wir einfach mal diese Doppelseite darüber, wie Gewaltenteilung funktioniert, ebenfalls für Klasse 9.

Die Gewaltenteilung wird darin zunächst einmal ganz klassisch, aber abstrakt und weitgehend sinnfrei erläutert: Legislative – Exekutive – Judikative. Dann jedoch wird es kompliziert: Als Vierte Gewalt werden die Medien präsentiert, da sie die Regierung ebenfalls angeblich kontrollieren, als Fünfte Gewalt der Föderalismus. Dann werden unterschiedliche Formen der Gewaltenteilung vorgestellt, horizontale und vertikale, temporale, soziale, dezisive und konstitutionelle. Zu diesem Zeitpunkt geht sogar bei mir als geübtem Leser bereits alles durcheinander. Genau deshalb folgen wohl Übungsaufgaben, bei denen man anhand endlich konkreter Beispiele erklären soll, welche Form der Gewaltenteilung jeweils vorliege. Gleich erstes Beispiel ist jedoch ein Polizist (Exekutive), der ein Bußgeld verhängt. Damit ist die Verwirrung endgültig komplett, denn natürlich haben Polizisten bei derartigen Dingen einen gewissen Ermessensspielraum, der eigentlich Kennzeichen der Judikative ist und nur aus praktischen Gründen ausgelagert wurde, eigentlich also ein Beispiel für aufgegebene Gewaltenteilung. Die weiteren Aufgaben sind von ähnlicher Qualität, so dass letztendlich nur bleibt, alle unterschiedlichen Formen auswendig zu lernen und zu hoffen, dass die Zuordnung in der Klassenarbeit doch leichter fällt. Und natürlich bleibt ebenfalls, dass Deutschland so viel Gewaltenteilung hat, dass da niemand mehr durchsteigt.

Dabei ist die Sache im Grunde ganz einfach: Das Prinzip der Gewaltenteilung geht ursprünglich auf John Locke zurück und wurde in der bis vor kurzem noch gängigen Dreiteilung Legislative – Exekutive – Judikative von Montesquieu ausgearbeitet. Es soll verhindern, dass eine Regierung so viel Macht erhält, dass sie nicht mehr vom Volk zu kontrollieren ist. Montesquieu hält dabei zwei Punkte für entscheidend: 1) Gesetze werden nicht von der Regierung erlassen, sondern vom Parlament als gewählter Volksvertretung, die Regierung setzt sie lediglich um und wird dabei vom Parlament kontrolliert, demgegenüber sie rechenschaftspflichtig ist. 2) Die Judikative kontrolliert, ob Gesetze und Umsetzung verfassungskonform sind, denn die Verfassung wird als ursprünglich vom Volk stammend angenommen.

Formuliert man das Ganze jedoch derart, wird sofort offensichtlich, dass es in Deutschland mehr oder weniger keinerlei Gewaltenteilung gibt. Gehen wir das Ganze von hinten nach vorne durch: Unsere Verfassung halte ich persönlich, wie es sich für einen Staatsbeamten gehört, für überwiegend sehr gut, jedoch äußerst lückenhaft. Über bestimmte und eigentlich unverzichtbare Punkte wie etwa Gesetzesvorgaben zur Absicherung innerparteilicher Demokratie konnte man sich damals aufgrund massiver Interessenskonflikte nicht einigen, daher ließ man sie einfach weg. Ergebnis ist, dass Parteiführungen heute im Grunde machen können, was sie wollen, allen Unzufriedenen legt man den Wechsel zu einer anderen Partei nahe, für deren Gründung es etliche Millionen sowie eine möglichst neutral berichtende Presse bräuchte. Trotzdem könnte sich das Bundesverfassungsgericht noch auf die verabschiedeten Teile unserer Verfassung beziehen und Parlament und Regierung auf deren Einhaltung hin verpflichten. Dummer Weise jedoch werden die Posten im Bundesverfassungsgericht hierzulande nicht wie anderenorts ausgeschrieben und in öffentlichen Anhörungen besetzt, sondern von einem kleinen Kreis von Bundestagsmitgliedern (meiner Kenntnis nach vier Personen) gemäß eigenem Gutdünken vergeben. Diese Auswahl sorgt dafür, dass das Bundesverfassungsgericht üblicher Weise erst dort milde tadelnd einschreitet, wo Zustände bereits als unhaltbar öffentlich wurden, insbesondere und vor allem im Bereich der Sozialpolitik.

Viel schwerer wiegt jedoch, dass Legislative und Exekutive in Deutschland nicht wirklich getrennt sind. Ein Gesetzesvorschlag lässt sich nicht mal eben so herunterschreiben: Man braucht dafür Experten, die einerseits unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sowie die bislang gängige Rechtsauslegung einschätzen können, und andererseits dafür sorgen, dass dieses Gesetz nicht mit gleich- oder höherwertigen Gesetzen kollidiert. Eben diese Experten sitzen an drei Orten: in den Ministerien, „der Wirtschaft“ und den Sozialverbänden. Die Sozialverbände jedoch ersticken mittlerweile derart in Arbeit, dass sie nicht nebenbei auch noch umfassendere Gesetzesvorschläge ausarbeiten können. Fertige Gesetzesvorschläge von „der Wirtschaft“ zu übernehmen, ist für Oppositionsparteien nicht ratsam, da hat man oft unangenehme Überraschungen erlebt. Also kommen die allermeisten Gesetzesvorschläge eben aus Ministerien, d.h. von unserer Regierung: Sobald eine Partei die Regierungsgewalt erringt und somit Zugang zum Expertenwissen erlangt, will sie ihre Zeit nutzen und so viele Gesetze wie möglich machen. Was, nebenbei bemerkt, dazu führt, dass Richter angesichts dieses unablässigen Gesetzesoutputs zunehmend hoffnungslos überfordert sind.

Nun gut, wird man sagen, auch wenn die Gesetzesinitiative damit in erster Linie bei unserer Regierung liegt, letztlich ist es doch das Parlament, das über sie abstimmt? Ja, natürlich. Und damit könnte man sich auch zufrieden geben, wenn man die Legislative auf ein einfaches „Ja“, „Nein“ oder „Ja mit kleinen Änderungen“ reduzieren will, was nicht Sinn der Sache ist, schließlich soll sie im Unterschied zur Regierung den Kontakt zum Volke halten (welch frommer Wunsch ohne innerparteiliche Demokratie!) und dessen Willen in Gesetzesform bringen. Dass eine Regierung dafür keine Zeit und kein Interesse mehr hat, versteht sich vermutlich von selbst, aber über den privilegierten Zugang zu Experten den Volkswillen als eigentliche Gesetzesquelle fast gänzlich auszuschalten, ist schon ein starkes Stück.

Noch schlimmer wird das Ganze dadurch, dass unsere Regierung mit im Bundestag sitzt und Regierungsmitglieder sogar Posten in der Fraktionsführung übernehmen. Diese Fraktionsführung nämlich, sozusagen die Ersten Vorsitzenden, regelt, welcher Abgeordneter sich zu welchem Thema wie lange äußern darf (wenn überhaupt) und legt zudem fest, wie die Fraktion in mehr als 99% aller Fälle geschlossen abzustimmen hat. Dadurch verhindert man erst einmal zuverlässig, dass die Regierung im Bundestag von ihrer eigenen Partei kritisiert wird: Genau das aber wäre wichtig, damit Nachwuchspolitiker sich dort profilieren könnten und die Partei überhaupt irgendeine Kontrolle über ihre Mitglieder in der Regierung behielte. Und da die Regierungspartei normaler Weise die Mehrheit im Bundestag innehat, wird sie im Grunde seit 1961 dank Fraktionszwang jedes von ihr gewünschte Gesetz durchbringen. Erst wenn ein Gesetz auch Bundesländer berührt und damit im Bundesrat zustimmungspflichtig wird, muss die Regierung ihre nächste Trumpfkarte ausspielen, die Budgetkontrolle, um sich die nötigen Stimmen damit gegebenenfalls zu kaufen (meistens in Vermittlung über das dafür gegründete Verkehrsministerium). Problematisch sind lediglich Gesetze, die eine Zweidrittelmehrheit brauchen, weil sie offenkundig nicht mit unserer Verfassung vereinbar sind, statt diese lediglich einzuschränken.

Kurzum: In Deutschland sind Parlament und Bundesverfassungsgericht so weitgehend entmachtet, dass sich zwar formal noch von unterschiedlichen Zuständigkeiten sprechen lässt, der eigentliche Zweck der Gewaltenteilung jedoch fast vollständig verfehlt wird. Das sieht man auch regelmäßig in diesen Umfragen, wie viel Prozent der Bundesbürger unserer Regierung noch trauen: In einer funktionierenden Demokratie wäre diese Frage vollkommen irrelevant, wichtig wäre die nach dem Vertrauen zum Parlament und nicht zum ausführenden Organ. Genau deshalb gestaltet man diese Sache in Schulbüchern auch so kompliziert wie möglich: Sie soll besser nicht auffallen. Für mich persönlich bedeutet das einerseits, dass ich mir z.B. bei Gesetzesvorschlägen überhaupt keine Gedanken darüber machen muss, ob die Opposition im Bundestag zustimmen oder sich verweigern wird. Andererseits sollte ich natürlich bei der Präsentation immer wieder brav Formulierungen wie „vorbehaltlich der Zustimmung im Parlament“ einstreuen, um den guten Ton zu wahren. Wirklich achten muss ich nur darauf, dass nichts offensichtlich in direktem Gegensatz zur Verfassung steht, die seit 2002 durchaus Passagen zu Umwelt- und Tierschutz enthält. Aber das ist nicht sonderlich schwer: Soll etwa ein Naturschutzgebiet zum Windpark werden, reicht häufig ein Verweis auf vorzunehmende „artgerechte Umsiedlung“ – Die Richter in Karlsruhe werden dieses Schlupfloch dankbar nutzen. Manchmal, wenn ich mich wegen solcher Dinge besonders schlecht fühle, hilft mir ein Blick in Schulbücher: Genau so wird es gewollt, sage ich mir dann, das gehört zum System. Und schon wird meine Angst geringer, dass Leute auf der Straße mit dem Finger auf mich zeigen.

Aber entschuldigen Sie bitte, ich habe mich offenbar im Reden über mein Steckenpferd vergaloppiert, hier in meinem Refugium neige ich halt dazu, mich im Sinnieren zu verlieren. Eigentlich, falls Sie jetzt noch wach sind, wollte ich etwas zu dieser Einladung fürs Wellness-Wochenende sagen, die mir die Backhus gab und die neben meinen Schulbüchern liegt, so nah wie themendifferent. Diese Einladung auf jeden Fall ist es, von der es mir in Rot entgegenspringt: exklusiv, Anmeldung erforderlich. Wie irritierend, dieses leise Prickeln an der Kopfhaut hinten schon beim bloßen Anblick, offenbar ein Musenkuss. Da bin ich derart weit aufgestiegen, und doch lässt es mir auch in dieser dünnen Luft kaum Ruhe: zum Zentrum des Labyrinths vorzudringen, endlich jemanden zu treffen, dem ich lauthals zurufen kann: Du bist schuld! Nicht bloß dieses ewige Klein-Klein, Selbstsucht, begrenzter Tellerrand, Ethik und Empathie ungegossen. Schließlich muss es Leute geben, die diese Zustände planen, absichtlich und wissentlich, so dass sie das grelle Etikett „böse“ zu tragen durchaus würdig wären. Ich weiß, es ist naiv, gen Spitze nimmt der Tunnelblick stets zu: Und doch wüten dort Vorstellungen gerechten Zorns in mir, die nach einem Ziel verlangen, fordert betrogenes Leben nach einem Opfer. Tatsächlich, wie zuvor im Krankenhaus geraten abermals Dinge in Bewegung, als ich aufstehe und blind entschlossen zum schnurlosen Telefon hinübergehe, jahrzehntelang aufgehäufte Sedimentablagerungen aus Gewöhnung, Routine und Sinnlosigkeit geraten ins Rutschen. Ist´s Lebendigkeit, ist´s Dummheit, wer kann das schon auseinanderhalten.

Sicherheitshalber ohne weiteres Nachdenken tippe ich die zwölfstellige Nummer ein. Was mich erwartet: eine Musikschleife mit If I had a hammer vielleicht? Nein, tatsächlich bloß Hantiergeräusche. Nicht einmal ein Klingeln: Als würde sich jemand mit Hörer in der Hand heftig bewegen, mit Kleidung rascheln, ein Drehstuhl quietscht, antike Telefonschnur knackt. Irritiert fällt mir auf, dass es auch zuvor kein Freizeichen gab, Leitung irgendwie belegt. Dann wird das Herumhantieren von gedämpften Stimmen abgelöst: »Cʼmon, you must be joking!« - »No man, couldnʼt believe it myself! All these really, really rich people and they behave like mad men!« - Natürlich! Durch meinen vorübergehenden Aufstieg bin ich von der automatisierten Telefonüberwachung zur personalisierten gewechselt. Kurz räuspere ich mich daher, äußere sodann laut und vernehmlich: »Ich kann sie hören.«

Betroffenes Schweigen für einen Moment - »Sorry«, sagt schließlich jemand und es klickt in der Verbindung, Freizeichen jetzt. Wie kurz und glatt dieses Wort doch von anglikanischer Zunge geht, zum dutzendfachen Gebrauch täglich prädestiniert. Müde seufze ich und drücke die Wiederwahltaste: Wahrscheinlich muss man sich freuen, wenn es nur die NSA ist und nicht auch noch der BND. Aber vielleicht sind die Kollegen dort auch schlicht stiller weil eingeschlafen.

»Willkommen beim Buchungsservice der PrimAct AG – der Schnittstelle für Integration und Kommunikation. Wir bringen Politik und Wirtschaft zusammen«, säuselt eine professionelle Frauenstimme, offenbar eine Bandansage. »Möchten Sie an einem unserer Wellness-Wochenenden teilnehmen? Dann nennen Sie bitte Ihren persönlichen Gutscheincode. Sie finden ihn unten links auf Ihrer persönlichen Einladung.« Endlich begreife ich, dass ein vollautomatisierter Telefonservice natürlich die Hemmschwelle für Neukunden senkt: Niemand muss einem realen Menschen in möglichst wohlgesetzten Worten darlegen, dass er Interesse an Vergünstigungen hat, die bei niederen Beamten unter Bestechung fallen. Gibt einem auch wieder das beruhigende Gefühl, letztlich nur dasselbe zu tun wie alle.

Sobald ich den Code vollständig vorgelesen habe, klickt die Weiterschaltung: »Nennen Sie nun den Termin, an dem Sie eines unserer Wellness-Wochenenden besuchen möchten. Beachten Sie dabei bitte, dass unser Serviceangebot samstags um 13.00 Uhr beginnt und sonntags um 14.30 endet. Leider können Sie zu unseren Veranstaltungen niemanden mitbringen, sie stehen ausschließlich verdienten Mitarbeitern des Parlaments und der Regierung offen. Im Interesse angeregter Gespräche werden je nach Zusammensetzung der Teilnehmergruppe jedoch Vertreter der Wirtschaft hinzugeladen. Bitte nennen Sie jetzt Ihren Wunschtermin.« Blicke mich noch einmal kurz in meiner Wüstenei um. Dann nenne ich das kommende Wochenende, Herz schweig stille.

»Anhand Ihres personalisierten Gutscheincodes werden wir Ihnen morgen eine Bestätigung Ihrer Buchung zukommen lassen. Die Kosten Ihrer An- und Abreise werden natürlich von uns übernommen. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse an unserem Angebot und wünschen Ihnen schon jetzt eine entspannende und erholsame Zeit: Sie haben es sich verdient.«

Damit wird die Verbindung, wiederum vollautomatisch, getrennt und lässt mich heillos aufgewühlt zurück.

Die Banalen und die Bösen

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