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1 - Eine Bedrohung der inneren Sicherheit

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Kennen Sie das Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit in Berlin, Stresemannstraße 128? Keine Angst, das Gebäude selbst ist weit weniger zusammengewürfelt als sein Name. Im Gegenteil zeigt es einen beeindruckenden und alles zusammenhaltenden Willen zu gemeinsamer Gestaltung, durchaus durchdacht und vielleicht sogar tiefschürfend. Als sechsstöckiges Eckhaus mit glatter Sandsteinfassade in etwas, das ich als gedämpftes Beige zu bezeichnen mir angewöhnt habe, erinnert es schnell und eher ungut an eine Zitadelle: Ein Eindruck, der sich durch asymmetrisch tief eingelassene Schießscharten schmal-langgezogener Fenster und einen ummantelten Erker ganz oben, der trefflichst für ein Ausgießen siedenden Öls geeignet wäre, ungemein festigt. Tatsächlich sind diese Fenster so schmal, dass, wenn auch der schmalste unserer Mitarbeiter sich von innen davorstellte, nur der mittlere Ausschnitt seines Torsos zu sehen wäre.

Realiter bleibt jedoch selbst dieser reduzierte Anblick jeglich neugierigem Blick Auswärtiger entzogen, da man die Scheiben komplett verspiegelte. Das führt zu einem hübschen Effekt: Steht man unten vorm Gebäude, sind sämtliche Schießscharten erfüllt vom Himmel über Berlin in seinem wolkigen Grau oder Braun, gelegentlich gar Blau – sämtlich also Farben, die dem gedämpften Beige aufs Vortrefflichste kontrastieren. Man gewinnt so den Eindruck einer Trutzburg inmitten städtisch-verbauter Landschaft, hinter deren Fassade die Natur selbst souverän herrscht und majestätisch ihr Antlitz zeigt. Sehr hübsch für ein Umweltministerium, wirklich. Für diesen Effekt hat man gerne einen begrenzteren Lichteinfall der straßwärts gelegenen Büros in Kauf genommen.

Wichtigere Mitarbeiter hingegen residieren abgewandt vom Rest der Bevölkerung weiter innen, ihre Büros geballt um einen großzügig gestalteten Lichthof in Gebäudemitte. Hier ist von Natur deutlich weniger zu spüren: Über den spiegelnd-graugefleckten Marmor des Bodens zieht einzig das diffuse Schattenspiel der Wolken jenseits des überdachenden Glases, witterungs- und klimafrei sogar für Allergiker geeignet. Dank dieser mangelnden Witterungseinflüsse sind hier die deutlich mehr Licht aufnehmenden Fenster verspielt in hellem Holz gehalten, das in Verbindung mit dem strahlend-weiß stuckierten Außenputz recht deutlich Erinnerungen an helle, freundliche Ferienanlagen evoziert. Hell, heiter und klar – so soll hier gearbeitet, ja: gelebt werden.

Geht man im sechsten Stock den säulengesäumten Rundgang um diesen Lichthof entlang, so ist es fast atemberaubend, wie wenig die Mehrfachverglasung des Dachs vom alltäglichen Lärm Berlins sowie der derzeit waltenden Hitzewelle durchlässt: eine Oase der Stille, einzig durchbrochen vom gelegentlichen Trippeln geschäftiger Ledersohlen auf Marmor, ab und zu aufgeraut vom Rauschen eines einzelnen Flugzeugs als Zeugen der fortwährenden Existenz einer Außenwelt. Wahrlich, vergleichbare Architektur schuf man nur einst in der Antike, um jeden Besucher sogleich auf Größe und Majestät jener Götter einzustimmen, die verloren in ihren mystischen und unfassbaren Gedanken im Inneren der Tempel warteten.

Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Ich gehe, ja: durchschreite diesen prunkvollen Säulengang (ministeriumsintern als „Canossagang“ bezeichnet) auf dem Weg hin zu meiner Ministerin, deren dringender Ruf mich sogar in den Untiefen der dritten Etage noch ereilte. Und meiner Erfahrung nach kann sie es an Orakelhaftigkeit durchaus mit einstigen Göttern aufnehmen.

Doch ich möchte mich nicht beklagen, so etwas setzt sich schnell als Berufsgewohnheit fest. Alles in allem gefällt es mir gut hier im neuen Gebäude, dem ersten niedrigenergetischen Passivhaus einer Bundesbehörde, flammendem Wahrzeichen ökologischerer Zukunft. 2011 zog meine Abteilung, die Abteilung Z, vom Hauptgebäude in Bonn aus nach Berlin: Die Zentralabteilung ist nämlich stets an der Seite des jeweils amtierenden Ministers, um als verlängerter Arm und Kommandostand fungieren zu können. Und die Minister ihrerseits müssen nach Berlin, ins pulsierende Herz unserer Demokratie, um sich so gut wie möglich in Fäden und Kontakte zu verstricken. Denn Ministeriumsarbeit ist heutzutage diffizil geworden: keine reine Verwaltungstätigkeit mehr, weltabgewandt dank Aktenkontakt, sondern gestaltend, wie es so schön heißt. Es gilt, Interessen und Wünsche einflussreichster Akteure mitunter zu erahnen, ehe diese selbst sie artikulieren und vielleicht knirschender Sand reibungslose Zusammenarbeit beeinträchtigt. Eine Tätigkeit, die viel mit Intuition und augurenhafter Deutung insignifikantester Zeichen zu tun hat, mit einem Wort: Politik eben. So gesehen gleicht die Ministerin bei Licht besehen vielleicht doch eher einer Oberpriesterin, beschäftigt mit ihrer Interpretation erratischer Omen und stetig am Spinnen roter Fäden, ihr inneres Ohr berauschend auf höhere Sphären ausgerichtet. Dabei stets begleitet und unaufdringlich geleitet von mir, der ich mit Hilfe meiner Abteilung ihren schlingernden Kurs in die Bahnen von Recht- und Gesetzmäßigkeit zurückzuholen versuche – eine zunehmend schwierigere Aufgabe, leider.

Trotz allem: Dieser Umzug nach Berlin war eine gute Sache! Allein schon der Umstand, dass das Ministerium für Reaktorsicherheit in Bonn über einen eigenen Atombunker verfügte, durchsetzte die Arbeitsmoral unentwegt mit geschmacklosesten Witzen. Hier in Berlin hingegen heißt es klar: mitgefangen, mitgehangen. So etwas wirkt sich förderlich auf Mitarbeitermotivation aus, meine ich.

Ach ja, das habe ich vergessen: Immer wieder trifft man Zeitgenossen, deren Haltung ich nicht anders denn als "politische Naivität" bezeichnen kann. Allen Fakten und Nachrichten zum Trotz wollen sie am Glauben festhalten, dass wir, notfalls auch gänzlich ohne demokratische Kontrollmechanismen, mehrheitlich doch von guten und verantwortungsvollen Menschen regiert werden. Dieser anheimelnde Wunsch erscheint mir häufig als weitgehend bruchlose Fortsetzung kindlicher Schutzbedürfnisse, wie sie zuerst an Eltern und später dann, sofern irgend möglich, an Lehrer herangetragen werden. Vielleicht nur eine säkulare Variante frommen Götterglaubens, der Quelle nach vermutlich verwandt. Falls auch Sie zu diesem Menschenschlag gehören, sollten Sie hier nicht weiterlesen. Eine Lektüre meines Berichts hat Ihnen nichts zu bieten und die Gefahr ist groß, dass Sie sich unentwegt diffus angegriffen fühlen. Wohlgemerkt also: Dieser Bericht ist nicht für Sie, ade. Mit den Worten des alten Politbarden Franz Josef Degenhardt bleibt mir nur zu wünschen, dass es Ihnen auch weiterhin gut ergehen mag hinter Ihrer von Jahr zu Jahr höher wachsenden Rosenhecke im hoffentlich abbezahlten Eigenheim, während sie die politischen Veränderungen ringsum einer sinnlosen Naturkatastrophe gleich schicksalsergeben ertragen. Vielleicht ist diese Haltung für das Gemüt sogar die beste. Ja, derart Zaghaftigkeit trennt uns heute von den pathetischen Worten Ferdinand Lassalles, dass alle große politische Aktion im Aussprechen dessen, was ist, beginne, wohingegen alle politische Kleingeisterei in dessen Verschweigen bestehe.

Alle, für die eine solche Idylle gegenwärtig jedoch schwer zu ertragen ist, lade ich hingegen ein, mir zu folgen. Denn mittlerweile stehe ich vor der Tür meiner Ministerin und nach üblich-dezentem Geklopfe trete ich umstandslos ein, schließlich werde ich erwartet. Alles im Büro dieser Ministerin signalisiert kraft Gestaltung: Hier ist einer jener Orte, von denen aus die Welt regiert wird! Gute zehn Meter muss der eintretende Büßer zurücklegen, ehe er vor ihrem hehren Schreibtisch anlangt. Zehn Meter über hochflorigen Teppich, der jegliches Schrittgeräusch schluckt und einen akustisch bereits auf ein Nichts reduziert. Rechter Hand dabei die Glasfront, von der aus die Ministerin ihr Panopticon von Bienenstock überschauen kann, die Fenster aller leitenden Angestellten im Blick, tief unten der todbringende Marmorboden für besonders schlechte Tage. Linker Hand die glatte Wandtäfelung aus poliertem Marmor im gedämpften Beige der Außenfassade, in der sich aufgereihte Halogenlichter unzähliger Deckenlampen ebenso spiegeln wie in der gegenüberliegenden Fensterfront, so dass sie sich im wechselseitigen Spiegelspiel bis ins Unendliche fortzusetzen scheinen. Jetzt am frühen Nachmittag ist der Effekt jedoch nicht so atemberaubend, da hier, derart nahe am himmlischen Glasdach des Lichthofs, noch genügend natürliches Sonnenlicht den Raum, besser: die Halle flutet. Dafür bricht es sich auf der gläsernen Schreibtischplatte der Ministerin, strahlt ihr Gesicht von unten her an und verleiht ihrer weiß-blonden Mähne die unaufdringliche Güldenheit einer Aureole.

Erst als ich direkt vor ihrem Schreibtisch stehe, fällt mir auf, dass die Ministerin heute schrecklich aussieht, schrecklicher als sonst. Diesmal liegt es nicht an ihren Haaren: Die ihren Kopf um mehr als das Doppelte vergrößernde Haarpracht ist perfekt geföhnt und bewegt sich auch, als sie ruckhaft von ihren Unterlagen kurz zu mir aufblickt, nur eben dort, wo sie Stylistenvorstellungen entsprechend sollte, überwiegend brettartige Konsistenz also. Dann senkt sie ihr sorgenumwirrtes Haupt vorerst wieder und blättert scheinbar konzentriert durch Papiere vor ihr, lässt mich zurück mit diesem vagen Eindruck, dass heute etwas mit ihr nicht stimmt.

Dieses Spiel bin ich gewohnt: An guten Tagen (für sie) darf ich bis zu zehn Minuten stehend vor ihrem Schreibtisch warten, während sie die Hackordnung zementiert. Man muss das verstehen: Die Backhus war bis vor sechs Monaten nur Verkehrsministerin gewesen, dem Hörensagen nach ein Posten für jene, die zwar Wahlstimmen einbringen, denen man jedoch echte Verantwortung besser nicht zu übertragen gedenkt. Das Umweltressort hingegen ist nun für sie ein deutlicher Schritt nach vorn, ihre eigentliche Bewährungsprobe, wobei sie inhaltlich mit diesem schwer fassbaren, fast nicht einzugrenzendem Gebiet noch nie zu tun hatte. Umso wichtiger ist daher für manche ein starkes Auftreten gerade gegenüber jenen Mitarbeitern, die sich besser auskennen und auf die man zwingend angewiesen ist. Glauben Sie mir, ich habe viele Minister und in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch Ministerinnen kommen und gehen gesehen, ich weiß derlei einzuordnen.

Grundsätzlich gehört die Backhus ohnehin nicht zu jenem Typ, der Mitarbeiterkontakte pflegt und einen gewissen Wohlfühlfaktor am Arbeitsplatz wertzuschätzen weiß. Sobald sie ernannt worden war, habe ich mir ihren Lebenslauf angesehen: Abgebrochenes Studium der Volkswirtschaft (Versuch, in Vaters Fußstapfen zu treten), nach elf Jahren Studium (keine Nebenjobs, alles von Papa finanziert) schließlich Abschluss in Medizin (Großvaters Fußstapfen), mit Ach und Krach bestanden. Dann Ausbildung zur Fachärztin abgebrochen, kann sich also nicht mit eigener Arztpraxis selbständig machen, also zurück an die Uni und Promotion. Danach drei Jahre Mutterschaft mit der Reihe nach drei Kindern, zog deshalb zurück zum Vater und dessen Kindermädchen. Armer Ehemann! Vater nennt sie immer noch »Röschen«, vielleicht wegen ihrer Stacheln, sie ihn »Papa«. Neue Versuche, als angestellte Ärztin Fuß zu fassen, scheiterten radikal, deshalb weitere Kinder. Bis hierhin ewige Tochter, Studentin und Mutter nebenher, gescheitert im Arbeitsleben, dafür wissenschaftliches Interesse immerhin.

Letzteres jedoch wohl auch eher Wunschdenken (oder Flucht vor allgegenwärtiger Familie), letztes Jahr wurde ihre Doktorarbeit als Plagiat entlarvt. Ein Gutachter: »eindeutiges Plagiat«, ein anderer sogar: »grobes Schlampen«, an der Uni München wird ihre Promotion Studierenden inzwischen als Negativbeispiel dafür präsentiert, wie Doktorarbeiten auf keinen Fall auszusehen haben (Das glauben Sie mir nicht? Schlagen Sie es nach!). Die Hochschule Hannover jedoch erkennt den Doktortitel nicht ab, da nur ein »mittelschwerer« Fall von Plagiat vorliege. Trotz erfundener Quellen und etlicher durch copy & paste aus anderen Werken zusammengeschusterter Seiten sei »kein durch Täuschungsabsicht geleitetes Fehlverhalten« gegeben. Halt das übliche Problem: Lässt man Leute erst Karriere machen, wird es für alle peinlich, Titel wieder abzuerkennen. Ob die beste Lösung aber wirklich darin besteht, Leute für zu dumm zum Schummeln zu erklären?

Schließlich brachte wiederum der Vater, früherer Ministerpräsident, die Backhus in einem Landesfachausschuss unter und hievte sie letztlich auf Landtagswahllisten. Erst Schwierigkeiten, üble Gerüchte über den Sieg in einer Kampfabstimmung dank Wahlfälschung. Dann kometenhafter Aufstieg, jedoch immer begleitet vom bösen Verdacht, als eine der bislang ganz wenigen Frauen dieser Partei unverdient nach oben gekommen zu sein, Frauenquote und so weiter. Hartes Brot, würde bei mir wohl ebenfalls eine gewisse Unnahbarkeit nach sich ziehen. Den ganzen Weg über immer flankiert von einem bestimmten BILD-Redakteur, der sie zum Herzschmerz-Adel der deutschen Volksseele erhob (»Trotz ihres Erfolges ist auch sie manchmal einsam«) und vielleicht deshalb später zu ihrem Pressesprecher wurde. Mit Eintritt in die große Politik natürlich alles nicht mehr nachvollziehbar, Intransparenz ohne Ende. Als Verkehrsministerin zumindest gingen ihr offenbar 1,6 Milliarden Euro »verloren«, immer wieder undurchsichtige Lobby-Kungeleien. Insgesamt aber eigentlich ganz sympathisch in ihrer Lebensuntauglichkeit unter harter Schale.

Problem aber natürlich der Charakter: Behauptet in Interviews immer noch, nicht als Ärztin selbständig geworden zu sein »wegen der Kinder« (über die sie in anderen Interviews spricht, als wären es Kapitalinvestitionen, »gewinnbringende Zukunft«), lässt sich gerne als »promovierte Gynäkologin« bezeichnen. Ei der Daus, da hat´s aber jemand nötig: diesen ganzen Kram mit eigenen Füßen und Aus-dem-Schatten-des-Vaters-Heraustreten. Oder dessen Ansprüchen gerecht zu werden, je nachdem. Spielt gerne die Karte Frau-in-männlicher-Politikwelt aus und erklärt sich zum Opfer patriarchalischer Intrigen. Fordert eine Emanzipation der Männer, zwei Bücher dazu geschrieben (dem Vater gewidmet?). Auf peinliche Fragen wird grundsätzlich nicht geantwortet weil »diskriminierend«. Erklärt andererseits geringeres Einkommen von Frauen als »biologisch bedingt« - immer so, wie´s passt. Besonders schön ein Interview: Gleichberechtigung sei erreicht, »wenn durchschnittliche Frauen in Führungspositionen sind«, zumindest rudimentäre Selbsterkenntnis also vorhanden.

Kennt man so einen Hintergrund, versteht man Vieles besser. Für mich persönlich kam dabei erstmal heraus, dass die Backhus kein geregeltes Arbeitsleben gewohnt ist, Erwartungen an kollegiale Einstellung also schon im Vorfeld gedämpft. Ist auch tatsächlich so: Sitzt von morgens bis abends hier mit einer andauernden Fokussiertheit, die ich mir nur als Ausdruck innerer Wut erklären kann. Verlangt sich 120% ab (und allen anderen auch), zerbricht regelmäßig daran und meldet sich anschließend eine Woche krank. Will sich und der Restwelt beweisen, dass sie das hier kann, und zwar am besten besser als die Besten. »Tough«, finden viele, »beratungsresistent« die anderen, allgemein aber ist unser Ministerium Kummer gewöhnt. In einer Verwaltungsbehörde sind die gewählten Volksvertreter schließlich immer die größte Schwachstelle, sozusagen der Hemmschuh effizienter Bürokratie. Die neue Chefin immerhin lässt uns bislang in Ruhe arbeiten, statt mit einer Umstrukturierung nach der nächsten anzukommen und zentrale Positionen fachfremd zu besetzen. Himmel, sie hat ja sogar mich wieder aus der Abstellkammer geholt und in Betrieb genommen! Manchmal jedoch, in ganz kurzen Momenten, wenn das Hamsterrad zum Stehen kommt, sieht sie müde und recht traurig aus. Ist es das? Lag das auch soeben in ihrem Blick, als sie kurz zu mir aufsah?

Montagvormittag immerhin. Vielleicht hat der Ehrgeiz ihr auch am Wochenende kein Privatleben gelassen. Ja, das Gesicht wirkt eindeutig abgespannt, verkniffener als letzte Woche. Die Halogenlampen spiegeln sich stärker als sonst auf ihrer Haut, Schminke heute wohl mit dem Spachtel aufgetragen als zusätzlichen Rüstungsschutz. Wirkt sie deshalb so leblos? Aber nein, Adern zeichnen sich trotzdem noch violett ab, unkaschiert muss es wie eine akute Blutvergiftung aussehen. Was also hat sie bloß? Liegen ihre Augen vielleicht tiefer als sonst?

Endlich ist die Backhus fertig, schaut wieder auf und schaltet um zu diesem beunruhigenden Grienen, das man von Wahlplakaten und Werbespots für keimfreies Wohnen kennt, strahlend weiße Zähne wie aneinandergereihte Grabsteine. »Ah, Müller, da sind Sie ja. Setzen Sie sich doch.« Natürlich, als hättest du mich vorher nicht bemerkt. Bis dahin also: die Ministerin privat, unbeobachtet, offizielle Version, immerhin nur knapp über fünf Minuten heute. Jetzt endlich Platz genommen in einem der weichen Besprechungsstühle, Auftakt zum Hauptfilm. Wie weit sich ihr Zahnfleisch inzwischen durch aggressive Weißmacher bereits zurückgezogen hat, ein Viertel ihres Grienens schon Rosa! Oder liegt es daran, dass sie die Zähne so bleckt?

»Vielleicht interessiert es Sie, dass die Kanzlei Münkler & Koch unseren Gesetzesvorschlag für die neue Energiegewinnungssteuer geprüft hat. Ich habe hier jetzt das Gutachten. Bedauerlicher Weise sind sie zu dem Schluss gekommen, dass der Vorschlag so ziemlich allen EU-Gesetzen zur Förderung regenerativer Energien widerspricht«, seufzt sie müde. »Also werden wir das wohl nicht durchkriegen.« Werfe über Kopf einen Blick auf das Siegel der Anwaltskanzlei, siehe da: tatsächlich Münkler & Koch, die Interessensvertretung der Großen der Atomindustrie. Als ich letztes Mal eine Rechnung von denen für ähnliche Expertise sah, war ich mir sicher, dass jemand das Komma falsch gesetzt haben musste. Warum zeigt sie es mir? Mich mit der Nase darauf stoßen, dass sie solche Informationen lieber von Externen einholt statt aus unserer Abteilung? Soll sie doch: Mal sehen, wie lange ihr Budget das noch hergibt.

»Wir werden die privaten Haushalte also zukünftig nicht mit einer Abgabe für Windräder belasten können?«, frage ich mit geheucheltem Interesse und setze nach: »Reduzieren wir dann die Freibeträge für Unternehmen?« Durch solche kleinen Vorstöße lässt sich wunderbar austesten, wie weit die neue Chefin schon in ihr Amt hineingewachsen ist. Immerhin gab es in letzter Zeit verstärkte Proteste, da die Energiewende über die Stromsteuer verbrauchs- statt einkommensabhängig finanziert wird und damit vor allem an Geringverdienern hängenbleibt. Zwar ist inzwischen längst nicht mehr klar, in welche Richtung diese „Wende“ letztlich führen wird: Der Anteil regenerativer Energien (ohne Strom aus Biomasse) stagniert schon lange bei unter 20%, jedes Jahr jedoch braucht diese Wende dennoch mehr Geld. Backhus´ Vorgänger z.B. hat in seinem letzten Amtsjahr final beschlossen, dass durch sie auch die Entsorgung der Atommüll-Altlasten finanziert werden müsse, sozusagen eine nachträgliche Steuer auf früher verbrauchten Atomstrom. Das brachte ihm die Beförderung zum Minister für Wirtschaft und Technologie ein, während sich nun andererseits Meldungen über Hartz-IV-Empfänger häufen, die ihren Strom nicht zu zahlen vermögen.

Die Backhus starrt mich einen Moment entgeistert an, heute ist sie wohl nicht so recht auf Posten. Kurz gestatte ich mir, diesen entsetzten Blick zu genießen, noch einmal ein wenig jung und idealistisch gefühlt, grinse dann breit: Hey, hier in der Behörde machen wir solche Scherze, ab und zu zumindest. Keine Panik, sowas gehört zum Arbeitsleben. Die Backhus aber nun sieht erst recht aus, als wäre ich ihr auf die Füße getreten. Lange genug ist sie schon im Amt um zu wissen, dass ihr Ministerium Umweltschutz in einer die zarte Pflanze der Wirtschaft möglichst wenig gefährdenden Weise gestalten soll. Glücklicher Weise unterbricht jedoch ein heftiger Hustenanfall mögliche Gedanken über Restrukturierungsmaßnahmen.

Ermattet blickt sie letztlich wieder auf. Ob sie mir das übelnimmt, dass ich im Sitzen größer bin? Ihrer gewohnt frenetischen Energie nachspürend, bricht sie das verstörende Vorgeplänkel ab: »Weshalb wollten Sie mich sprechen, Herr Müller?«, rettend-formelle Dienstlichkeit im Blick. Zu Ihrer Information: Tatsächlich habe ich dieses Gespräch beantragt, da regelmäßige Dienstaussprachen bei uns nicht Usus sind, dafür ist unsere Ministerin denn doch zu eigenständig, nunmehr wurde unser Meeting ministerial spontan genehmigt.

Also blättere ich eilfertig in Unterlagen, raschle ein wenig damit herum und gebe ihr Zeit, sich wieder zu sammeln. Dann die schlechte Nachricht: »Ich dachte, Sie sollten sich dieses Schreiben vielleicht lieber persönlich anschauen, bevor es auf dem Drei-Monats-Ablagestapel landet... Ein Professor Gnüster von der Uni Magdeburg, Institut für Biochemie und Zellbiologie, hat mit seinen Studenten eine Exkursion nach Morsleben gemacht, um Einflüsse auf die umliegende Flora zu untersuchen. Er behauptet, dabei elf neue Arten entdeckt zu haben.«

Im Gesicht der Chefin knirscht es: Morsleben gilt immerhin als dunkelstes Kapitel in der Geschichte unseres Ministeriums, seit eine Amtsvorgängerin eigenmächtig entschied, den ehemaligen Salzstock dort als Endlager für bundesdeutschen Atommüll zu nutzen. In die einsturzgefährdeteren Teile des Bergwerks waren die Fässer einfach hineingekippt worden, bei einer späteren Begehung hatte sich herausgestellt, dass in manch Stollen Wasser hochzog, Fässer allmählich verrosteten und uranhaltige Partikel ins Grundwasser einsickerten. Das Entsetzen erreichte jedoch seinen Höhepunkt, als man bemerkte, dass den abgeschlossenen Verträgen zufolge die Kosten für eine etwas dauerhaftere Entsorgung vom Bund allein übernommen werden müssen. Seither wird unser Ministerium auch gerne als »Ministerium für dauerhafte Umweltzerstörung« verspottet. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum es gegenwärtig umso wichtiger ist, eben diese Scharte mit der Energiewende auszuwetzen.

»Elf neue Arten?«, blafft die Backhus, offenbar Visionen radioaktiver Mutationen ohne Ende vorm inneren Auge, tanzende Pilze wie bei Disney, die gemeinsam Spottlieder aufs Umweltministerium anstimmen und Pressekonferenzen geben. »Na ja, um ehrlich zu sein, stammt der Begriff „Arten“ eher von mir«, beschwichtige ich daher. »Der Professor drückt sich da etwas umständlicher aus. Moment, ich habe mir die Stelle angestrichen...« Kurzes Blättern, während die Ministerin hoffentlich in ihre Komfortzone zurückschnellt. Geistige Notiz, so etwas zukünftig schonender einzuleiten: Wer stets austeilt, kann nicht unbedingt auch einstecken, dann Aufmerksamkeit heischendes Wedeln mit Seite Fünf des betreffenden Schreibens. »Hier. Der Begriff der Art impliziere, dass die Gattung bekannt sei. Bei den elf eingesammelten Exemplaren sei das Genom jedoch überwiegend nicht klassifizierbar...«

Wieder bricht die Ministerin in einen Hustenanfall aus, drückt sich energisch ein Stofftaschentuch vor den Mund wie zur Einleitung einer Selbsterstickung, konvulsivisch bebende Schultern und bronchiales Röhren, das jedem Platzhirsch Ehre macht. Als der Anfall verebbt, blickt sie betroffen auf rote Flecken im Stoff, nun deutlich in sich zusammengesackt. Auch ich bin erschrocken: Allmählich habe ich ja immerhin ebenfalls dieses Alter erreicht, in dem man das Funktionieren seines Körpers mit zunehmendem Misstrauen beobachtet und eine gewisse Solidarität entwickelt zu jenen, die bereits ernsthaft mit Krankheit und Verfall ringen. Alter ist nichts für Feiglinge.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Frau Doktor Backhus?«, beruhige ich die Ministerin daher mit gut polierter Anteilnahme. Mache ihr sogar die Titel-Freude. Wenn sie so ängstlich aus ihren Augen herausschaut, den Kopf leicht schräg auf eine hager-knochige Schulter geneigt, erinnert sie mich stets an von einer Ölpest überraschte Vögel, alles Aufgeplusterte verklebt, schutz- und fassungslos vor verschmierter Welt. Vermutlich eine Nebenwirkung ihres sonst so aggressiven Auftretens, Variante des Stockholm-Syndroms oder Artverwandtes. Persönlich ist mir nicht wohl dabei, wenn sie derartige Gefühle in mir weckt. Ob es ihr gegenüber Frauen genauso ergeht, oder spricht sie da wirklich Reste männlichen Beschützerinstinktes an?

»Nein, schon gut, ich muss mir offenbar am Wochenende irgendetwas eingefangen haben...« Von der Willenskraft, die sie sonst wie einen Schutzschild vor sich herträgt, ist nichts mehr übrig. Es bleibt ein brüchiges Vakuum, durch das sie mich zwangsläufig näher zu sich saugt. Sobald sie sich erholt hat, wird sie mich dafür büßen lassen, dass ich sie in einem Moment der Schwäche erlebte.

Mit plötzlichem Ruck strafft sie ihre Schultern, schüttelt blutigen Auswurf und kreatürliche Sterblichkeit in Eins von sich, ordnet den ganzen Körper neu: »Herr Müller, es muss auf jeden Fall verhindert werden, dass dieser wirre Professor seinen krausen Befund an die Medien weitergibt. Sie wissen ja, wie diese Umweltaktivisten so sind. Solche Art von Negativ-Publicity können wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Lassen Sie herausfinden, welche Unternehmen das Institut da in... in..«

»Magdeburg«, helfe ich aus, meine Blicke folgen ihrer fahrig gestikulierenden Hand, mit der sie etwas in weite Fernen weist.

»Ja, genau da, die dieses Institut mittragen. Wir müssen wohl ein paar Hebel in Bewegung setzen und ein wenig sanften Druck ausüben.« Ich nicke, brauche mir jedoch nichts zu notieren, denn mit dieser Reaktion habe ich bereits gerechnet.

Plötzlich jedoch ein Rückfall, die Ministerin wird, so gut Bräune und Schminke gleichermaßen es gestatten, bleich: »Es sei denn... Könnte es sich dabei um so etwas wie diesen Genmais handeln, der ja auch überall auftaucht? Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, ob dieses... unbekannte Genom irgendwo in den USA patentiert ist. Sonst haben wir ruckzuck eine Patentrechtsklage am Hals, vielleicht vor einem internationalen Schiedsgericht...« Einen Moment lang verstummt sie angesichts unwägbarer Konsequenzen und Forderungen in Milliardenhöhe, dann bricht ein noch heftigerer Hustenanfall aus ihr hervor. Endlich nicht mehr durchgeschüttelt von ihrem persönlichen Erdbeben starrt sie ungläubig auf schwarze Klumpen im roten Schleim des Taschentuchs.

Ich wieder mal viel zu nah an ihr dran, Empathie und so, weshalb mir zunächst lediglich auffällt, dass sich auf ihrer Stirne Schweiß gebildet hat. Dann erst folge ich ihrem Blick und merke, dass es nicht an der zitternden Hand der Ministerin liegt. Wahrlich und wahrhaftig, die schwarzen Klumpen auf rotem Grund bewegen sich! Einer kriecht eindeutig sich windend, zusammenziehend und vorwärtsrobbend das Taschentuch empor Richtung Daumen, ehe die Backhus es mit einem Schreckenslaut auf die immer noch vor Sonne gleißende Schreibtischplatte entlässt. Habe gar nicht mitbekommen, dass ich aufgesprungen bin: Finde mich erst wieder, als ich mich entsetzt an die gegenüberliegende Wand presse, während die Ministerin mich fassungslos und hilfesuchend ansieht. Natürlich ist mir sofort klar, dass dies keine Trichinen, Platt-, Faden-, Zungenwürmer oder sonstigen Viecher sind, die man in Mittel- bis Oberschicht aus exotischem Urlaub mitbringen mag. Auch mit biologischer Kriegsführung hat dies offenbar nichts zu tun, sieht schlicht nicht aus wie Überträger von Pest, Typhus, Milzbrand, Cholera oder Ruhr, kurzum: Ich tappe völlig im Dunklen, eine plötzlich unerklärbar und bedrohlich gewordene Welt springt mich von Taschentuch und Ministermiene her an. Vorläufig und dringlichst: Ist dies ANSTECKEND? Und: Darf man im Fall einer Ministerin überhaupt den Seuchenschutz alarmieren?

Wir beide ahnen es noch nicht weil ohnehin erschüttert, aber was da vor und zwischen uns auf dem Schreibtisch madig und schleimig vor sich hin tiert, ist das erste Omen eines bevorstehenden Endes der Welt. Und ausnahmsweise meine ich das einmal ganz wörtlich. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, noch einmal zu entscheiden, ob Sie weiterlesen.

Die Banalen und die Bösen

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