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5 - Ein idealistischer Weltverbesserer

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Der Bahnhof Mannheim gibt sich beim Einfahren unter nunmehr sengender Sonne zunächst als postapokalyptische Wüste aus Stahl und Schotter, der zubetonierten Innenstadt wohlwollend verdeckt durch eine Fassade im Stil übergroßer Siegestore. Flügel links und rechts erweitern das Ganze seit 2012 zu einem multifunktionalen Ort attraktiver Öffentlichkeit mit vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangeboten, was im Idealfall bedeutet, dass sich ein ausgedruckter An- und Abfahrtsplan vor lauter Geschäften nicht mehr finden lässt, jetzt im Handy-Zeitalter. Glücklicher Weise ist das heute nicht mein Problem, denn ich werde wie versprochen auf dem Bahnsteig erwartet.

Beim Aussteigen schlägt mir bereits die lebensfeindliche Gluthitze verbauter Innenstadt entgegen. Ein wenig benommen durch plötzlichen Klimaschock taumele ich aus dem Trott abwärtsströmender Massen, bemüht, blendende Helligkeit blinzelnd zu kompensieren. Irgendwo hinter mir verklingt lakonisch ein »We thank you for troubling with the Deutsche Bahn«, als es vor mir plötzlich dunkler wird: ein Mann im Anzug von durchaus mehr als zwei Metern. Vor der Brust ein Schild, Sundrive Chauffeurs and Limousines Mannheim, in riesigem Arial darunter: Herr Müller. Unwillkürlich gleiten meine dem Schlagschatten dankbaren Augen am hageren Körper entlang: Tatsächlich, kein Hosenbein zu kurz. Beeindruckend, dass ein Limousinendienst solch Hünen nicht nur bequem in ein Auto, sondern auch in dessen Dienstkleidung bekommt. Das obere Ende hingegen ist im Gegenlicht nur schwer auszumachen.

»Herr Müller vom Umweltministerium?« - freundlich, offen, ein wenig verschmitzt. Und überraschend jung, noch in den 20ern, vielleicht ein Nebenjob? Mit Roman Sander benamt, noch mit leicht osteuropäischem Akzent und kraftvollem Händedruck, der sich gleich zupackend meines Koffers annimmt. Schönes Reisewetter hätte ich mir ausgesucht, sagt er, wo mir jetzt in Bewegung erster Schweiß flutartig auszubrechen droht. Dann folge ich, während wir hinabsteigen in die Bahnhofshalle, Orpheus nichts dagegen. Wimmelndes Menschengemenge auf sonnendurchgleißtem Marmor zwischen Shoppingzeilen, die zu unerwartetem Halten und Abbiegen motivieren - überstrahlt vom bestimmt 14 Meter hohen Glasportal des Ausgangs, auf dem das Logo der Mannheimer Hockeymannschaft „Die Adler“ prangt, als wär´s das Siegel der Vereinigten Staaten. Jetzt erst rätsle ich, wie Roman Sander mich wohl erkannte: Eigentlich gibt es von mir außerhalb der Amtsakten nicht viel Fotomaterial.

Draußen im pflastersteinernen Hochofen ist Romans Chrysler-Stretch­li­mou­si­ne silbern und so gut poliert, dass sich der trostlos-gut durchbackene Bahnhofsvorplatz mit Litfasssäulen als architektonischen Höhepunkten überbelichteten Flirrens in ihr spiegelt. Insgesamt jedoch angenehm schlicht, Bentley Grill wie ein leeres Wappen trotzig voran, alles jedoch albern in die Länge gezogen. Vermutlich größer als manche Büros im Ministerium, bis zum Kofferraum gute 15 Meter vielleicht. Tief getönte Scheiben versprechen wohltuend gekühlten Innenraum, im Vorbeigehen verdunkelt sich jedoch eine dieser Scheiben noch weitergehend: Schemenhaft winkt jemand mir zu. Ehe Roman, vom Kofferraum zurück, mir den Wagenschlag öffnet, prüfe ich daher eiligst den Sitz meiner Krawatte.

Natürlich habe ich mich für dieses Wochenende herausgeputzt: bester dunkelblauer Anzug (nur in direktem Sonnenlicht von Schwarz unterscheidbar), Hose mit perfekter Bügelfalte dank neuem Bügeleisen mit Wasserdampf, glänzend schwarze Schuhe. Um die etwas unscharfe Grenze zwischen seriös und düster nicht zu überschreiten, dazu als kleiner Kontrapunkt eine schräggestreifte Krawatte in Gold-Weiß-Rot, kleiner Ausdruck leicht patriotischer Lebensfreude sozusagen. Entsprechend verstimmt bin ich, dass unser zweiter Fahrgast exakt dasselbe Outfit trägt.

Dieser, einen kurzen Moment lang ebenfalls irritiert, winkt mich heran: »Kommen Sie, kommen Sie, die Bordbar ist hervorragend.« Das im ersten Schreckmoment bitter kalte Innere übertrifft kühnste Ausstattungsträume schwülstiger Science-Fiction-Filmer bei weitem: spacige Fantasia aus blau-lila beschienenem Schwarz-Weiß in Leder und Plastik, durchgängig weich-gequollene Schlangenlinien statt harter Kanten. Rechts in ganzer Länge ein Ledersofa, auf dem notfalls bis zu fünf Personen bequem nächtigen könnten, links das geschwungene Buffet aus glitzernden Kristallgläsern, Flaschenhälse ragen aus eingelassenen und noch immer randvoll mit Eis bestückten Kübeln, auf oberer Anrichte drängen sich einem Entchenschwarm gleich absurd viele Schalen mit kunstvoll gefalteten Servietten, deren Zweck mir unerfindlich ist. Orange-gelb spielen warme Lichter entlang des geriffelten Wagendachs, der Boden hingegen entschwindet in nachtblauem Samt, Sonnenuntergang verewigt quasi. Aus allgegenwärtigen Lautsprechern dringt dezent klassischer Walzer, Strauss vielleicht, und Monitore zeigen einen strahlend-klaren Himmel über uns, der während der Fahrt wohl, ja was? an uns vorbeiziehen wird? Berückendes Eingeständnis, dass links und rechts optisch die Umgebung nicht viel bietet, Mannheimer Spezialität vielleicht.

Durch diese epiphanische Entrückung in echtes AMBIENTE schon leicht desorientiert, gibt mir die Sitzanordnung zusätzliche Rätsel auf: keinerlei gegenüberliegende Plätze? Lungert man hier zu mehreren ganz zwanglos auf der Couch herum, ohne sich mit mehr als direkten Nachbarn unterhalten zu können? Wie zuverlässig des Menschen Geist auch fremdeste Welten in stets dieselbe Hölle zu verwandeln weiß! Entscheide mich schließlich für eine seitliche Position, rechtes Bein angewinkelt auf dem Sofa gen Gesprächspartner, auch wenn dies einem mahnenden Abstandhalter gleicht. Sobald ich sitze, startet Roman den vorne leis und wunderbar rund laufenden Motor, über Kamera also offenbar auf dem Laufenden, sanft vibrierend schwenkt unsere Landschaft insgesamt gemächlich aus nach links.

Mein Mitentrückter hingegen hat sich für die klassische Schulsitzposition entschieden, aufrecht-frontal gen Monitor, Knie aneinandergelegt und ohne Kontakt zur Sofalehne, was seinen beneidenswert geraden Rücken gut zur Geltung bringt. Findet offenbar hinreichend Halt an sich selbst, kann jedoch dadurch positionsbedingt den Kopf nur halb bis zu mir wenden. Ich schätze ihn auf Anfang 60, straff und durchtrainiert: kurze weiße Haare in hübschem Kontrast zur Sonnenbräune, randlose Brille, teure Uhr und funkelnde Goldzähne verkünden gehobenen Wohlstand. Hält ein Glas mit goldenem Whisky auf dem rechten Oberschenkel in Balance, darunter sorgsam eine drapierte Serviette für etwaige Straßenunebenheiten – offenbar sind diese Dinger also dazu da. Souverän bis entspannt, mit deutlich eleganter geschnittenem Anzug, wie ich widerwillig anerkennen muss.

Allem Anschein nach ist mein Gegenüber zum selben Schluss gekommen und lächelt mir nun aufbauend zu, vielleicht hat sein Whisky ebenfalls Anteil daran. »Darf ich Ihnen einen ganz exquisiten Tropfen empfehlen nach der langen Fahrt?«, beginnt er die Konversation in geübt-wohltuender Manierlichkeit. Er hat eine schöne Hand, ebenfalls gut gebräunt, von der sich weiße Behaarung flaumig abhebt, streckt sie bereits in Richtung eines Flaschenhalses, der deutlich eher in seine Reichweite ragt denn in meine. »Sie mögen es doch torfig?«

Ich nicke unwissend und schiele aufs Etikett: Lagavulin Distillers Edition, ist das Single Malt oder Blend? Schön bernsteinfarben im Glas, Geruch nach ostfriesischem Tiefland im Regen. Beim ersten Schluck glaube ich jedoch, versehentlich in einen Torfkanal gebissen zu haben. Dann kommt langsam und weich die alkoholische Schärfe durch, exquisit! Getönte Scheiben lassen derweil die wirklich trostlose Betonfläche des Europaplatzes Mannheim draußen, sinnbildhaft bis ins Extrem, lediglich in gnädiger Erahnbarkeit vorbeiziehen. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Wolfgang Stritter, Rechtsanwalt, Mitglied des evangelischen Laienkirchenrats und seit neuestem MdB für die Christliche Partei.« Trotz sanfter, wohlüberlegter Stimme streckt er mir äußerst zupackend die Hand kräftig entgegen, ich ergreife sie schlaff mit der eigenen. Das Schütteln besorgt Herr Stritter und ich stelle erleichtert fest, dass nichts weh tut.

»Müller, Martin Müller. Staatssekretär im Umweltministerium, sehr angenehm...« Es ist mir immer peinlich zu erzählen, womit ich mein Geld verdiene, normaler Weise kennt sich aber kaum jemand gut genug aus. »Staatssekretär? Mit welcher Parteizugehörigkeit?« In Stritters Frage liegt auf einmal Taxierendes. Eine Augenbraue ist im Alleingang hochziehbar wie bei Mr. Spock.

»Ganz ohne. Ich wurde vor fünfzwanzig Jahren direkt von einer NGO angeworben«, und versuche, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. Tatsächlich entspricht es nämlich nicht so ganz der Wahrheit: Damals war ich noch überaus aktiv in meiner Partei, verfasste sogar den Umweltteil ihres Wahlprogramms, Landtagswahl immerhin. Aber meine Chefin kam, sah und strich alles restlos aus zugunsten irgendeines Themas, das gerade frisch en vogue zu werden begann, Babywale vielleicht, letztlich war´s ein Rohrkrepierer. Eine Woche später dann regte sie sich bei mir auf, da die Parteiführung unser Wahlprogramm lieber doch einer Werbeagentur anzuvertrauen beschlossen hatte. Das war für mich der Punkt, an dem mein Vertrauen ins politische System endgültig seinen Geist aufgab. Seither werde ich mit etablierten Parteien nur ungern noch in Verbindung gebracht.

Stritter immerhin zieht anerkennend wieder diese Braue hoch: »Vor fünfzwanzig Jahren? Dann sind Sie ja Vollprofi. Immer aufregend, jemanden zu treffen, der so viel Einblick hat.«

Aufregend? Wie unbeleckt kann man sein? Sonst ja eher der Kampfschrei parlamentarisierter Lämmer. Sortiere daher rasch: Seit kurzem Mitglied des Bundestags für die Christliche Partei, muss heißen: seit fünf Wochen, seit unser Bundestag fast so groß geworden ist wie das Parlament der EU. Merke: Je größer ein Parlament, desto weniger kann es eine Regierung effektiv kontrollieren. Zudem sehr aktiv in der Kirche, also als Kandidat für den Teil der Partei aufgestellt, dem radikaler Ausverkauf an „die Wirtschaft“ missfällt. Ein Mann mit Wert­überzeugungen demnach, was fürs Herz. Außerdem fällt er als praktizierender Rechtsanwalt schon mal aus unserem Parlamentsdurchschnitt von unter einem Jahr Berufserfahrung außerhalb der Politik heraus. Wahrscheinlich ist er den üblichen Weg aller Unbequemen gegangen, weggelobt nach Berlin: Versprechen von politischer Mitgestaltung auf höchster Ebene, idealistische Zielvorstellungen als Bereicherung für den Hauptstadtbetrieb, dafür Entwurzelung vom sozialen Umfeld akzeptiert. Muss wohl erst noch erfahren, dass Fraktionszwang dort gilt und man sich ansonsten schnell auf der EdeKa-Liste (Ende der Karriere) wiederfindet. Wirkt jedoch bislang erstaunlich angstfrei, offenbar also noch nicht durchs Gehorsamkeitsprinzip auf Spur gebracht, Altersvorsorge zugleich gesichert. Was macht eine potentielle Tretmine wie er hier?

Also sondiere ich bedächtig, um ihn zum Sprechen zu kriegen, im Zweifelsfall lieber Informationen einholen als geben: »Ich glaube, ich habe Ihren Namen schon einmal irgendwo gehört... liegt mir auf der Zunge. Sind Sie nicht in einem Ausschuss tätig?« - Das ist schließlich früher oder später jedes neue MdB: immer in der Hoffnung, zumindest durch Ausschussarbeit mitgestalten zu können, Grundlagenexpertisen für Fraktionszwang schaffen usw. Bis letztlich die nüchterne Erkenntnis einsetzt, dass diese verordneten Abstimmungen zumeist bloß einer Willkür von Fraktionsführungen oder laienhaften Festlegungen im Koalitionsvertrag entspringen und man Jahr für Jahr noch nicht einmal Rederecht im Bundestag zuerteilt bekommt, um gelegentlich abfallende Ergebnisse vorzustellen. Bis man merkt, letztlich auch hier nur Stimmvieh zu sein, Parteisoldat vielleicht. Aber Appelle an Ego und Verantwortungsbewusstsein entzünden jene meist, die kein Privatleben mehr haben, und tatsächlich springt Stritter sofort darauf an: »Na, das gehört doch dazu! Ich hab mir gesagt: Wenn schon, denn schon. Bin jetzt dem für Ernährung und Landwirtschaft beigetreten, nächste Woche tagen wir zum ersten Mal. Was ist mit Ihnen, was führt Sie hierher?«

Verstört bemerke ich ein riesengroßes Loch in meinen Vorbereitungen. Was soll ich darauf antworten? Dass ich die PrimAct AG verdächtige, einen Anschlag auf meine Chefin unternommen und in Morsleben heimlich Genexperimente in freier Natur getätigt zu haben? Dass ich jetzt nach Beweisen suche, um diesem Unternehmen ans Bein zu pinkeln? Sollte doch eigentlich klar sein, dass man an solch einem Wochenende nur teilnimmt, um Karriere oder zumindest laufendes Einkommen voranzubringen, Frage deshalb äußerst ungehörig. Mit Stritter aber habe ich im Zweifelsfall tatsächlich einen vernünftigen Menschen vor mir.

Rasch wähle ich deshalb einen Schnellschuss: »Frau Backhus musste ihre Amtsführung aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend niederlegen. Ich bin ihr Stellvertreter. Und da dachte ich mir... das könnte ich doch ruhig mal mitnehmen... für Entspannung und Erholung... und Spaß und so...« Selbst in meinen Ohren klingt es nach einer äußerst schwachen Ausrede, vielleicht also genau das Richtige.

Auch Stritter bleibt reglos wie eine Sphinx. Ist das gar Verachtung in seinen Augen? Schnell greife ich erneut nach dem Whisky, immerhin sind wir jetzt schon auf der A6 Richtung Heilbronn.

Langsam und bedächtig beginnt Stritter schließlich wieder zu sprechen. »Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus.«

Fassungslos starre ich ihn an: Bitte?

»Johannes 2, 16, die Tempelreinigung. Jesus wirft die Händler, Geldwechsler und Kredithaie aus dem Tempel. Manche übersetzen: Markthalle, aber schon Luther modernisierte das zum Kaufhaus. Haben Sie die Bibel gelesen, Herr Müller?«

Kalkuliere kurz und komme zu dem erschreckenden Ergebnis, dass uns vermutlich noch anderthalb Stunden gemeinsame Fahrt bevorstehen. »In Auszügen, Herr Stritter, leider nur in Auszügen.« Immerhin hält sich unser Wagen ganz links und fährt vielleicht souveräne 240, eventuell also doch nur eine Stunde. »Die Letzten werden die Ersten sein und so weiter, nicht wahr?«

Stritter verschluckt sich fast an seinem Whisky. Dann mustert er mich seltsam abschätzend, ehe er zu intonieren beginnt: »Matthäus 19, 30. Ausführlicher noch Lukas 6, 20-26: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen. –Stellt überaus anschaulich klar, dass unsere Parteien sich sehr um das jenseitige Seelenheil ihrer Wähler verdient machen, finden Sie nicht?«

In der unangenehmen Stille, die folgt, schnurrt nur der Motor dezent vorn beim Fahrer. Noch immer starrt Stritter mich unverwandt an, selbst bin ich verstrickt im Bemühen, unter zustimmendem Nicken beiläufig aus verschiedenen Fenstern zu schauen. Schließlich durchbricht der Rechtsanwalt selbst seine kunstvoll aufgebaute Wolke aus Missbilligung: »Wissen Sie, Herr Müller, ich gehöre zu jener Fraktion der Christlichen Partei, die die momentane Annäherung unserer Politik an die Räuberhöhle der Wirtschaft mit großer Sorge sieht. Unser Erlöser hat schließlich unmissverständlich gesagt: Hütet euch vor jeglicher Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch ein großes Vermögen anhäuft und dann im Überfluss lebt, Lukas 12, 13.«

Momentane Annäherung? Hätte mich fast verschluckt. Was hat dieser Mensch als Rechtsanwalt getan? Nur Hartz-IV-Empfänger verteidigt? Unser Robin Hood im Anzug aber fährt fort und in mir keimt der Verdacht, einer wohleinstudierten Predigt zu lauschen, die das MdB zu lange nicht mehr halten konnte: »Jene Ordnung mitzugestalten, die unser aller Zusammenleben regelt, sollte Privileg und Lohn genug sein. Stattdessen müssen wir jedoch mit wachsender Besorgnis feststellen, dass die Gebote christlicher Nächstenliebe von unseren gewählten Repräsentanten zunehmend mit Füßen getreten werden. Und dabei wird der Menschensohn doch dereinst beim Weltgericht sprechen: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Matthäus 25, 45.«

Daraufhin nickt Stritter noch eindringlich, während er den eigenen Worten nachlauscht, blickt mich wieder auffordernd an. Diese Limousine gleicht immer mehr einem Druckkochtopf in der Hölle: Was genau will er bloß von mir? Dann beugt sich der Rechtsanwalt unerwartet vertraulich zu mir und verstärkt damit seine ohnehin nicht zu unterschätzende Präsenz: »Was aber vielleicht mehr in Ihrem Ressort liegt, Herr Müller (blickt mich jetzt an, als wäre er der Engel mit Flammenschwert): Siehe die Felder, wie sie wachsen und fruchtbar sind, und die fruchttragenden Bäume und die Kräuter! Was willst du noch mehr als das, was dir die ehrliche Arbeit deiner Hände gibt? Wehe den Starken, die ihre Stärke missbrauchen! Wehe dem Schlauen, der die Geschöpfe Gottes verwundet! - Wir aber begreifen die uns zu Schutz und Wacht anvertraute Schöpfung Gottes nur noch als „Kapital“, dass man an den Meistbietenden verhökert! Wahrlich: Das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig, Lukas 12, 10.«

Da ist schon mal die Abfahrt Hockenheim. »Sehr schön, Herr Stritter, und auch sehr treffend, ja. Mir war gar nicht bekannt, dass die Bibel sich explizit zum Naturschutz geäußert hat. Ich kannte nur dieses Gehet-hin-und-macht-euch-die-Erde-untertan?« Registriere verärgert, dass ich den Kopf unwillkürlich eingezogen und insgesamt mich ein wenig weggeduckt habe. Erfolgreich macht sich jetzt jedoch bei Stritter Verblüffung breit. Fällt ihm wieder ein, dass man nicht den ersten Stein und so weiter? Findet langsam, scheint´s, wieder zurück zu seiner menschlichen Hülle und ein Mundwinkel verzieht sich sogar zu halbem Lächeln, während er, brav wieder auf seinen Platz beschränkt, Whisky nachschenkt. »Ist aus dem Evangelium Jesu, leider apokryph. Auch noch einen Schluck?«

Waffenstillstand offenbar, halte jedoch schnell die Hand über mein Glas. In Heilbronn werde ich einen klaren Kopf brauchen.

Über die Trümmer dieser rauchenden Apokalypse hinweg ergreife ich behutsam das Wort: »Ich weiß genau, wovon Sie sprechen, Herr Stritter, glauben Sie mir. Im Verlauf meiner Dienstjahre habe ich genug Dinge erlebt, die man wohl zu Recht als... äußerst unchristlich bezeichnen könnte. Deshalb verstehe ich auch nicht, weshalb Sie an dieser Veranstaltung teilnehmen. Ihnen müsste doch klar sein, dass Sie sich damit direkt in die... Räuberhöhle? begeben. Sozusagen zum Pakt mit dem Antichristen?« Vielleicht nicht die geschickteste Wortwahl, aber dies ist auch eindeutig nicht mein Terrain. Stritter immerhin sieht versöhnter aus. Kurz blickt das MdB hinaus in die davonrollende Landschaft, dann seufzt es schwer: »Wissen Sie, Herr Müller, letztlich geht es darum, dass die EU sich mit TTIP III verpflichten wird, alle gentechnisch manipulierten Pflanzen aus den USA automatisch ebenfalls zuzulassen. Unser Ausschuss soll dazu Stellung nehmen. Als Angehöriger des Umweltministeriums kennen Sie vermutlich die Problematik?«

Angesichts dieser plötzlich sehr verständlichen Rede und des leichten Lächelns, das immer noch in Stritters Mundwinkel hängt, beschleicht mich ein leiser Verdacht. Hat dieser Rechtsanwalt auf Abwegen mir absichtlich in einer Lage ohne Fluchtmöglichkeit Bibelzitate an den Kopf gedonnert? Ist das seine Art, sich langweilige Fahrtzeit zu vertreiben? Offenbar kann Stritter es gut genießen, wenn sein Gegenüber in eigenen Säften kocht. Na, herzlichen Dank!

Auf jeden Fall weiß ich, dass das synthetische Gen der Maissorte 1507, die bereits zugelassen ist, sich innerhalb von nur drei Jahren durch Einkreuzung mittels Bienen und anderer Fremdbestäuber in 46% der heimischen Nutzpflanzen ausgebreitet hat. Zu den Folgen gibt es zahlreiche Studien, die sowohl das eine als auch das Gegenteil belegen. »Sie meinen, abgesehen davon, dass der Mensch damit in Gottes Schöpfung eingreift?«, frage ich vorsichtshalber. Diesmal lacht Stritter herzhaft: »Ja, abgesehen davon.« Habe also richtig gelegen mit meinem Verdacht, Christ mit Humor.

Dann setzt der Rechtsanwalt mir äußerst sachlich auseinander, dass das Hauptproblem in der Wechselwirkung mehrerer sich unkontrolliert ausbreitender Gene bestehe: Mutationsmöglichkeiten unüberschaubar groß, erste Langzeitstudien der Amerikanischen Akademie für Umweltmedizin zeigen angeblich deutlichen Anstieg an Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten, Missbildungen, Krebs, Allergien und Atemwegserkrankungen, in Tierversuchen eindeutig auf bestimmte Kombinationen neuer Gene rückführbar. Die Grenzen zwischen gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln und biologischen Kriegswaffen seien somit durchlässig geworden, wie Stritter sich zusammenfassend ausdrückt.

Jetzt schenke ich mir doch nach. Mein Mitreisender ist klug und engagiert, da lässt sich nichts sagen, offenbar lediglich ein wenig verspielt, etwa wie Katzen mit ihren Mäusen. Außerdem sind wir gerade schon an Sinsheim vorbei, durch die getönte Scheibe erhasche ich noch einen Blick auf das Automuseum: 50.000 m², 365 Tage im Jahr geöffnet, mit Spielplatz zur Entsorgung von gelangweiltem Nachwuchs, während die Ehefrau dankbar in der Kinderwagen-Ausstellung verschwindet. Nun aber ist es allmählich an der Zeit für Stritter, Karten auf den Tisch zu legen: »Herr Stritter, ich verstehe langsam immer weniger, warum ausgerechnet Sie sich von der PrimAct einladen lassen.«

Das Mitglied des Bundestags und des evangelischen Laienkirchenrats lächelt versonnen. »Haben Sie denn nie Sunzi gelesen? Kenne deinen Feind. Sechstes Jahrhundert vor Christus.« Und mit diesem unchristlichen Zitat prostet er mir zu. In mir hingegen gärt es. Ist das wirklich... doch, im Grunde ist es Stritter zuzutrauen, dass er aus reiner Streitlust nach Heilbronn reist. Ein bisschen Krawall stiften. Für mich wäre es dann vermutlich besser, am Ziel Distanz zu halten. Aber mit etwas Glück bricht dieser Rechtsanwalt dabei auch die ein oder andere interessante Diskussion vom Zaun.

Allmählich harre ich der kommenden Dinge in Spannung.

Die Banalen und die Bösen

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