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4 - Die Vorteile einer gesunden Distanz zum Volke

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Laterne, Bank, Wartehäuschen, Bahnhofsuhr. Dann rollt eine Lärmschutzwand vorbei, links und rechts zickzackverstrebt kleine Bohrtürme aus Stahl mit zu den Stromkabeln über uns gereckten Armen, ein Spalier von Torbögen für sehr, sehr viel Landschaft dahinter. Langsam nimmt mein Zug zuerst Fahrt auf wie ein röchelnder Staubsauger, steigert sich allmählich dann zu sirrendem Flitzen, ehe er endlich schnell genug ist, um im Springen von Gleisstück zu Gleisstück genrespezifisches Rattern zu erzeugen. Baum an Baum vor weitem Himmel verwischen zu stroboskopierendem Geblitze. Weiter vorn klafft sonnig ein Spalt in grauer Wolkendecke, ehe ein Gemenge an Blättern, Zweigen, Blüten in immer schnellerer Serie, kurz durchbrochen von rotblättrigen Sonderlingen, stetig dichter ans Fenster drängt.

Das Innere in freundlichen Pastelltönen, wohlklimatisiert und –temperiert im rosig angehauchten Halogen: direkt irreal dagegen, wenn mit jeder stetig schneller dahinhuschenden Meile alles an Bedrängnis und Enttäuschung unwirklicher wird. Zur Unterstützung lehne ich eine Schläfe an die kühle Scheibe, so dass Vibrationen mein übervolles Hirn befriedigend und mechanisch-leer durchrütteln: ratteratat, ratteratat, der satte Klang eines früheren und vielleicht übersichtlicheren Jahrhunderts. Unentwegt zieht durch pure Geschwindigkeit Landschaft vorbei Richtung Vergangenheit, reißt mit sich quälende Geister der vergangenen Woche. Staubsaugereffekt wie bei Ghostbusters, sehr wohltuend insgesamt.

Schon spielerisch bevölkere ich das behaglich leere Abteil mit den wichtigsten Akteuren: Direkt gegenüber natürlich der Pohlmann mit seinem Wir-♡-Landschaften-Button von RW.On am grässlich unmodisch-altbackenen Jackett. Haudegen alter Schule halt, die sich noch voll und ganz auf Arbeit konzentrierte, während Ausstattungsfragen allmorgendlich der Ehefrau überantwortet wurden. Inzwischen vermutlich geschieden, könnte immerhin seine Verbitterung erklären, zunehmend von toxischen Grundstimmungen durchherrscht. Gefühlt auf jeden Fall ein heimlicher Säufer, der Wut durch Alkohol zunehmend verfestigt; starke Neigung zu cholerischen Gesichtsfarben. Massiv angreifend, wie er da am Mittwoch auf dem Meeting zur Erstellung eines Szenariorahmens für die Energiewende seine abwertenden Sprüche raushaut, bis kaum noch einer den Mund zu öffnen wagt. Hauptziel natürlich ich, der erstmal auf Kurs gebracht werden soll, doch immerhin hat er nicht gebrüllt. Eine jener verrohten Naturen, die Freundlichkeit stets als Schwäche auslegen.

»Wie wollen Sie das denn ohne Szenariorahmen und Kostenkalkulation machen«, frage ich übervorsichtig. Blafft er mich an: »Von Ihnen will ich doch auch nicht wissen, wie viel Klopapier Sie am Tag verbrauchen.« - Immer feste druff, bis irgendwann keiner mehr nachfragt: Schließlich steht RW.On stark unter Druck durch sinkende Einnahmen dank alternativer Energiegewinnung. Die brauchen dringend den Auftrag, das gesamte deutsche Stromnetz dezentral neu zu erbauen: zehn Jahre, Steuergelder unabschätzbar irgendwo im schwindelerregend-dreistelligen Miliardenbereich, wird doch wohl nicht an Manieren scheitern. Oder verrottendem Straßennetz, sonstigen Skrupeln kleinerer Geister. Wie die Backhus es aushält, sich ständig diesem Typen auszusetzen? Mir jedenfalls schlägt´s auf den Magen, ein brodelnder Druck wie von giftigen Dünsten, gegen die auch Reinfressen von Schokolade nicht mehr hilft.

Aushalten, einfach aushalten. Und das ist wohl auch das Stichwort für die gute Petra, flankierend zur Linken, obwohl ihre zumeist fliederfarbene Bluse sich mit türkis-beschem Sitzbezug ein wenig beißt. Langjährige Verwaltungsbeamtin ohne Parteizugehörigkeit, von mir eigentlich zur Unterstützung dazugeholt. Stattdessen huscht aufgeschreckt und fahrig sie umher, wohl witternd, dass die Abwesenheit der Backhus gefährlichen Spielraum für eigene Ansätze eröffnet. Einen Köcher voll unentwegter Fragen, verhinderter Amor quasi: Wo ist die Backhus? Wann kommt sie wieder? Sollten wir nicht solange warten? Und wenn die Backhus das anders sieht? Beendet ihre Imitation kopfloser Hühner erst, als ich sie zur Erstellung von Kraftwerkslisten verdonnere. Neugründungen, Schließungen und Leistungsumfang bis 2030, ja: 2030, zukunftsweisend denken, der Entwicklung voran mit erhobener Fackel. Darauf der Seiffert natürlich: »Solarlampe mein Se wohl, von wejen CO², nech?« - Ja, du mich auch.

Des Weiteren die ganze Schar weitestgehend unbekannter Gesichter: Befristete, Leiharbeiter, Extrapolation der Bedarfsmenge. Pohlmann besteht unentwegt darauf, mittleres, gemäßigtes und extremes Szenario auszuarbeiten, Scheunentor für Wirtschaftsperspektiven. Schließlich der Streit um die Besetzung des Ausschusses zur Ermittlung von Nutz- und Schutzinteressen. Natürlich, für Umwelt-, Landschafts-, Tier und Klimaschutz nur der Jürgen mit seinen Leuten: solide, zuverlässige Kooperation mit Bundesländern, kennt sogar alle 16 Landeswaldprogramme. Für Tourismus und Infrastruktur Bernhard mit seiner ruhigen, unbestechlichen Art, und schon geht das Gepolter los: »Ist das denn vereinbar mit den Argumentationshilfen zu bundespolitischen Grundsatzfragen von der Industrie- und Handelskammer?«, »Warum wird hier keine Expertise der Betroffenen (sprich: Lobbyvertreter) mit ins Boot geholt?« und so weiter und so fort. Ganz dicke dann der Bereich Netzentwicklung: Pohlmann krebsrot, als die Harmacher-Konkurrenz immer wieder mit smartem Energienetz ankommt. Großangriff Adler-Kreis gegen Collegium-Kreis, mitten dazwischen ich, lavierend durch Minenfelder, Torpedos links und rechts. Armer, armer Bauch.

Meiner bescheidenen Erfahrung nach durchlaufen viele, wenn es um Aggressionen geht, drei Stadien. Zunächst glauben sie, kein Anrecht darauf zu haben, nicht ärgerlich oder schroff sein zu dürfen, erzieherischer Erfolg einer Angst vor Liebesentzug. Im zweiten Schritt nehmen sie sich dieses Recht einfach, erleben es als Befreiung, Ehrlichkeit und Selbstbehauptung. Schließlich kommen sie in der Regel, sobald ein einigermaßen akzeptabler Platz im Leben gefunden wurde, angesichts einsetzenden Alters plus Vergänglichkeit dazu, solch Umgang mit anderen doch eher unsympathisch zu finden: Hach, welch hehre und edle Menschen, eventuell getrieben von Sehnsucht nach einer besseren Welt und überdies ein wenig Zutrauen, sie zumindest im Kleinen auch verwirklichen zu können! Außerdem hilft so etwas, die eigenen Ängste klein zu halten. Diese letzte Reifestufe erreichen jedoch nicht alle: Entweder haben sie in ihrem Leben zu wenig andere Erfahrungen gemacht oder sie glauben, ansonsten beruflich erledigt zu sein (womit sie vielleicht durchaus Recht haben). Schon bitter, dass unsere soziale Auslede meist nur die Ruchlosesten ungemein begünstigt, bis man glaubt, die ganze Welt wär so. Pohlmann zumindest gehört mindestens zur zweiten Kategorie, das arme Schwein. Aber schweinemäßig unangenehm eben auch seine unablässig von keinerlei Empathie gehemmten Attacken.

Als Höhepunkt dann Freitagnachmittag die angekündigte Essenseinladung, besser: -vorladung von ihm im Hyatt, Alptraum vorm Wochenende. Lädt mich ein in Räumlichkeiten, die dem Bundestag gehören!, muss man sich mal vorstellen. Doch neutraler Grund, keine Ausweispflicht für Lobbyisten, Treffen nie aktenkundig mangels Spesenrechnung, deshalb werden auch die Geburtstage der Deutsche-Bank-Chefs hier gefeiert. Funkelt mich an unter überbebuschten Augenbrauen, während die Suppe ihm vom widerlichen Schnäuzer trieft. Ihm beim Essen zuzusehen, ist ohnehin unangenehm, grenzt fast schon an systematische Vertilgung, methodische Ausrottung und dergleichen. Hätte gehört, da gäbe es Schwierigkeiten mit einem Professor aus Magdeburg? Ob ich denn wisse, dass dessen Institut, Biochemie und Zellbiologie, zu 40% von RW.On-Partnerfirmen finanziert sei? Beste Kontakte zur Unileitung, eine Hand wasche doch die andere, wo gerade eine Aufstockung des Gnüster-Etats anstehe, falls ich verstände? Und ich dabei die ganze Zeit am Rätseln, warum die dritte Cremekugel so seltsam schmeckt, Bilder des Gewimmels im Backhus-Körper vor Augen. Bis im nächsten Gang trocken Brot gereicht und selbst mir noch klar wird: Was Creme schien, bloß Butter ist´s gewesen. Triumphierendes Glitzern im Pohlmann´schen Antlitz, komplizenhaft: auch nur ein Aufsteiger, zwei von selbem Schrot und Korn, Bier-und-Bratwurst-Vergangenheit, Schröder´sche Sozen-Solidarität versprühend wie andernorts Glyphosat. O armer Bauch, Bedenkzeit ausgebeten.

Wieder Lärmschutzwand, Bohrtürme aus Stahl, Laternen. Sattes Rattern verkommt zum Sound endloser Ketten von Einkaufswagen, ehe es in ersticktem Quietschen verstirbt. Bei jedem Halt wird der Pohlmann gegenüber blasser, verschwindet sein Gesicht immer mehr hinter Schnäuzer und Augenbrauen. Insgesamt bis jetzt sehr gelungene Fahrt trotz grauenhaft frühen Aufstehens, Verspätung kaum nennenswert. Aber im ICE ist man ja auch vor grölenden Fußballfans und besoffenen Junggesellenabschieden sicher. Niemand dreht Ghettoblaster auf, um Passagiere mit Ballermann-Hits zu beschallen – zumindest rund um Berlin eine allgegenwärtig gewordene Gefahr, seit die diesbezügliche Zuständigkeit vom Zugpersonal auf Mitreisende verlagert wurde. Dabei ist es so viel einfacher, sich für das Volk einzusetzen, wenn man nicht so viel mit ihm zu tun hat!

Seit einigen Jahren habe ich jedoch diesen gelegentlich wiederkehrenden Traum: Wir sitzen in einer Konferenz, Experten, Wirtschaftsvertreter, Volksvertreter, Ministeriumsvertreter wie ich. Da geht auf einmal die Tür auf und ein junger Mann steht da, stutzt, hat offenbar niemanden hier erwartet. Dann überblickt er uns, Erkennen setzt ein und er bricht in schallendes Gelächter aus. Über uns lacht er, hemmungs- und endlos, als hätte er den Atem der ganzen Welt. Ich glaube, dieser junge Mann bin ich. Mein früheres Selbst.

Zeit also vielleicht doch für einen Schnitt, wo die Einflusssphäre der Hauptstadt inzwischen weit hinter mir liegt, man ist irgendwo ja auch noch Mensch. Blicke ein wenig verständnislos auf den Dienstlaptopschirm mit liegengebliebener Arbeit vor mir: Antrag der Baustofffirma Seyring, auch weiterhin Sand vom Grund der Nordsee absaugen zu dürfen, alles fertig bearbeitet und nur noch zur Unterschrift vorgesetzt. Im Anhang ein Gutachten, das allgemeine Umweltverträglichkeit bescheinigt – erstellt im Auftrag des Ministeriums, durchgeführt von der Seyring AG selbst. Ja, Sand zur Herstellung von Beton wird immer knapper, neun Zehntel der Strände Floridas bereits abgetragen und zu Baustoffen verarbeitet, da muss nun auch die Nordsee ran. Im Internet Gegengutachten von WWF, BUND und NABU, offenbar auf unteren Ebenen unseres Ministeriums abgefangen: Mit dem Sand werden auch sämtliche Lebensformen vom Meeresboden gesaugt, 41 bedrohte Arten dabei. Baggerschiffe blasen zu feine Sandpartikel anschließend zurück ins Meer, entstehende Trübungswolken verkleben Kiemen und Poren, Massaker im großen Stil. Außerdem recht glaubwürdige Untersuchungen, dass Küstenränder allmählich nachrutschen, Sandstrände immer schmaler, Instandhaltung von Dämmen gefährdet.

„Abgelehnt“, wähle ich im Menü, digitale Unterschrift darunter. Zum ersten Mal in dieser Woche tatsächlich so etwas wie Zufriedenheit: Dieser Job könnte interessant sein, wenn man Zeit hätte, sich immer die nötigen Informationen zu verschaffen. Nichts ist gefährlicher als ein Beamter, der weiß, was er tut.

Angespornt durch diesen Erfolg verbringe ich die restliche Fahrtzeit damit, Informationen über meinen Gastgeber zu recherchieren. Die PrimAct AG war erst nach Verabschiedung von TTIP II, der zweiten Stufe des Freihandelsabkommens, gegründet worden – gefördert vom Ministerium für Bildung und Forschung. Dahinter steht der US-Konzern XSolutions, der 72% aller Patente für Genmais hält (11,8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz, 1,6 Milliarden Gewinn im letzten Jahr). XSolutions hat in den USA erfolgreich die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel abwehren und hohe Subventionen für Genmais durchsetzen können, Oberliga also.

Über die PrimAct AG hingegen findet sich erstaunlich wenig. Firmensitz in Mannheim. Vorzeigeprojekt ist die Einrichtung von Genlabors an Schulen in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Bildung und Forschung, junge Menschen behutsam an die neue Technologie heranführen und so weiter. Im Handelsblatt ein Bericht zur Situation der Gentechnik in Deutschland, der ein eher schwarzes bzw. rotes Bild zeichnet: Offenbar hat die PrimAct bereits nach einem Jahr die Hälfte ihrer Mitarbeiter entlassen müssen, Fotos von leerstehenden Labors und ein Interview mit einem Pressesprecher, der die tief verwurzelte Angst der Europäer vor gentechnischen Veränderungen beklagt. Ich liebe diese Internet-Recherchen: Wie schnell sich da beruhigend das Gefühl einstellt, Dinge unter Kontrolle zu haben.

Trotzdem bekomme ich auf Gedeih und Verderb nicht heraus, womit dieses Unternehmen eigentlich Geld verdient. Die Aktien stehen erstaunlich gut, aber das hat nichts zu sagen: Wahrscheinlich werden sie in amerikanisch-üblicher Weise entweder von der Prim­Act selbst oder ihrem Mutterkonzern aufgekauft. Offenbar hält man sich mit US-Finanzspritzen und deutschen Steuergeldern (viereinhalb Millionen im letzten Jahr) nur knapp über Wasser.

Trotzdem gehört Geschäftsführer Jost Scheuermann zum Offenen Marktplatz Europa – einem eigentlich höchst exklusiven Club von 50 Wirtschaftsführern transnationaler Konzerne, die zusammen über 60% der Wirtschaftsleistung der EU repräsentieren. Genau der Club, dessen Logo sich immer wieder auf dem Schriftsatz diverser EU-Gesetze findet. Ist die PrimAct also letztlich nur eine Strohfirma, mittels derer XSolutions in Europa Fuß fassen will? Eine Kontaktbörse zum Aufbau wichtiger Beziehungen, Hauptsache hochvernetzt?

Als ich meinen Laptop schließen will, fällt mir noch ein kommerziell-gelb unterlegtes Suchergebnis auf: PrimAct Morsleben. Was zur Hölle macht die PrimAct in einer Einöde wie Morsleben? In eben jener Gegend, in der Professor Gnüster elf neue Arten entdeckt haben will? Dieser Link führt jedoch nur auf eine Kundenseite: Ein junges Team aus Logistikunternehmern, Müller– und Bäckermeistern bietet Rohstoffe für regionale Bäcker und Konditormeister an, besondere Produkte für Lebensmittel-Allergiker.

Komme mir grob veralbert vor: Ein Global Player errichtet in einer beinahe menschenleeren Gegend Deutschlands einen Betrieb, der Brot für Allergiker verkauft? Mein bevorstehendes Wochenende wird zunehmend undurchsichtiger.

Die Banalen und die Bösen

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