Читать книгу Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen - Jchj V. Dussel - Страница 10

Ich glaube

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„FANG AN“, schnauzte Jakop, nur weil ich ihn berührt hatte.

Danach mordete er weiter und wurschtelte durch die Kiesel einer braunen Finsternis vor uns. Wir jäteten Unkraut. Seine immense Muskelkraft hypnotisierte mich. Jakop war ja krass und ich als Normalo musste das schlucken – seinen Anblick quasi aufessen, mit bloßen Händen fingernd verinnerlichen, fanatisch meine Nägel abbrechen an diesem Ausblick auf einen ackernden, besseren Bruder, ihn ganz in mich hineinschlingen, damit ich ein Schlingel wurde wie er.

„NICHT ANFASSEN!“ Jakop schlug mich von seinem gejäteten Unkraut weg.

„MACH DEINEN EIGENEN MIST“, kläffte er. Wir waren sechs Jahre alt und mein Bruder Jakop reflektierte bereits alles, was die weiße deutsche Gesellschaft im Dorf von einem Menschen mit Penis erwartete. Ich daneben wirkte phlegmatisch und dachte, ich sei ohne meinen Bruder an nichts selbst beteiligt. Jakop war blond und blauäugig, ich rothaarig und zart. Folgerichtig sah ich nur nach etwas aus, wenn er völlig neben mir stand und sein Schlaglicht in mich reinboxte. Obendrein war unser Heimatort Witterse ein trostloses Loch, in dem es eine extreme Menschenenergie wie seine benötigte, um den täglich gräuelnden Landfrust wie einen inneren Dämon unter Wasser zu halten. Jakop lieferte diese magnetische Energie. Nicht aufgrund seines biederen, großkotzigen Herzumfangs. Nein. Er polarisierte durch aggressives Temperament, durch sein Aussehen, seine makellose Wertoberfläche. Ein winziger, gelbköpfiger Heldenprinz war er. Ein Generator. Und ich sein Zwilling, was heißt, dass ich zwar wusste, wie Jakop aussah, aber unter sehnsuchtsvollem Druck stand, immer wieder und immer genauer hinzusehen, weil er der Vollkommenere von uns beiden war. Ich musste ihn immer so sehr und so täglich als so viel besser ansehen, sah ihn auch deshalb an wie eine Lösung, einen Sinn, weil, so wie er, so nämlich sollte auch ich sein. Genau das strahlte er auf mich aus. Außerdem sagten es die Leute im Dorf und meine Eltern zu mir, wenn ich neben ihm rumfleckte wie so’n Fleck neben einem schönen, kleinen Reinheitsgebot. Hätte er den Leuten ins Gesicht gepisst – bedankt hätten die sich und drei Wochen lang nicht gewaschen. Die liebten, dass seine Haare sittlich und geschwollen glommen wie echtes völkisches Hortgold verdammt, und hofften, dass es auf sie überging. Seine Haut umspannte ihn so weißrosig, dass der Anblick mich schmerzte vor Schneefraß in den Augen. Ich war blind vor Überzeugung. Ahnte damals noch nicht, dass er nicht perfekt, nicht heilig sein konnte. Ahnte nicht, dass er nicht heilsam war, dass es Heiliges als solches nicht gab. Dass, wenn in der Bibel von Gott die Rede war, der Himmelfeste und Erdumfang zur Beschäftigung für nach oben oder unten zeigende Schäfte erschaffen hatte, dass das erstens nicht heilig und daraus folgend Jakop kein Göttlicher sein konnte. Ahnte ich alles nicht. Ich glaubte ihn an der Haut und den Haaren. Mein Brudi, ein Vordruck, dem ich immer nachdruckste. So musste Mann sein.

„Das macht Mann so“, sagte Jakop immer. Sagten auch Leute im Dorf zu allem, was er eben so machte: So macht Mann das. Und aufgrund eines Geschlechtsorgans zwischen meinen Beinen musste auch ich darstellen, was „Mann“ hieß – rassiger Herr sein, also mit Ketten rasselnder, bleichgesichtiger Herrscher werden oder so’n Kram. Ich musste das erst noch lernen – er war es bereits beim Unkrautjäten an jenem Tag, als alles anfing und seine giftige Wendung nahm.

Jakop war Mann, mänschlich, manisch, mannigfaltig und ich hatte diesen Sechsjährigen beim Malochen berührt, upsi, um mir mit dem Messer eine Scheibe oder Locke von diesem rabiaten Rübezahl abzuschneidern.

Da mischte sich plötzlich Mama in unser beider Ohrenbetäubung ein und bat uns, bittenderweise, doch sauber zu arbeiten, so was wie: Entwurzelt da das Unkraut, da, und die Schnecken macht mir auch tot! Jeder Halm hier, jeder, muss auf gemäßigte Tiefe gestutzt werden. Papa holt gleich den Rasenmäher.

Sie legte die durchblätterte Bibel hin und nahm ihre Häkelmasche wieder auf. Sie hatte immer studieren wollen, jetzt war sie zum zweiten Mal schwanger. Währenddessen glänzte der von ihr heraufbeschworene Zweit-Elter mit Abwesenheit, schaute sich noch schnell die gärtnerische Inspiration vom Sportrasen im Fernsehapparat ab.

In ihrem Buch der Bücher fingerte unsere Mutter – Magda von Tann zu Ficht – guter Hoffnung nach Namen für das baldige Geschwisterchen. Einige Wochen zuvor hatte sie uns noch die Leviten aus dem dicken Schinken gelesen, nun, seit alles von ihrem schwangeren Bauch abhing, lag dieses Buch ihr etwas verschlossener zwar am Herzen, aber trotzdem immer total daneben. Das Gebibel veränderte die Luft in einem Menschen nämlich von saurer Stofflichkeit zu verheißungsvollem Odem, Geschenk Gottes und so weiter. Dabei atmeten selbst folgsame Lämmer des Herrn so was wie Abgase und Fürze in sich ein. Also echt. Als Mutter zweier sogenannter Männer in spe stand Magda jedenfalls über den Dingen, zu denen man auch ihre Kinder rechnete, und mal ehrlich, selbst mit Pullermann zählen Kids nicht mehr als Erwachsene, sind nur halbe Wesen, solange sie keine potenten Männerlenden hin und her schwenken.

Einer von diesen halbgaren, latenten Lakaien war augenscheinlich wütend auf seine „MenschMama!“, denn erst hatte sie ihn, Jakop, am meisten geliebt, dann die versöhnliche Kirche, samt Glockenturm des Vaters, wieder in ihr „Dorf“ reingelassen und bums. Schwanger. An jenem Sonntag hatte Magda uns wie als Entschuldigung Liebesknochen rausgestellt, dieses Spritzgebäck, quasi als ihr siebentes Rippchen serviert, süße Liebe, damit man sich um ihre Gärten kümmerte. Jakop warf mir den angeknabberten, vollgesabberten Puddingmops in den Nacken, „WARUM IST DIE SO FETT?!“ Oh, Boy. Wenn es nur einen Gott gab in der Welt und wenn Familie diese Welt beschrieb, so musste er, Jakop, unser Gott sein. Ein Gott, der sich allwissend nannte und dann doch überrascht war von dem Firlefanz, den die Leute um ihn herum trieben. Dennoch musste er der sein, der mächtig wirkte, und strafte und entschied über Schwester oder Nicht-Geschwister, über Himmel und Erde. Stattdessen aber hatte die Mutter dieses Gottes entschieden. Und ihn zur Gartenarbeit in ein langsam, aber sicher faulendes Paradies verknackt. Ich beleidete und bemitneidete Magda um seine immergeile Aufmerksamkeit. Für sie machte er sich die Hände schmutzig. Aber Magda hatte keine Zeit dafür. Ich schon. Über menschliche Verhältnisse braucht man mehr vielleicht gar nicht berichten. Für seine ihm bisher eigene MutterGottes, kurz MG, entwurzelte er in einem vergeblichen Schrei nach Aufmerksamkeit blindlings alles, was ihm zu viel in ihrem Paradiesgürtel war. Weder ein Schäufelchen noch eine Hacke verlangte er dafür von ihr, NEIN!, er betätigte schon höchstselbst seine eigensten, unsterblichen Überreste. Das gewöhnliche Gras hatte er weit hinter sich gelassen. Regenwürmchen bohrten sich vor seiner abtropfenden Schnupfnase verschreckt in die tiefere Erde, aber Jakops Ellenbogen steckten beide senkrecht und mittendrin. Er machte keinen Halt. Und braun war die Erde, braun wie eine Finsternis, in die mit Segen von ihm hineingesargt wurde, während Magda auf der Veranda glühte wie ein Schmiedefeuer in der Esse.

ER gebarte sich näher. Weinerlich schmollte, huldigte, zerknautschte Jakop unter der Gewichtung, die er dieser MutterGottes gab, die ihm ein ratterndes MG-Feuerwerk der Gefühlskälte antat. Warum beachtete Magda ihn nicht?

„Magda!“ Aufmüpfig strampelnd zerfetzte er sich daran, an diese unsichtbare Mauer gestellt zu sein. Ich watete indessen durch die Minuten, albern, plattfüßig, versagte dabei, ihn aufzuheitern, aber verzagte nicht. Ich war mit einer merkwürdigen Freude geboren, mit der ich jedes „So macht Mann …“ zwar hin-, aber nicht persönlich nahm.

„Guck mal, Jakop, ich hab einen Schokoladenbart!“

Die Bibel als Schiedsrichter hielt dabei stille, wie sie es immer tat, kurz bevor ein epochaler Krieg anbrach. Die MG-Munition traf. Peng. Zisch. Autschi. Mein Bruder fasste sich an die Brust. Ein romantischer Sprühwind kratzte durch beide Äuglein des Jakop und schnipste ihm glitzernd seine Jungentrauer aus den Winkeln, als drinnen der Ehemann der MG grölte: „TOOOOR!!“

Die Augäpfel Jakops leuchteten wie vor Radiolumineszenz berstende, mit Lava gefüllte Kristalle. Sein Haupthaar schimmerte weißblond, weil er ein geborener, bornierter Knabe war. Und ich versuchte, mich ihm aufs Neue mit dem Küchenmesser zu nähern, um mir selbst eine Schippe draufzulegen von ihm. Das sah er. Gott sieht alles. Hastig umschlang er den Spaten. Spaltete damit nur knapp an meinem Kopf vorbei, hinterließ einen Riss in der dünnen Luft und seine Stimme blutete daraus hervor, das könne sie nicht mit ihm machen, die Mama! ER, gebrochenes Männlein, rupfte unter dem schweren Fadenkreuz seiner Herzkrämpfe mir näher schlurfend jetzt all jene Gewächse, die noch wuchsen, als Feinde aus Mutters feuchtem Beet. ER schielte bibbernd über die Schulter zum konkurrierenden Fötus, dem heiligen Spirit, der vollends seine Magda ausgestopft hatte. Jakop schälte sich gebeugt dunklen Grünschleim plus Fasern unter den Fingernägeln hervor, die unsere Mutter ihm und uns zu schneiden nun andauernd vergaß. ER warf dramatisch, wie nur ein sich selbst behauptender Kindskopf es kann, die leblosen Landsträucher in ein krass hervorgefertigtes, tiefschwarzes Loch. Planlos und blödelnd tat ich weiterhin Gestrüpp auf die Karre, hihi, hach, schubidu, um irgendwie seine Show zu relativieren.

„Guck ma, hab ’nen Clown gefrühstückt!“, zeigte ich Schoßhund ihm den zerkauten Knochen Liebe auf meiner Zunge, als wollte ich, dass er ihn von dort absaugt. Mich drückt.

Mordlüstern, übersät mit toten Pflanzen, glühend, verwahrloste Bruderjakop an womöglich solchem Emotionsstau: Wer hat Mamas arme Seele bloß verklumpt? Den Fokus ihrer Mutterliebe verstellt? Dieser reinen Frau in die Knospe geschraubt? Ihr mit einem Bienenstich das florale Motiv bestäubt und diese grotesk genabelte Monatshefe in der Wabe festgespeichelt? Jakop wusste alles nicht so genau, strengte sich merklich an, die Welt wieder zu meistern, ihr Herr zu werden, Herrgott noch mal, aber sie, die große, immer größer werdende Mutter, erhörte keinen seiner wimmernden Wünsche, als sie den Ruf zur liebesknöchernen Messlatte mit lang winkenden Worten wie Lanzen in seine perfekten Gehörgänge einstößelte: „Kein Süßkram heut, Jakop? Magst die Liebesknochen nicht? Schau mal, die Mama, so schwanger! Ist das nicht schön? Brüderchen, Schwesterchen“, er konnte es nicht mehr hören, „ganz klein, ganz Baby, ganz süß, freust du dich schon?“

Sein Gesicht schrie wie eine Stimme: NEIN!

„Vorsichtig, gleich bewegt es sich, nicht so grob, Jakop! Hier, fühl mal, fass ruhig an, FÜHL MAL!“

Unlängst übersäten all seine Abfälle den äußersten Rand des Gartens. Selbst nackendicken Wurzeln schnipselte das Bübchen haargenau die Gurgel durch, als sei ein Wurz jemandes Atemwerkzeug, gerade als sich das Familienunglück Bahn brach, weil Magda der Dotter im Ei donnerte.

Eine Packung mogelte sich aus unserer Mutter Schmauchstelle hervor, zunächst tröpfchenweise. Sie vermutete den Vorgang nur, während Jakops Augen vor Sterbenswut zu platzen drohten. Denn zu allem Überfluss begann Magda ein Lied zur Beruhigung ihres Kugellagers zu singen. Sein Lied. Damit wählte sie die ganz falschen Strophen für ihren Unterleibskampf und entfächerte ein Brennen in Jakops Überlebenskrampf mit dem von ihm sonst so geliebten –

„Bruder Jakob, Bruder Jakob“

Viel interessanter als einen Bruder Jakop fand sie dann nämlich doch die unfassbare Gärung unter ihrem Busen, streichelte die Wände dieses reifenden Früchtchens, dieses bald namentlich heißenden Heißluftballons. Das waren doch Wehen gewesen, oder wehte der Wind? Kind, himmlisches, klemmt’s etwa?

„Schläfst du noch, schläfst du noch?“

ER jedenfalls schlief nicht. ER flüsterte und bettnässte wie in Trance, sprühte Verachtung schäumend aus seinem Schandmaul heraus, „Mannooo“, sich an dieser beschissenen Schöpfung mit gutgemeinten Geschenken zu rächen.

„Hier die Blumen, Mama!“

Das Lied singend überhörte unsere MG aber sowohl ihn als auch das schiedsgerichtete Gejohle ihres Gatten beim zweiten „TOOOR!“

(Jakop und ich nannten den Vater lieber Förster, aber dazu später Mär. Der Typ stellte den Fernseher sowieso lauter, wenn Jakop rotierte. Fußballpublikum heulte unverständliche Anfeuerungsrufe so wie auch Förster unverkennbar „Ja, MACH IHN REIN“ grölte.)

Und Jakop heilte den Strauß schräg in die Luft wie ein Faschist: „Für dich hier die Blümchen!“ Wahnwitzig spie er Schnodder über schwellgekaute Lippen, biss sich närrisch in sich fest, wollte mal sehen, wen sie lieber mochte, ihn, blumigen Mann, oder das baldige Baby, wollte das offene Feuer der MG erwidern, wenn ihr Neuankömmling die Kampfansage nicht bald zurücknahm. Wozu hatte Magda ihn denn hergestellt, wenn er ihr jetzt nicht mehr gefiel? Gefiel er ihr nicht mehr?

„Muttiii? Oh Manno!“ Das gestattete er nicht. Niemals. Nein. „Bitteee, Mamaa!“

Knapp schaute die Überforderte ihm direkt vor die Füße, bloß ein Reflex. Das genügte. Darauf zerplatzten die zarten Knötchen in seinem Hirn. Jaulend raffte Jakop alle letzten lebenden Dinge nun komplett aus der verbliebenen Rasenaufschüttung, viel war ja nicht mehr übrig, außer mir und meinem Schokoladenvollbart. Das merkte auch Jakop. Er verlor völlig die Kontrolle über sich, schubste mich in die von Dornstrippen umdrahteten Bombeneinschläge, die er händisch ins Geblüm geprotzt hatte. Boxte mich. Schlug. Das war ein herrlicher Körperkontakt. Und ich, Ulknüdelchen, von Wonne benebelt, würde mich nun drei Wochen nicht waschen.

„Hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken?“

ER drückte meinen Kopf in die weich durchwurmte Braunerde, schlug seine Empörung mit der gerechten oder rechten Faust von oben nach. Sicher ist sicher, und „ICH WILL KEINE SCHWESTER“, hackte diese Bestie mit Handkante auf mich nieder, während unser Muttertier umstandsmodisch die neue kleine Kreatur in sich beschwor.

„Ding dang dong, ding dang dong“

Ihre Breitengrade reibend, setzte sie sich in Bewegung, sodentbrannt. Zu laut störte es mittlerweile von der Kinderarbeit zu ihr hinüber, diese Faxen hätten sie kirre gemacht, kreischte sie verzweifelt, noch ehe ihr die Hutschnur riss. Rief nach Hilfe, doch vom Fernseher nur Tribünengesänge. Fahrig gestikulierend verließ sie den Sessel, stieß ihn von sich, breitbeiniger als immer, kreißend. Es traf, wie es eintraf. Entkorkt parfümierte Magda die Sintflut aufs Unterholz, woraufhin Bruder Jakop mir den frisch enthobenen Garten mit einem ähnlichen Planschen in meine Schnute direkt hineinservierte, mich abrichtete, Kirchenglocken einläutete, ding!, ich hätte es gewusst, dang!, was für ein Verrat, dong!, sein eigen Fleisch und Gut! „ICH WILL DAS WEGHABEN, SCHEISSE“, von schräg oben jätete er schräg auf mich herunter, dass ich Pflanzenleichen sogar in die HalsNasenOhren bekam, „DIESER FETTBAUCH, SCHEISSE“, stopfte er rasend mehr Rasen hinzu, um noch schneller zu vollziehen: „So! NICHT! MEHR!“

Jakop, sechs Jahre, wahrlich ein Richter. STIMME, oh, Gott in meinem Kopf. Und ich glaubte: So soll Mann sein.

Ich wollte alles daransetzen, mir die bereits erwähnte Scheibe von ihm abzuschneiden, ich wusste nur noch nicht wie. Aber ich würde es tun. Ich freute mich so darauf. Das Leben würde großartig werden, als eine Scheibe von Jakop!


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

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