Читать книгу Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen - Jchj V. Dussel - Страница 14

Die Taufe

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sollte also meine Feuertaufe werden.

Jakop fühlte fälschlicherweise seinen Thron wiederkehren und ich wollte daher bloß weg hier, bevor die Bombe platzte, gleichzeitig dabei sein, wenn er den ganzen Laden zerfetzte. Kernfamilie adé! Ich sah das Ganze schon vor mir. Sein Haigebiss glänzte ausgeformt, als ob mehrere Sägewerke sich ineinander verkeilten, so happy war der. Wie konnte er nur so fest an etwas glauben? Nicht auszuhalten! Und ich musste das auch, um zu sein wie er. Seine Augen strahlten mit Kilowatt, brummten ihren Heißhunger akustisch in uns Schlappohr-Insassen des Hauses. Ich spürte diese Elektrizität über meinen Nacken wandern, als wir zwei von Förster in winzige Sakkos reinmontiert wurden.

„Den Arm hoch, los!“ Jetzt ging es ganz schnell. Mehrere Wagen reihten sich auf der offenen Straße hintereinander. Regen pappte von außen gegen die kalten Autoscheiben. Ich hauchte gegen die Kälte und malte mit dem Finger einen Pfau mit aufgeschlagenem Federrad in den zweidimensionalen Nebel. Hätten unsere Eltern so viele Augen gehabt wie Rebe-Scheelke Pfauenaugen – für jedes Schülerchen eins, auf jedes Kind einen Blick – vielleicht wäre der Tag gerettet gewesen. Aber auch ich hatte nur Augen für mich selbst.

Vor einer angespitzten Klinkerkirche kam die Flotte zum Halt und es klappten alle beteiligten Fünftürer dem Gotteshaus ihre Flügel entgegen. Menschen leerten sich aus den Mobilen. Prompt heulte das Würmchen. Jakop wollte Hand halten. Nicht jetzt, das Kind weine! Wurm im weißen Tuch mit Schleife, wie ein Abschiedsgeschenk. Jakop suchte seiner Mutter beidhändig hinterher, zog mich dann mit und wir stürzten aufrecht in die schönste Pfütze, dass wir klatschnass dalagen. Nur mit einem Ohr bekam ich unter dem Glockensound mit, wie das Grimm ihm aus der Hand in die Gegend segelte, als habe eine übergeordnete Macht es ihm vorm Eintritt ins Kirchenschiff aus der Hand gerudert. Begossen halfen wir uns auf, jetzt merkte ich, dass er was merkte von der Atmosphäre des Rituals. Und ich sagte: „Jakop, hör mal.“ Doch der Prozess hatte Anlauf genommen. Was für ein Mist, dachte ich, sodass er es hörte.

Was hier überhaupt los sei? So habe er sich das nicht vorgestellt! Zunächst schaute Jakop um sich, schaute aus, nach dem Buch, aber nur Füße stachen in Sicht. Wasser sprühte uns in die Kleidung. Hilfe! HILFÄ! Eine ältere, riesenhafte Hand schnappte nach Jakop und zog ihn mit sich in die Betfabrik. Er, völlig betroffen. Mutter weg. Buch weg. Alles vorbei. Weiter schubste uns die Hand, an Bänken vorbei, auf einen trockenen Platz. Neben Jakop mit jenen Händen so groß, sortierte eine alte Frau, eine größere Mutter, lang und fristig ihre Stabfinger, die genauso dünn waren wie tote Fichtenzweige im Wald. Eine weiße Erscheinung. Oma Maria. Die einzige Großmutter, die wir hatten. Und sie war wahrhaftig die größte Maria oder Mutter von allen im Raum.

„Oma, ich hab mein Buch ver-“

„Gib Ruhe!“

Weiter vorne versammelten sich MG, Förster und Würmchen mit ein paar Unbekannten und einem länglichen, schwarz behangenen Wichtigtuer. Der hielt seine Handflächen den Zuschauern hin. Jakop krallte in das Kleid der großen O hinein und beruhigte sich nicht.

„Was passiert da jetzt, warum stehen die so doof rum? Warum haben die ein Kissen dabei?“

Das Kissen sei unsere Schwester, antwortete die große O, das sei der Täufling.

„Ist sie kein Mädchen mehr?“

Das nenne man nur so.

„Ich will aber auch Teufling sein, Oma!“

Er sei doch schon längst einer gewesen, heute werde das Würmchen auf einen Namen getauft.

„TAU FRISCH“, brüllte Jakop. „Wer gibt denn dem Teufel seinen Namen, Oma?“

Na, seine Eltern.

„Und Oma, wer hat dem Gott seinen lieben Namen gegeben?“

Einige Reihen vor uns drehte sich ein Junge nach Jakops Gezeter um. Ich kannte ihn vom Sehen, aus dem Schulbus – dort saß er immer allein, weil er sitzengeblieben war. Dummheit sei nämlich ansteckend, klönten die Clowns und fleißigen Denunzianten, namentlich die anderen Kinder. Sie impften sich gegen seine Dummheit, spielten Ticken – tick du bist – und gaben sich dabei seine Krankheit ab oder impften sich dagegen. Sie setzten ihn auch unter Kugelbeschuss, aus Klopapier gemischt mit Kinderspucke. Manchmal hatte ich ihn dabei angeschaut. Seine Klamotten stanken nach Passivrauch. „Ist deine Mutter ein Hase, sag mal, ein Karnickel, hat dein Vater mit den Kaninchen gebumst? Sag schon, Tick du bist! Tick, geimpft.“ So bespuckten sie den „kranken“ Jungen im Stadtgebiet Durenbuschen und ich fand faszinierend, dass ich nichts darüber wusste, über die dicke Lippe, die er riskierte, und wie er nichts dabei zu spüren schien, wenn die Kinder ihn spüren ließen, dass seine Lippe geteilt war. Sie hatten den Jungen auf den Namen Hasenscharte getauft. Namen gaben die anderen, tragen durfte man selbst.

Aber zurück zur Taufe. Einige Meter weiter vorne stand jetzt der schwarz gekleidete Showmaster Pastor Pfarrer und pries einen dezent angedeuteten Herrn vom überdimensionalen Christus am Kreuz auf die zahnlose Schwester drauf.

„Wie heißt das Kind?“

Lena.

„Ich taufe dich auf den Namen Lena, im Namen des Vaters!“ Er tauchte das Mädchen mit der Stoßhand eines schlachtenden Hirten in den Bottich. Jakop beurteilte das mit halbstarkem Applaus: „Die weint ja, die will das überhaupt nicht! HAHAHA!“ Derweil wunderte ich mich, dass die klassenkameradschaftlichen Höllenfeuerer mit ihren Spuckebällchen zahm wie Teelichter waren, zwischen all den sündhaft schwitzenden Vorzeigegläubigen. Im Hause Gottes macht der Raum betreten, nicht der Eintretende den Raum. Hasenscharte glotzte mich jedenfalls an, dass es mir kalt den Rücken runtertriefte.

„Was heißt es, Kind sein?“

Lena!

„Ich taufe sie: auf den Namen: Lena, im: Namen des: Sohnes!“ Der arisch-pathetische Pastor übergoss ebenso arhythmisch wie er sprach das sensible Köpfchen, rigoros, mit großen Schaufelhänden, er überschüttete die heulende Fee, er flutete aus dem Becken auch noch die letzten flüssigen Inhalte über die ärmlich behaarte Babystirn. Fantastisch beschleunigte Jakop sein Klatschen, um einige Zuschauer damit anzustecken, „Gleich fällt der Kopf ab, wie geil!“ Gegen diesen Charmebolzen half keine Impfung mehr. Einige Teenager beömmelten sich schadenfröhlich über diesen inkorrekten Knirps und ich fragte mich, ob Hasenscharte sich inwendig unverwendbar fühlen mochte oder menschlich, wegen des Zufalls, welchen ihm der liebliche Gott hatte zuteil werden lassen, direkt ins Gesicht: Anders zu sein. In mir schlummerte da auch etwas, aber ich hatte noch keine Sprache dafür.

„Was verheißt dieses Kind? Lena? Ich taufe den Namen Lena auf dich obendrauf, im Namen des Heiligen Geistes!“ An seiner Toleranzgrenze angekommen, besprengte der Vollstrecker im Talar die müdegeheulte Würmin mit den übrigen Tropfen Kaltwasser. Es war vollbracht.

„JAA, WEG MIT IHR IN DEN MÜLLSCHREDDER!“ Mehr brauchte niemand zu sehen. Ekstatisch empfing Jakop, der nun auf der Bank stand, die Erlösung, die Heilung durch Wurmtod, das Ende seiner Verbannung aus dem Muttergarten Paradies. Und ich lachte vor Angst ein wenig und weinte vor Verlegenheit, versuchte ihn am Hosenbein wieder runterzuziehen. Er bestärkte nickend das schöne Glück dieser Welt. Lieb und göttlich fasste er meine Hand, hob damit seine eigene Hand wie die eines Champions, glich sich selbst wie kein anderer, brach durch die Fans, „Hallihallo, ihr Otzen“, die sich zu beiden Seiten auftaten vor ihm, passierte die Bänke, sprintete aus dem Gebäude, ohne Autogramme anzukreuzen, mich wie ein abwinkendes Taschentuch hinter sich her lüftend, großartig. Er sei endlich frei, krachte er ins Wolkengrau hinauf. Endlich sei er wieder da, zwitscherten die Vögel irrwitzig. Ein einsames Eichhorn winkte ihm zu. Und weil ich danebenstand, alles mit angesehen hatte, was er sich gerade einbildete, weil ich wusste, dass die Würmin wie zuvor im Arm der MG rumlag, beschloss ich, mit dem Leben abzuschließen, so fest hielt er meine Hand.

Es hatte aufgehört zu regnen und aus dem Kirchentor hinter uns schritt zunächst einiges an unbekannten Gemeindegestalten. Dann Hasenscharte, gefolgt von einem Schwarm frühreifer Plagegeister, die ihn direkt im Freien sofort wieder ins Visier nahmen. Ohne Vorwarnung blieb er stehen und sah statt seinen Peinigern mir direkt in die Augen.

„Du kommst auch noch dran“, prognostizierte er, drehte ab und gemeinsam rutschten er und seine Folterer allesamt durch einen Sog, oder eine Einfahrt, nach links unten. Dann trat die große O auf den Plan, unsere Oma, ihre Großhände schüttelten dankend den weichlichen Pastor persönlich, eine mächtige Ehre wurde ihr zuteil, Gottesnähe. Dann beugte sie sich mit Glubschaugen zu dem kleinen Goldkopp und verkündete ihm: „Du bist ein ungehobelter Beelzebub, der liebe Gott wird dich dafür bestrafen, ehe die Kleine sprechen kann, ich prophezei’s dir.“

„Welche Kleine“, fragte Jakop ängstlich.

Verflucht solle er sein, der Bengel, verflucht, dass er nicht die heilige Taufe, nicht seine eigene Mutter, nicht irgendetwas respektiere! Verflucht, er, alle beide, das könnt’s ja wohl nicht sein! Der Pastor nickte lächelnd und die beiden verschütteten sich auch in die Böschung nach links unten, gerade als ich der Oma eine hauen wollte, weil sie so dreist mit Jakop sprach. Er brabbelte nur: „Welche Kleine?“

Aus dem Gebäude trat da eine Frau, sie hieß Magda und trug eine Last. Aber was genau hielt sie in ihren gefeilten Nägeln? Ein Kind. Das elende Kind. Die Würmin. Die liebliche Blutsschwester Lena. Jakop blieb der Anblick einen Moment im Halse stecken. So lange, bis die MG beleidigt in das Auto umgestiegen war und ihn mit hineinbat. Es gebe gleich Essen und die Gäste uns dann den Rest. Er solle sich beeilen, Vati holt schon mal den Gürtel raus. Und: selber schuld.

Erledigt schluchzte Prinz Goldgott am Montag danach in den offenen Hemdkragen des Busfahrers, um sich irgendwie wo angenommen zu fühlen. Herbert setzte sich diesen jungen Mann auf seinen Schoß und wog ihn beschwichtigend auf und ab. Jakop könne immer zu ihm kommen, das wisse er hoffentlich, dass dort immer ein Platz und Bettchen für jemanden wie ihn sei, oder? Ein Bettchen? Ein Platz? Ja, das wisse er.

„Na gut“, sagte Herbert geschäftig, hier sei die Telefonnummer und Adresse, er schreibe es jetzt auf, und wenn es wieder ein Problemchen gebe, wisse Jakop Bescheid. Ja, wisse er, okay. Tränen wurden getrocknet, Herzen geflickt fürs Erste und ich saß nur daneben, konnt’s nicht glauben, aber hielt meinen Mund.

In der Klasse versank Jakop fortan auf seinem Stühlchen. Die Haare knittrig wie altes Lametta nach eskalierter Familienweihnacht. Sein Wille welkte dahin. Er war trotz Herberts Liebe entwurzelt, furztrocken.

„Hoffnung“, sprach und schrieb Melissa in der Fünfminutenpause an die Tafel, als Rebe-Scheelke, wie immer in Türkis gekleidet, klipp und klar das Klassenzimmer betrat. Überdrüssig prellte sie ihre Mappe gegen den Tisch, begann alles, was Melissa als ihren Wochenendbericht bezeichnet hatte, von der Täfelung zu scheuern.

Melissa: Aber!

Rebe-Scheelke: Klasse.

Sie stand vor der Tafel, leise, privat. Ich mochte das. Rebe-Scheelke hatte dieses Jenseitige an sich, das ergriff mich. Besonnen hielt sie sich mit einer Hand den Ellenbogen des anderen Arms, als hätte sie sich gestoßen. Langsam sahen alle Dorfkinder auf. In der engen Klassenkammer wurde es ganz dunkel, weil draußen nix mehr war an Einsicht zum Raum erhellen.

„Ich entschuldige mich für gar nichts mehr“, sie sagte es wie zu einem Publikum, „ich werde nicht mehr eure Lehrerin sein. Mann hat mir die Lehrerlaubnis entzogen, weil ich Mädchen neben Jungen gesetzt habe, oder was auch immer der offizielle Vorwand ist. Die unterstellen mir, eine Frühsexualisierung zu befördern!“

Melissa flüsternd: „Eine was?“

„Dabei teilen die doch alle in zwei Lager!“ Frau Rebe-Scheelke wandte sich zur Tür.

„Und weil ich ein Dazwischen angesprochen habe, ein Jenseits von“, ja, dachte ich, ja, erzähl mehr davon!, aber sie fuhr eisern fort, „lasst das nicht mit euch machen!“ Sie, türkis, im schwarzen Rechteck des Ausgangs mit dem Rücken zu uns: „Die Männer denken, sie wär’n das Einzige unter der Sonne, und einige protestierende, sogenannte rechte Damen denken, dass sie ohne Männer nichts wär’n! Oder mit ihnen auch welche werden. Unterschriften gesammelt! Peinlich. Peinlich!“ Sie drehte sich zu uns um: „Die haben Angst. Angst wovor denn?!“ Rebe-Scheelke drehte den Kopf wie eine Eule.

„Fürchtet nur eure Furcht, ihr Stöpsel. Lacht kaputt, was euch kaputt macht“, sie seufzte, „dieser Job, dieser Chef, dieser Direktor Rattinger! Da geh ich lieber wieder Fasane züchten.“ Darauf hob sie abtrünnig den Scheitel zur Decke, merkte, zu wem sie da sprach, pustete losgelassene Haarsträhnen aus dem schweißfeuchten Profil. Vor Scham glühte ihre Aura, oder war es Ironie, so was wie Humor? Sie sagte, ohne jegliches Verspüren in der Stimme: „Geht nach Hause“, sie lächelte, „wer immer das ist.“ Dann verließ sie den Raum.

Und Jakop hob langsam den Kopf vom Tisch. Er flüsterte rachsüchtig: „Mach kaputt, was dich kaputtlacht.“ Er hatte sie falsch verstanden, dachte ich und machte mir nichts draus. Aber sieben Tage nach Rebe-Scheelkes Abgang verübte Jakop den Mordanschlag auf unsere Schwester.

Am 1. April 1998, einen Tag vor unserem Geburtstag, schob er einen Stuhl an den Herd, um behilflich zu sein. Das Telefon hatte geklingelt, seine MG drauf und dran am Apparat. Während wir „kurz aufpassten“, zerrührte Jakop sein Leibgericht mit dem längsten Löffel. Ich hielt Lena an ihren beiden Speckhändchen. Sie war gar nicht so übel, eher eine Art fröhliche Wärmflasche. Hämisch vorm Topf winkte der Fachmann mich rüber, „SCHNELL, SCHNELL, nimm den Löffel, rühr die Linsen, rühr sie gut,“ sagte Jakop. Wir tauschten Plätze, weil ich es zuließ. Dann humpelte der Spitzbube, der mein Bruder war, wie Rumpelstilzchen um sein eigenes Feuer, gab sich seiner seelischen Entzündung hin. Weil ich es zuließ, hatte ein sechsjähriger Tathergang freie Fahrt. Er pirschte sich an Lena ran, weil der Mensch auch ein Tier ist und eben pirschen kann. Ich wollte es alles nicht wissen. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, aber ich war offen für alles, außer diesen Herrscher zu missen. Seine eigene Schwester hob er erzfeindlich empor. Zum ersten Mal berührte er sie und Lena fiel mir nichts, dir nichts in einen Schlaf, den er ihr einflüsterte, den er ihr wirklich einflüsterte, mit seiner STIMME, den er ihr irgendwie einflüsterte, das schwöre ich bei meiner Beobachtungsgabe. Mit einem leichten Geräusch rutschte das holde Gewürm in sein rotes Rucksäckchen hinein. Jakop zurrte die Schnur zu. Der Wichtel lachte vernichtelnd und sprach: „Rühr, bis ich wiederkomme, HÖR NICHT EHER AUF!“

„Was machst du?“, fragte ich bissig, weil ich’s wusste, bevor er durch die Hintertür vollends entwischte. Er gackerte in eine grauenhafte Ferne, in die er hineinverschwand wie ein kleiner Troll. Also rührte ich seine Linsen. Es duftete arg toll, weil ich meinen tollkühnen Kopf voll über die braune Brühe hielt. Bei so einem dummfarbenen Duft konnte mensch sowieso nicht denken. Ich wollte mich ablenken, oder mal kosten, vielleicht mich ertränken. Extrem viel blieb ja nicht, wenn ich extrem peinlich mit Jakop mithalten wollte, sein sollte wie er, der Sonnenschein, der soeben unsere Schwester entführt hatte. Was der sich jetzt wohl aus ihrem Leben machte? Ich rührte sein Linsengericht und wurde Komplize, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Ich sagte so gar nichts, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Ich hielt ihm den Rücken frei, obwohl ich wusste, dass er falsch war. Fragte mich, wie lange es dauern würde. Ob ich den Tisch decken sollte. Er würde sicher schrecklichen Hunger mitbringen von seiner Tortur. Plötzlich wurde mir klar, dass ich ihm niemals mehr entkommen würde, wenn nicht jetzt. Wenn ich nicht jetzt in diesem Augenblick meinen eigenen Mund aufmachte. Aber wie sollte ich ohne ihn eine Entscheidung treffen? Wie denn, wenn, scheiße, wenn, ich keine Scheibe von ihm abhatte, oder keine Goldlöckchen, wie Rebe-Scheelke sie toll gefunden hatte? Ich rührte im Kreis.

Jakops MutterGottes beendete das Gespräch und crashte meinen innersten Monolog, als sie eintrat. Zunächst musste sie sich orientieren an dem, was rührte. Zwei fehlten. Ich schwieg. „Da fehlen doch zwei.“

Ich schwieg und schwieg zweimal. Sie zog meinen Kopf aus dem Dampf und stellte die Herdplatte auf Null. Sie sah mir in die Augen. Warum hatte ich das vorher nie erfahren? Ihre Augen rauchten dieselbe strangulierende Taktik aus wie seine. Unter Augen wurde ich biegsam, da krachte ich. Wehr dich, dachte ich. Sie will dich ruinieren. Du musst seine Verschwörung mittragen, dann hast du ihn, dann gehört er dir, dann wirst du so perfekt wie alle ihn finden, endlich gesehen, als Berserker, heute noch, von ihm, noch heute wird er dich lieben wie sein echtes Spiegelbild, einen wahren Zwilling. Die Mutti ließ das so stehen. Sie rief durch die Küche, durch das Haus, zog mich mit hinaus, suchte im Garten, weckte die Nachbarin Tante Gretel auf, die habe nichts gesehen, habe sich erst vor Kurzem dort hingesetzt. Hektisch packte Mutter Magda meinen Körper, denn es waren schon Hunderte Minuten vergangen, Tausende Sekunden, als Jakop, stolz wie töricht, aus der Küche lugte, die Mahlzeit sei angerichtet, der Tisch sei gedeckt. Magdas Aufmerksamkeit hastete aus einer emotionalen Prärie auf die Mitte seiner fleischlichen Vertäfelung. Ihre Augen stachen in ihn ein ohne Liebe. All ihr Schimpfen ließ er so zu, nur reden wollte er nicht. Er grinste bloß und grinste mehr, bis sie uns ohne Essen ins Bett schickte, Licht aus, die Tür schloss. Draußen schrie sie nach dem Kinde. Auweia. Jakop saß vor mir, ein wunderschöner Erdenkloß mit Odem drin. Und ich traute mich geradeso zu fragen: „Jakop, was hast du getan?“

Er grinste, er habe sie so gerngehabt. Er habe sie gefressen.

Ich berührte sein Bäuchlein, zu tasten, ob Steine drin waren, und er ließ mich. Jakop heulte wie ein Wolf, aber ganz leise. Und ich fragte: „Wo ist sie?“ Er grinste weiter. Irrsinnig. Er lachte. Er war so glücklich. Sein Mund riss wie ein Sack Reis und heraus rieselten seine messerscharfen Erfolgsrezepte als blitzende Lacher. Er konnte es einfach nicht für sich behalten.

„Auf dem Hexenberg ist sie, AUF DEM VULKAN. Da soll sie VERHUNGERN.“

Unten knallte die Tür. Der Förster kam lausig die Treppe heraufgezaust, riss der Tür den Türrahmen ab, genervt von uns allen, ruppig. Er erntete mich von Jakop ab. Ich sei der schlimmste im Kreis der Familie, wenn ich schweige, sagte Förster, hob die Hand gegen mich und ich ringelte wie ein Wurm unterm Hagel mich ein. Wir kannten das schon, aber blöd war’s trotzdem. Försters Bart war furchtbar dicht, wie eine Wolke aus Borsten, eine graue Wolke von oben, mit Regen aus Händen, aus flachem Zement. Da verriet ich mein Ideal. Konnte nur auf das Waldhaus deuten. Hände warfen mich zurück und Jakop staunte nicht schlecht, als er mich aufpäppelte. Ich hatte ihn also verraten?

„VERRAT!“, brüllte er und trommelte gegen die vernagelte Zimmertür. „VERRAT!“ Dann: „Das Waldhaus?“

„Ja“, meinte ich. Er lachte.

„DU IDIOT“, rief er, „du DUMMER Idiot! Und das will mein BRUDER, mein ZWILLING sein?“ Jakops Worte härter als Försters Zement. Es klingelte jäh an der Tür. Tante Gretel hustete an zehn Zigaretten: „Da heult was auf meinem Dach.“

Jakop, der an der Tür mithörte, fiel die Sicherheit in Scherben aus dem Gesicht. Magda hielt inne. Förster sprang los, sprang auf das Dach wie ein Kater, wie ein jugendlicher Boy. Er brachte das verlorene Töchterchen heim, denn es lebte ja noch. Dann konfrontierte er uns. Kurz und krachend setzte er mir und Jakop jeweils ein sattes Gemetzel auf den Arsch. Dann kehrte er uns wie Dreck von seinen Knien, strich den Bart wieder glatt und verließ das Zimmer. Jakop, den Kopf arg in sein Kissen gepresst, brüllte drauflos, steigerte sich hinein und heulte erneut wie ein Wolf, grollte, kläffte und wütete. Ich lag nur da und sah hin, wie er sich hingab, wie er schrie, SCHEISS SCHLAMPE, wie er wirklich und wahrhaftig ins Kissen schrie, SCHLAMPE, SCHLAMPE, wie es erneut die Treppe heraufpolterte, SCHEISS LENA SCHLAMPE SCHEISSE, wie es nicht einmal anklopfte, um hereinzuplatzen, hoch erhoben und wieder aus Händen die Verwüstung, wie hurtig der Vater auf den heiligen Geist des Sohnes gurtete, der wiederum mithielt und auch zuschlug, WEIL SIE EINE SCHLAMPE IST, DU ARSCH. Doch der Förster drückte Jakop nieder, von schräg oben hielt er schräg auf ihn herunter. Um schneller zu vollziehen als der Förster, betätigte Jakop seine sämtlichen Körperteile in alle Richtungen, schleuderte sie dem Biertrinker in den Bart, WAS WILLST DU ÜBERHAUPT, ARSCH SCHLAMPE SCHEISSE, bis seine MutterGottes dazu stieß, Jakop verdrehte seinen Körperbau in die erwachsene Richtung, sah ihr in die Augen und spuckte dann dem Förster ins Gedicht. Rasant schnellte aus der Distanz die Ohrfeige der Mutter gegen Jakops Kiefer. Rechts, links und dann noch mal so richtig schmerzhaft, das konnte man wirklich miterleben, durch die herabklatschende Fleischgewalt, rechts in sein goldmundiges Ebengesicht. Die glatt gecremte Hand prallte so deftig, dass er hinüberflog, flach lag und hätte bluten können, wäre er nicht ein Knabe gewesen, der schrecklich abwartete, bevor er was losließ, der ihr nun in die erschrockene Visage sah und endlich aus seinem Wahn aufwachte, als Magda hemmungslos anfing zu heulen, sich bei ihm entschuldigte, Küsschen, oh, mein Schätzchen, es tue ihr so leid! Im Gegensatz zum körperlichen Abholzen eines Forstbeamten sanken ihre Schläge nämlich in den schwächsten Muskel, ins Herz. Und es waltete eine unvergleichliche Ruhe, als sie ihn festhielt, der Förster eine Beteiligungsmöglichkeit „suchte“ und sich hinab ins Wohnzimmer verging. Doch Jakop legte die MG von sich ab, aus der Mode gekommen, wertlos, verlottert, sie habe keine Munition mehr. Hoffnungsgeladen lächelte sie ihn trotzdem an, über die Wange streichelte sie ihm noch, als er ihr sagte: „Ich hasse dich. Bist so egal.“

Unbezahlbar.

An dem Abend war er mein. Er schaute mich an, als wir in unseren Betten lagen. Er schaute sich lange in mir, wie in einer Glasscheibe, an. Es habe keinen Zweck, gestand er mir. Es würde nie wieder wie früher sein. Das verstand ich und diesmal grinste ich. Es gab also nur noch uns zwei. Von nun an würde alles besser werden, sagte ich. Er zog die Decke über sich, verbarg sich unter ihr, wie ein Ball Lava unter der Erdkruste, wie ein schlafender Vulkan sich versteckt. Und auch ich schlief seelenruhig ein, in meiner Hand das Unkrautmesser, bereit, mir später in der Nacht meinen gerechten Anteil rauszuschneiden.

Der nächste Morgen kam. Am Fußende meines Bettes wankten die Eltern. Nein, wankte der Förster. Tat nichts mit den Augen, die da Löcher waren, tiefe, dunkle Löcher.

„Wie vom Erdboden verschluckt“, sagte er und ich wusste ja wirklich von nichts. Wie hätte ich so was auch wissen wollen? Draußen Blaulicht, oder das Morgengrauen, oder beides.

„Wie vom Erdboden verschluckt?“, fragte ich und der Förster schüttelte den Kopf, während er nickte. Draußen schlugen Wagentüren wie bei einer Geburt. Ich konnte es nicht glauben. Jakop war ohne mich gegangen? Einfach ausgerissen? Abgehauen? Mein Herz lag gebrochen in meiner Rippenschale. Wie hatte er so fest glauben können, dass ein Bettchen anderswo, ein Platz anderswo besser für ihn waren, als die Aufmerksamkeit der MG, besser als ein Plätzchen hier bei mir? Wie hatte er so fest an diese Religion glauben können: an sich ausschließlich als Sohn, statt auch als Bruder?

In dem Moment muss es gewesen sein, dass ich völlig die Fassung beziehungsweise völlig die Fassade verlor. Ich stolperte, fiel in den Schlagschatten seines Vulkans, der Bettdecke, die nun zurückgeschlagen dalag wie ein aufgesprengtes Gestein, ich stürzte in den Umriss an ihrem Fuße, wie in eine abgeschnittene Scheibe, eine Pfütze, in der ich aufprallte und deren Essenz von meinem Körper aufgesogen wurde wie warmes Dreckwasser von einem Schwamm, sie füllte mich ganz aus. Meine Haut wurde grau. Ja. Wirklich. Einfach grau. Wie Asche. Oder sie war immer schon so gewesen, farblos – und ich sah mich einfach zum ersten Mal selbst? Ein Grauen: Er war weg und ich war noch da. Das verstand ich nicht. Das ergab keinen Sinn.

„Ich bin hier“, sagte ich. Vielleicht hieß es, ich war endlich besser geworden, brauchte ihn nicht mehr, um sichtbar zu sein? Aber Quatsch. Ich lachte. Er trieb einen Spaß mit mir. Endlich trieb er Späße mit mir. Endlich vergötterte er mich. Ich war so glücklich und wartete nur darauf, dass er unter einem Rand hervorlugte, hinter einer Wand und mich in den Arm nahm.

„Bruder Jakop, SCHLÄFST DU NOCH?“, rief ich voll Vorfreude, äffte ihn nach, seine Stimme sogar, Gott, ja, ähnlich wie andere, die in diesem Land mit einem GROLL manchmal MELODRAMATISCH ihre STIMME über andere ERHOBEN, betete ich nun zusätzlich von unten nach oben, zu einer zweiten, inneren STIMME, wenn ich mit IHM sprach, glaubte…

glaube ich

… AN GOTT, DEN BRUDER, DEN ALLMÄCHTIGEN, DEN SCHÖPFER DES HIMMELS. MEINER ERDE …


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

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