Читать книгу Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen - Jchj V. Dussel - Страница 15

Die neue Zeit

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brach an wie ein sonniger Wintermorgen.

Ich glaube, von der MG gelernt zu haben, wenn ich nur fest genug glaubte, dass jemand da war, dann war er auch wirklich vorhanden. Und Jakops Inschrift stand schließlich auf einer Steinplatte wie ein Versprechen. Der Dachziegel, wie bei diesem Bibel-Onkel, den sie Moos nannten, der mit brennenden Büschen redete. Mir war also klar: Wenn das auf einer Steintafel steht, ist Jakop noch hier. Warum zogen dann aber alle anderen solche Gesichter?

Auf Tante Gretels Dach schlotterte ich trotz der Kälte hoch, weil ich fürchtete, ein Regen könnte seine einmalige Ich bin hier-Verewigung, die Kreide auf dem porösen Sandstein, auswaschen. Ich tat das für uns alle. Ich hatte noch am selben Morgen meinen Schlafanzug, den blauen mit den Raketen drauf, dessen Oberteil, dort oben ausgezogen und den Frotteestoff über die Platte gespannt, um Jakops Schriftzug vor Verwitterung zu schützen. In der Brusttasche meines Schlafanzugs vergaß ich dabei in der ganzen Aufregung, obwohl ich das Unkrautmesser sogar noch in der linken Hand hielt, eine goldene Locke, die ich ihm in der Nacht seines größten Coups abgeschnitten hatte, so aufgedreht war ich. Was für ein Geburtstag. Endlich sieben.

Ich war so perplex von seinem Verschwinde-Zaubertrick, ich wusste nicht mal, wie ich allein Tante Gretels Dach hochgekommen war. Irgendwer rief mich herunter, zerrte womöglich an mir, das weiß ich nicht mehr. Sie setzten mich zurück ins Kinderzimmer und ich sagte chefmäßig: „Alles in Ordnung, den Ausreißer holen wir zurück.“ Im Grunde wusste ich ja als Einziger, wo Jakop hin war. Es lag doch klar auf der Hand. Herbert sei der Übeltäter, klagte ich.

Der Förster schritt vorsichtig an mir vorüber. Er öffnete das Fenster und lüftete Jakops Decke. So als müsse von dem kleinen Fleckchen Erde die Wärme eines Körpers abgestaubt werden, damit hier wieder was würde wachsen können.

Magda monierte, das sei nicht richtig so, er könne nicht einfach das Bett machen! Als ihr Mann sie först ladylike kurz mal abgefertigt hatte, knechtete der Gevatter sich auf meine Ebene herunter und sagte so etwas wie: „Damit er besser schlafen kann.“

„Wer jetzt? Jakop??“ Beschiss, dachte ich. Du kennst ihn gar nicht! Du weißt nicht, wie lange der abgehauen sein muss, um wieder zurückzuwollen, geschweige denn, wie seine Träume von innen aussehen, während er bei einem Busfahrer übernachtet! Vermutlich war Jakops Verschwinden doch kein Joke oder Trick, sondern ein Konterangriff auf die Eltern? Ich schloss das verdammte Fenster und warf die Decke zurück in die jakopische Unordnung. Hätte ihn stolz gemacht so was. Ich begann meinen Bruder hardcore zu vermissen.

„Lasst ihn uns suchen, los! Sucht ihn! FANGT AN!“

Magda brabbelte total durchgepustet irgendwas von wegen sie habe ihn noch geschlagen, Isaak, jetzt sei er weg, Isaak, blabla, ihr schönes wichtiges Kind Isaak, ihr Jakop usw., ich fand sie langsam unverschämt. Sorry aber. Die wollte erwachsen sein? Kosmisch unausgeglichen schnappte sie nach Luft, skandierte, dass sie zu ihrem Kinde wolle! Gleich gehe es los zu ihrem Kind, plakatierte sie den Slogan förmlich an alle vier Wände des Zimmers, in das sie rein und raus heulte wie ein Krankenwagen. Lalülala, ding dang dong. GLEICH GEHTS LOS, ISAAK. Ich überlegte derweil. Vielleicht hatte Jakop den Zettel mit Adresse und Nummer von Herbert dagelassen? Ich begann ihr nachzueifern und wühlte auch im Chaos.

„MAGDA“, schimpfte der Förster. Er nehme ihr die Kinder weg, wenn das so weitergehe! Als wären wir ihre Spielzeuge, dachte ich. Der aufgelöste Kleinteilreparateur und Schatzsucher setzte erst mal eine angsteinflößende Flasche Bier auf. Nur mit einem kleinen Schlückchen wollte er sich zulöten, um auszuloten, ob seine Gattin sich vom Schreck ohne Ende erholen würde. Ihm ging es ja supi.

Ob wir Jakop nicht mal abholen wollen, fragte ich erneut.

„Ja, du hast recht“, haderte Magda, aber starrte durch mich durch auf ein freies Stück Wand hinter mir, das sie förmlich noch nicht beklebt beziehungsweise abgetastet, also händisch nach ihrem Prachtstück abgeklopft hatte.

„Wann denn“, fragte ich, „wann holen wir ihn?“ Da kam mir Magda sehr nah, legte ihre Hand unter meine Hüften an die Füße, um mir irgendeinen Schwur abzuzocken, bot mir mandeläugig einen verschrumpelten Apfel aus Jakops Tornister zum Tausch an. Der Apfel wie ein Totenkopf. Ob ich tatsächlich wisse, wo er sei? Sie könne die Info bezahlen. Förster schlug ihr das Dörrobst aus der Hand. In dem Moment murmelte ein menschlich anmutender Avocadokern namens Lena über den Flur und stank ein bisschen nach Windel, um mal vom Thema abzulenken. Ich war ihr minimal dankbar dafür. Insgeheim mochte ich sie ja.

„Na, du Kleine!“ Noch bevor ich dann Magda antworten konnte, rutschten die nassen Mutterhände von meinen Seiten und sie versank wie ein durchgebrochener Luxusliner auf den Flurfliesen, glitschte in ihren eigenen Bullaugen auseinander, Frachtöl aus den Augen. Förster interagierte mit großem Getue, damit sie mich in Frieden ließ, endlich in Frieden, oder Weltfrieden, sagte ich: „Lass mich in Weltfrieden, Magda!“ Ich weiß nicht mehr, wo ich das damals aufgeschnappt hatte.

„Danke“, sagte ich zum Förster, da er mir half.

„Nichts zu tanken“, antwortete er und warf die ausgenuckelte Schnabeltasse von Lena, die er als Alk-Ausschank missbraucht hatte, auf den Boden. Das Plastik machte Klonk auf dem Fußboden. Er erkannte sich und die sonst so intakte Mutter nicht mal mit seiner kleinteiligen Reparaturhand wieder und schickte mich schleunigst aus der Tür, weil Mama ihre Umdrehungen beschleunigte. Es sei das Beste, uns Kinder für ein paar – er pausierte vor dem Wort – Tage vor allem zu bewahren.

Er stellte draußen vorm Haus den Wagen bereit, obwohl auch er die Gischt in den Äuglein bekam. Was war nur los mit denen? Magda hatte indessen die VHS-Kassette gefunden, auf der ein Fußballspiel Jakops und meine Geburt überspielt hatte. Der Videorecorder fraß die Kassette. MG drückte Play. Dann Stille. Anpfiff. Das Geschrei war groß. Alle drehten durch. Ich dachte: Das macht Mann wohl so, wenn ein Sohn abzischt?

Machte ich das dann auch? War mir nicht sicher. Bot daher, bevor wir losfuhren, nochmals genervt an, mein lupenreines Wissen um Jakops Aufenthaltsort preiszugeben. Förster hatte die Autotür vor meiner Nase allerdings schon zugeschlossen. Lena war voll niedlich in einen Styroporsitz neben mir gebändigt, während im Haus etwas wie ein Kessel brodelte. Da musste ich an Jakops Vorliebe für Lavasprüh denken.

„Wusstest du, Lena, dass der Pinatubo, ein Vulkan auf der philippinischen Insel Luzon, der bis zu unserem Geburtstag am 2. April 1991 als erloschen gegolten hatte, explodiert ist, als wir geboren wurden?“

Sie speichelte zustimmend. 359 Tote durch Ascheregen, hatte die große O mal gesagt. 143 durch Lahar. Ich wusste damals noch nicht, wer oder was ein Lahar ist, und heute weiß ich nicht, wie ich damals diese Informationen so akkurat und emotionsfrei runterleiern konnte und ob Lena auch nur ein Wort davon verstand, ob es das war, was sie beeinflusst hatte in ihrem späteren Wandel. In dem Moment aber lachte Lena authentisch wie ein Kind, und so war es gut.

Weil Magda sich nicht von uns verabschieden konnte, in das verlassene Jungszimmer zurücklief – zurückschaute, um zu bleiben –, erstarrte sie für einen verkorksten Moment zur Salzsäule. Försters Gesicht davon geplättet wie ein Spiegelei in der Pfanne.

„Magda?“

Wir fuhren ohne sie los.

Nach elf Stunden Stau stiegen wir aus. Förster ging mit Lena auf dem Arm voran. Lethargisch dehnten sich Lindenbäume auseinander. Vor meinen Augen stand, umgeben von einem vollständigen Baumzirkel, auf einem kleinen Hügel die Villa. Mit Türmchen, mit großen, gebogenen Fensterbuchten und grünen Fensterläden wogte der Bau in einen grauen Heiligenschein aus Wolken hinauf. Nur ein apokalyptischer Engelschor fehlte, diesen Anblick zu untermalen. Die Außenwände und das Dach waren vollkommen mit dunkelblauen Schieferplatten bedeckt. So kauerte das Schlösschen wie ein gigantisches, verkohltes Reptil auf der Lichtung. Es klappte alle Fensterläden wie Nasenlöcher auf, klappte auch den großen holzigen Frontschlund auf, die Haustür, und atmete uns alle drei darin ein und wir landeten in einem gezimmerten, smaragdgrünen Innenraum.

Vor uns schwebte eine Vogelscheuche, eine hochgewachsene Frau. Die Haare weiß, wie eh und je in einem schlaffen Dutt, vielmehr in sich eingefalteten, umgeknoteten Zopf über der Schulter. Die langärmlige, blaue Bluse schlackerte, war ein dünner Sack über dem leiblichen Gerippe. Der Kragen schloss eng am obersten Knopf und der grüne Trachtenrock sah aus wie Tannen und Fichtennadeln. Sie wetzte gemächlich ihre Schneidezähne, ein Lächeln, es sprach die Mimik des Hungers. Ihre langen Sensenarme scharrten wie die eines Insekts im blutrot leuchtenden Terrariumlicht der Rheumalampen des Hauses. Mich fröstelte. Ihre Fingerstangen klapperten ähnlich den hängenden Klanghölzern eines Windspiels. Mit Staub auf den Augenlidern zwinkerte sie uns tiefer herein, wie es den Frauen und Männern und Dazwischenjenseitigen ihrer Art nachgesagt wird. Maria von Tann zu Ficht. Als sie geboren wurde, 1928, tötete der Vulkan Rokatenda in Indonesien 226 Menschen. Das fand ich aber erst später aus ihren Büchern heraus. Was ich gleich wusste: Die große O war Ausbruch einer ganz anderen Generation. Sie sollte sich auf unbestimmte Zeit um Lena und mich kümmern und ihre vorsintflutlichen Ansichten auf uns projizieren. Hier wollte uns der Förster abgeben? Hier saßen wir jetzt also fest? Ich musste einen Weg finden, wie Lena und ich heil dort rauskamen.


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

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