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Würmchens Geburtstag

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erwischte uns auf dem falschen Fuß.

Vor allem den Förster überfiel der Einwurf eines neuen Familieninsassen so abrupt, wie ein TV-Testbildschirm in die Übertragung des WM-Halbfinales knallt, im Jahrhundertmatch Deutschland gegen Schießmichtot. Förster blieb das Herz stehen. Er fühlte sich zum ersten Mal seit unserer Geburt von der Reservebank der Liebe in ein lebendiges Zuspiel zurückgefordert.

Förster, das war natürlich unser Vater. Eigentlich hieß er Isaak von Tann zu Ficht. Förster war sein Mädchenname gewesen, den er für Magda von sich geworfen hatte, um geliebt zu werden und sozial aufzusteigen. Doch der Namenswechsel hatte das Gegenteil bewirkt, den Nachnamen einer Frau anzunehmen, was für ein Unding, Urning, Weichei, flüsterten die Leute im Dorf. Kein echter Mann. Und Magda hatte nur noch Augen für die Kinder gehabt danach, und seit sie den Traum vom Studium für ihn an den Haken gehängt hatte.

Konnte er sich jetzt also einmal beweisen? Fühlte sich so eine große Chance an, oder war er schlicht besoffen? Er schaute auf die sechs Flaschen Bier und wusste die Antwort. Nur was war die Frage gewesen?

Während an diesem 11. Mai 1997 unsere schnaufende Mutti auf einen Krankentransporter gehoben wurde, eilte Jakop hölzern zum weißgekleideten, weißhäutigen Krankenwägler hin. Die Mama habe sich in die Hose gemacht! Da passiere schon nix Schlimmes, ihr Mennekens, die kriege bloß das Baby, wiegelte Förster den kleinen Täter geniert vom Sanitäter ab. Die Türen des motorisierten Karrens schlossen zu und die MG wurde mit Lalülala weggefahren.

„So eine Scheiße, gerade heute!“, zischte Förster, hin- und hergerissen zwischen Mattscheibe und Matriarchin.

„Scheiße scheiße“, wiederholte Jakop. Das Spiel im Fernsehen schien Förster glatt das Wichtigere zu sein. Die sicherere Option. Laut seiner abendlich hörbaren Beschwerden, bezüglich den seiner Meinung nach zu selten stattfindenden Heimspielen auf der Liegewiese, war im Grunde ihm ja nichts wichtiger gewesen, als den Kreis der Familie mit einem weiteren Spielkreis potenziell aufs Spiel zu setzen. Zittrig griff er irgendeine Videokassette und schob sie in das Aufnahmegerät, um auch ja kein Spiel zu verpassen. Auf dieser „irgendeinen“ VHS-Kassette mit der Aufschrift „Die Zwillinge“ sollte Förster ein Jahr später das dusslige Fußballspiel sehen und heulend die Mattscheibe verprügeln, doch in diesem Moment fiel es nicht ins Gewicht. Da eine neue Geburt vor der Tür stand, konnte die alte mit Fußtritten und Kickern überspielt werden.

Die körnigen Aufnahmen davon, wie Jakops Hand schon rauslugte, sie an unseren zappelnden, schleimigen Körper zogen, mich zuerst rausgepflückt, umwickelt und JUNGE notiert hatten. Elf Minuten Altersunterschied. Als die Uhr zwölf geschlagen hatte, kam das zweite BÜRSCHCHEN durchgeschleust. Mit sofortiger Tobsucht forderte dieses welke Zärtelchen seine Liebe vom zermarterten Gehäuse, das nun, dank ihm, eine Mutter geworden war. Glückwunsch! Was für ein Schöner, notierte jemand und: JUNGE. Jakops Faust hatte als Erstes die Welt erblickt und unsere baldige Schwester lief nun Gefahr, ebendiese Faust anzulocken. Laufend lief man Gefahr mit ihm. Geburt war sein erstes Attentat gewesen, mich aus seiner Mutter zu verbannen und schon bald würde auch das Schwesterchen daran glauben müssen. Aber vorher wurde unsere Geburt wie durch Geschichtsklitterung überschrieben und wir wurden vom Förster in ein Fahrzeug Richtung Zukunft übertragen.

Der Vater warf sich schockschwer von der wiederholten Befruchtung geohrfeigt auf den verlorenen Posten des hauseigenen Automobils. Selbstverständlich verpackte der reizbare Ahnherr uns liebreizende Lieblingskinder „lieb“ in das Kraftfahrzeug mit ein. Er gefährdete uns dann nur milde über Stock und Stein, rote Ampeln, fuhr „gemäßigt“ über den Kieselflur vor dem Krankenhaus, zwang Jakop förmlich aus dem Vehikel in das Debakel, der Mama einmal aufs Leder zu schauen, als die das neue, eben fertig geborene, quietschrosane Balg an ihrer Milch abfertigte. Es ist ein MÄDCHEN, klang aus den außerordentlichen Lautsprechern einer Ärztin diese festliche Melodie, als spreche sie es ins Mikro einer Gameshow. SIE HABEN EIN MÄDCHEN GEWONNEN! Jakop verstand den Spaß in diesem Halligalli nicht. Für ihn war es Hölle und roch nach Gülle. Ein MÄDCHEN wurde notiert: Der Entschluss fürs ganze Leben, meine Damen und Herren. Der Endschuss für unsrer Schwester ganzes Leben war nun also, ein „ädchen“ am M zu tragen. Willkommen! Die war ab sofort Jakops Schwester und das dann ganz allein ihr Problem.

„Schau mal, sieh mal, ist dein Schwesterchen!“

„Schlampe“, nuschelte Jakop.

Süße Nase, liebes Kleinchen, so ein winziges Würmchen! Ungeniert meldete sich die Ärztin zu Wort, die den Jakop, weil er so goldig war, zunächst mal abknutschte. Das erste Mädchen in der Familie, was? Da müsse der Sportsfreund aber Acht geben, Mädchen seien etwas anders.

„Anders?“

Ja, die Kleine werde ganz anders als er, junger Mann!, piesackte ein weiterer Kittelmensch den Jakop schlimmer als notwendig. Was habe die, was er nicht habe? Die sei doch noch voll klein, da sei doch nix dran! „Was ihr fehlt, meinst du wohl, sie wird ja noch größer!“, neckte der beglückwünschende Überarzt altmodisch, wobei er breit grinsend eintrat und dem Förster seine fette Hand reinschleuderte. „Was ihr fehlt?“, fügte Jakop seins und meins zusammen, um bei elf Minuten Zwischenstand hängenzubleiben. Was fehlt denn? Was fehlt denn der? Niemand reagierte. Alle schütteten Hände in die andern Hände rein. Das duldete er nicht. Das duldete er jetzt echt nicht mehr. Stapfte auf und ab im Zimmer, während dem Förster, und ausschließlich dem Förster, mehr und mehr Hände entgegenbecherten. HEY, HALLO! Was die weißen Kittel unbedingt aus der Tiefe der MG hatten hervorschürfen müssen, was die „Frischgebackene“ Jakop nun kumpelhaft in die Fresse hielt, sieh nur!, es zu begutachten, den Schmerz zu leugnen, als wär es sein eigenes – dieses Neugeborene schmatzte überhaupt ganz ekelhaft, schwächlich und gähnte, schrie trostlos nach – was eigentlich? Was fehlte dem Ädchen denn? Was wollte es? Seine MUTTA etwa!? Sei es nicht furchtbar niedlich, atmete die schweißnasse MG ihn an und hielt es ermutigend auch über meine dabeistehenden Beistandsaugen. Im Gewimmer des kleinen Brötchens erlosch selbst Försters erste Antipathie, nüchterte ihn vermutlich aus. Er lächelte dumpf. Nur Jakop schüttelte den Kopf, von A bis Z auf Hiebe eingestellt. IHN trog Frischgebackenes nicht. Er aß ja auch keine Liebesknochen mehr. ER krachte hervor, sein gelbgelbes Haar stach flammend in den faulen Odem der mit Turnschuhen abgelaufenen Aufbahrungskammer, ER stampfte mit roher Faustung auf die unnachahmliche Lazarettpritsche seiner Ma. Ein für alle Mal verlangte er Antwort, UND JETZT? Jetzt? JA, JETZT! Jetzt müsse man die Kleine selbstverständlich taufen. Taufen, ja und dann?, ballerte seine Munition in ihre treubiblische Leere. Taufen, antwortete die MG ruhig, und auf alle kommenden Fragen zupfte sie gelassen die drei flaumigen Rosshaare dieser neuen, lebendigen Harfe. Magda, die Heilsheilige, nutzte ihre mütterlichsten Engelsschwingungen als Reitpeitschen, um den aufgedrehten Jungen damit zu einem Mann kaputtzuhätscheln. Die Zeit war gekommen und die Küsschen reif für das Neue, fürs Würmchen vorgesehen. Jakop und mich geleiteten die Weißkittel hinaus und dort in die Arme des Bierfäulnis paffenden Försters. Bitteschön, Isaak. Du bist jetzt dran, winkte Magda. Dann klappte die Tür vor ihr zu. Der Förster sah uns irritiert an und fragte im Krankenhaus sofort nach einem Fernseher, oder ob es denn wenigstens ein Radio gebe auf dieser Station? Ja, aber es würden Nachrichten laufen, fieberte der hektische Krankenpfleger nasal, in Kamtschatka sei der Besymjanny ausgebrochen. Der was? Unser Vater kurbelte bereits am Gerät nach einem Sportkanal. Er wolle doch nur die Ergebnisse Mann, woraufhin sie ihn kurzerhand zu dritt aus dem Schwesternzimmer warfen und der Pfleger aufgebracht japste, er käme aus der Eifel und mit Vulkanen sei nicht zu spaßen, da müsse man informiert bleiben!

„Besymjanny?“, grunzte unser Vater mit wildem Blick gegen die Pfleger, „Vulkane, Kamtschatka, Eifel? Als meine zwei Söhne geboren worden sind, ist der Pinatubo ausgebrochen und der hat die ganze Erde vernebelt, na und? Als hätten Vulkane was mit uns Menschen zu tun“, explodierte er. „Scheiß Tucken!“

Dann musste er sich umsehen und erkennen, die zwei Söhne waren noch da. Einer plapperte Worte nach, ohne zu zucken, „Scheiß Vulkane!“ Der andere fragte nach: „Tucken?“

Na prima. Das Mädchenkind lernte die Mutter besabbern und was lernten wir „Männer“? Jakop konnte sein Unglück kaum anfassen, als ihm so lustig wie deutlich eine Gummibärtüte zum Greifen nahegelegt wurde. An der Gelatine den Giftzwerg abfüllend, lallte uns Förster aus dem Krankenhaus in ein von Familienglück kontaminiertes Zuhause. Das ging uns alles viel, viel zu schnell, aber es ging irgendwie.

Und Jakop beklagte sich nicht, als man uns drei Monate später vor einer sogenannten Schule absetzte, um unsere Kindheit zu beenden. Jakop sagte gar nichts. Er flüsterte nachts. Jakop plante einen Mordanschlag auf seine Schwester. Und ich hielt das Unkrautmesser unter meinem Kissen, wenn ich ihm Gutenachtgeschichten erzählte, bis er einschlief.


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

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