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Die Einschulung

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fand vor der Grundschule in Durenbuschen statt.

Hier entledigte mensch sich der Unfallergebnisse häuslicher Vögelei. Alle Rabeneltern hatten ihren neuesten Küken oder Krücken den gleichen Abstoß zuzufügen.

Sonnengott Jakop stand wie ein Anführer in der Massenpanik. Er wollte ganz hoch hinaus. Raubvogel unter den Piepmätzen. In seiner Hand hielt er, und wunderte sich, dass er hier nicht der Einzige damit war, wie er sonst immer ein Einziger war, die wundervolle Schultüte. Seinen Rucksack und meinen trug ich. Jakop mähte mit seiner Wunderkeule einige der Entenärsche beiseite und rupfte andere Schultüten wie Federn aus dem lächerlichsten Gewimmel, das dadurch entstand.

Seine Mutter hatte im Gegensatz zu anderen Eltern zu Hause bleiben müssen, weil ein Würmchen kränkelte. Der frühe Vogel Jakop beklagte sich über das rückgratlose Kriechtier und schlug unserem neuen Mitschüler Deniz – „Deniz, lass doch bitte den Jungen in Frieden“ – seine Schultüte ins Gesicht.

Dann stand sie da.

Unsere Grundschullehrerin, Frau Rebe-Scheelke. Sie trug winzige orangefarbene Absätze und einen zu engen, perlmuttfarbenen Hosenanzug mit einem türkisfarbenen Wollpulli unter dem Jackett. Ich fand sie schick. Diesen Geruch nach Eukalyptusbonbons beim Ausatmen!

Vor dem aufklappbaren Triptychon der Tafel stand sie mit toupiertem Bob und erinnerte an etwas Flatterhaftes, einen Mensch gewordenen Pfau vielleicht. Mit ihrer langen, filigranen Nase flankierte sie das Kreuz, das auch hier im Klassenzimmer über undurchdachten Köpfen hing. Uns Wagenladung Kleintier verstand sie offensichtlich als liebe Schäfchen, dankbar hingeschenkt von fruchtbaren Anwohnern, Fruchtbarbaren, die ohne Umschweife schon nach dem Duzen beim ersten Date sich fortpflanzen durften.

Sie fletschte ein Lächeln und sagte beim Anblick junger Mädchen: „Wir müssen nur dran glauben, dass jede Arbeit ihren Wert hat. Wir werden durch mehr Türen kommen“, märtyrend, „das kommt noch Mädchen“, als meine sie, kommt, ihr kleinen Frauen, erlesen wir uns vor den Bösen. Und predigen!

„Katholisch oder evangelisch“, fragte ein aggressiv scherzender Vater, der seine Tochter Melissa als einen Besitz zur Schau stellte, durch seine übergriffige Umarmung. Darauf parierte Rebe-Scheelke gutmütig, aber bestimmt, sie werde hier jetzt mal durchmischen, die Eltern könnten fürs Erste gehen. Widerwillig zogen die Fruchtbarbaren ab und Pfau Rebe-Scheelke mischte durch, Männlein, Weiblein, sei im Grunde alles das gleiche. Nicht gleich, aber gleichwertig, mahnte sie, die solche Eltern kannte, denen Gedanken und eigene Gedanken schon gar nicht gefielen. Als Kind begreift Mann das nicht, als Mensch sowieso nichts, was in Mann und Frau zerteilt wird und sich deshalb gegenseitig auf- und absucht, sagte sie, oder ich lege ihr das gerade in den Mund, haha, wer weiß das schon genau. Ich fand sie spitze. Sie wetterte, diese neue Generation Frauen müsse kitschkritisch werden, sie hoffte gern, die Rebe-Scheelke. Ihr Ziel: dass mehr Damen zu Namen kamen, es wurde echt Zeit.

Wir Kinder flitzten derweil umher und warfen uns mit Bauklötzen ab, während sie sprach. Das war natürlich respektlos gegenüber dem aktuellen Mann im Raum: einer erwachsenen Frau. Daher setzte sie die weiße Kreide kreischend an, allerdings um sich selbst das Wort Frau vor dem Nachnamen durch- und den Bindestrich bei Rebe-Scheelke dafür doppelt zu unterstreichen.

„Für euch, Rebe-Scheelke.“

Sie verlangte Ruhe und setzte Jungen neben Mädchen. Dafür wurde sie von der Landesregierung zwar nicht besoldet, aber die bisher geschlechtslosen Kinder mussten das Geschlechts-Los ohnehin überall sonst ziehen, ob sie wollten oder nicht. Bei ihr sollte es egal sein. Etwas an ihr war anders als an anderen Erwachsenen. Die Mitschüler Deniz und Melissa fanden das unpassend. Melissa sagte, bei ihr zu Hause am Tisch säßen die Jungs rechts und die Mädchen links und sie glaube, das müsse doch auch in der Schule so sein.

„Glaube ersetzt Berge“, sagte Rebe-Scheelke gelassen, meinte Hürden, aber fast alle verstanden den herkömmlichen Spruch und Deniz schrie, „Jungs haben einen Pimmel, Mädchen haben gar keinen!“

Rebe-Scheelke lachte schallend, Mädchen hätten eben was Eigenes und es gebe schließlich sogar Menschen dazwischen, zwischen Mädchen und Junge, oder jenseits davon. Hatte sie mir zugezwinkert? Sie winkte den erstaunten Deniz nach vorn, Kreide in die Hand, ließ ihn an seinem Namen buchstäblich scheitern, während ein Flüstern über das Weizenfeld aus Kindern wehte: Dazwischen? Zwischen Mädchen und Junge? Einige schauten in die Luft zwischen den Stühlen. Jenseits? So viele Fragen. Doch zuerst sollten alle ihre Namen nennen. Auch wir.

„Noch so ein Blondschopf“, sagte die Lehrerin und dass man Jakob aber mit B schreibe. Sie deutete auf den anderen Jakob in der Klasse, ebenfalls blond, der mir fröhlich zuwinkte, aber ich hatte nur Augen für meinen und drehte ihm den Rücken zu. Doch das mit den blonden Locken war ein Merkmal, das Rebe-Scheelke auffiel, das fiel mir auf.

„Nö“, seinen Namen schreibe man mit P, jauchzte Jakop. Rebe-Scheelkes Blick freundlich genervt zunächst, überrascht dann auf der Klassenliste: „Aha, und dein Bruder, kann der nicht selber?“

„Bruder? Nein!“, bellte er. „Kann der nicht! Darf er nicht!“ Ich zuckte mit den Schultern, als er meinen Namen für mich anschrieb, sich dann aber einer besseren Schreibweise besann und meinen Namen mit dem Schwamm von der Tafel wischte, sodass nur ein transparenter Kreidefleck blieb, den keiner entziffern konnte. Nun denn, ein Schreihals weniger, ging Rebe-Scheelke vermutlich durch den Kopf, da sie „prima“ sagte.

Als deutliches Ende unserer infantilen Späßegesellschaft versprach sie uns zu guter Letzt das Lesen und Schreiben an den Hals. Jakop wusste bereits, wer in Lieblingsbibeln lesen konnte, für Muttchen rezitieren, der würde auch von einer MG wieder angebetet werden. Er brüllte, „Ja, Pfrau Rebe-Scheelke! SCHRESEN UND LEIBEN“, und sie nickte fantastisch gelassen.

Am Ende der Stunde ging ein Leuchten über Jakops Gesicht auf und tief atmete er den Eukalyptusduft in sich ein, den Rebe-Scheelkes Bonbon in unseren elektrisierten Knochen hinterlassen hatte. Ich wollte mehr von ihr, aber sie ging geradewegs den Gang hinunter, der zum Ende hin immer dunkler wurde. Sie winkte Einzelnen hinterher, aber eine Uhr tickte und Arbeit war eine Decke, die sie nicht den ganzen Tag über wärmte. In ihrer windigen Marschwucht strudelten einige Zettel von irgendwoher in die heimwärts gewandte Richtung mit ein, bis sie mit einem Türschlag in der Gangmündung fürs Erste dem Willen Gottes entkommen war.

Der wollte jetzt vorankommen und überholte die trödelnden Kindsköpfe, die halben Portionen, auf dem Trampelpfad direkt zum tuffenden, puffenden Omnibus.

Arglos stieg Jakop ein. Er setzte sich, stutzte über einen großen Schriftzug an dem Schutzbrett vor seinen Füßen. Ich war hier, das stehe überall, meinte Herbert.

Der schnurrbärtige Busfahrer sprach Jakop einfach so an, stellte sich vor, als sei er ein Gleichaltriger. Herbert trug ein graues Hemd, ungebügelt, Halbglatze und keine Unterhosen. Das konnte man bestaunen, sobald er sich beim Fahren oder Schnaufen vorbeugte. Sein Blick gefiel mir nicht sonderlich, wenn er Jakop überdeutlich anschnaufte.

Als Schüler ritze man den Ich war hier-Spruch überall rein, um sicherzugehen, nicht vergessen zu werden, erklärte Herbert. Das mache Mann so. Worte seien eben immer auch Zauberworte, mit denen man das Erinnertwerden herbeizaubern könne, komisch eigentlich, findet ihr nicht?

„Komisch“, wiederholte Jakop gebannt, strahlend, als habe er seine MG direkt vergessen für ein Stück Aufmerksamkeit. Neue Liebe, neues Glück.

Herbert war wirklich der Allerdümmste, fand ich, aber Jakop reckte ritterlich das Köpfchen in die Höh’ und über diejenigen zusteigenden kleinen Drachen hinweg, die er nicht selber war. Keins der anderen Kinder interessierte sich für Herbert. Im Gegenteil, sie hielten auffällig Abstand. Sie tauschten erfahren Blicke, dann ihre Butterbrotreste gegen quietschbunte Aufkleber und Plastikfiguren, um in das neue Schuljahr mit wirtschaftlichem Aufschwung einzusteigen. Aufstieg beschäftigte auch Herbert, war er doch in seiner Freizeit Bergsteiger gewesen.

„Jetzt nicht mehr, eine Verletzung, wisst ihr, aber vor ein paar Jahren noch.“

„Oh nein“, bangte Jakop und ich wollte aus der Konversation nur noch aussteigen. Ich drückte meine Eifersucht samt Stirnfalten hart gegen die Fensterscheibe.

Die Haustür zu Hause stand offen und Jakop stellte sich von Bergsteigern und Eukalyptus ermutigt dort rein und verkündete, er akzeptiere diesen Umgang an seiner Seele nicht mehr. Das sagte er wirklich. So gehe das nicht weiter. Was wäre mit ihm? Scheiße! Und überhaupt! Ein länglicher Atem sank federleicht von Magda runter zu ihm, und als sie eine von Mutterschaft ausgelaugte Weichheit zuließ, fragte sie, ob er denn unsere Schultüte noch gar nicht geöffnet habe?

„Schultüte?“ Er tippte verlegen das dickere Ende der Keule auf den Küchenboden. Dieses Machtmaterial hatte er nun den ganzen Vormittag ungeöffnet mit sich durch die Gegend präsentiert. Da sei ein Geschenk für ihn drin.

„Für euch“, sagte sie, aber das hörte Jakop nicht. Seine Kristallaugen traten weit hervor. Das kannte ich schon. Musste mir die Hand vors Gesicht halten, denn jetzt kam eine Supernova. Wie vom Blitz durchpfählt, erzitterte Jakop in ihrer Liebe.

„Ein Geschenk!“ Er öffnete die Schleife. Er zerkeilte immer aufgeregter die, wie mir jetzt auffiel, tatsächlich nicht gerade achtlos zusammengebastelte Tüte, unsere Mutter hatte schließlich Künstlerin sein wollen, und er zerpflückte das Teil, ohne dabei seinen fanatischen Blick von ihr, seiner MG, ablassen zu können. Sie lächelte matt. Bonbons, Riegel und Süßes platzten aus dem Gefuchtel seiner glänzenden Teddypranken, wie olle Kamelle oder Aussaat auf einem Acker in jegliche Himmels- und Kücheneinrichtung. Vorsichtig lüftete er das letzte Krepp von einem schweren Block, den die MG mit „Das ist für dich“ als sein Eigen signalisierte. Ein märchenheftiges Buch voller Grimm-, Grimm-, Grimm-Geschichten, sodass Jakop in seinen Grundfesten erschüttert wurde. MEIN BUCH!

Dieses lesbare Werk brillierte wie ein magisches Götzen-Medaillon in seiner Kraftkralle. Es stand eine Art Hoffnung in seine Augen geperltropft und seine harte Fassade bröckelte. Er heulte sich für kurze Zeit als ihr Schoßhund zurück in die peinlich berührten Herzen des Publikums, nein, wie hatte er gelitten! Vor Magdas Füßen lag nun dieses wunderschöne Scheusal Jakop und ließ sich mal so richtig gehen. Hach, schon toll dieser Typ, wie ich ihn bewunderte!

„Vielleicht könnt ihr zusammen ein bisschen lesen üben? Du musst mehr sprechen“, erbat Mutter Magda auf einmal von mir.

Von mir!?

Sie hatte sich tatsächlich an Jakops rothaarigen Doppelgänger, Untertan, herniedergekniet und schaute mir freundlich wie eine gutmütige Mutterfigur, Ikone, mit so einem leuchtenden Kranz um den Kopf und voller Wärme in die Fresse. Ich wusste nicht, wie sich schützen vor diesem gezielten Angriff – schnell schmiss ich ihre zaghafte Heilerinnenhand von mir, um Jakop nicht gegen mich aufzubringen. Sie war ja cool und alles, aber wie konnte sie mir so in den Rücken fallen? Diese dumme Pute! Jetzt kamen mir auch die Tränen. Meine ganze kostbare Vorarbeit um Jakops ewige Gnade umsonst, wenn er so etwas mitbekam! Mitleidig schaute sie mir dabei zu. Wie einem ausgebuhten Schauspieler, dessen Szene sie als Einzige verstanden hatte, sah sie mir gut zu, als hätte sie sich selbst auch schon mal so aufgeführt. Oh Gott, die war ja eine echte, menschliche Person mit Empathie?! Aber nichts verstand sie, das machte sie ganz deutlich, indem sie noch einen ihrer streichelnden Mamaversuche an mir startete. Augenblicklich erinnerte Bruderjakop das Licht der Welt. Sein entwässertes Augen-Austernfleisch an die Seiten gewischt, sprang er ein, um mir das Rampenlicht rechtmäßig zu entziehen.

Er schmiss Tütenreste in die daraufhin herabregnenden Kochtöpfe. Taktloses Scheppern und Torkeln von Kocheisen auf Parkettboden. Das Buch hielt er fester denn je. Seinen Zwilling dröhnte er entschieden aus der Bahn. VERPISS DICH! Ich segelte wie ein Wurfstern durch die Küche.

„Und, und, und bald ist Taufe, oder? ODA??“, wagte er nach diesen ganz klaren Anstalten zu fordern. Offensichtlich erklärte er sich bereit, die Wiedergutmachung anzunehmen und über alle vergangenen Hungermonate hinwegzusehen, Schwamm drüber, nun hatte man sich ja wieder, Mama! Es war doch eine Wiedergutmachung, oder? Er wollte nur alles von ihr, mehr wollte er ja gar nicht. Sie seufzte geschmeidig.

„Ja“, lächelte die Verehrte, doch da meldete sich über eine rundliche Lautsprecherapparatur das Würmchen bei diesem Spektakel zu Wort. Würmchen verstand es, Jakops neue Idylle effizient mit der vollgemachten Windel von der MG entsorgen zu lassen.

„Ich muss eben“, sagte diejenige welche und nahm das Baby-fon dabei mit. Jakop störte sich weniger als gewöhnlich daran. Sie hatte ihn erhört, sie hatte Ja gesagt! Endlich Ja!

„Die Taufe wird das Würmchen vernichten“, sagte er im Delirium. Die Taufe rücke näher und näher. Die Taufe würde Magda und ihn vom Gewürm, diesem Problem schlechthin, erlösen und alles wie gehabt in seinen energischen Händen zerlegen, harharhar. Jakop blödelte, hielt das grimmste Märchenbuch aller grimmen Märchenbücher beängstigend fest an seine grausame Brust gepresst und ließ alle Sorgen wie Schweißdünste und Blähkünste von sich fahren. Sein schönster Tag seit Langem. Bald sei Taufe, wiederholte er wieder und wieder, hopste fidel aus der Küche, sich leserlich auf die Rückkehr der liebenden MG vorzubereiten. Als letzte Person in der Küche begann ich, einzeln verpackte Fruchtgummis vom Boden aufzusammeln, legte sie alle ordentlich auf den Küchentisch. Ich wusste, Taufe bedeutete keinesfalls die Lösung des jakopischen Wurmproblems. Taufe war was ganz anderes. Sollte Jakop aber bloß dran glauben und Ablenkung finden. Vielleicht fiel mir bis dahin ein Weg der Besänftigung ein, vielleicht ein Weg, mir zumindest vorher eine Locke von diesem Blondi-Mann abzuzwacken? Wenn ich so stark, so ein Mann würde wie er, könnte ich ihn im Zaum halten und unsere Schwester würde nicht von ihm ermordet werden, dachte ich. Mein Bruder sollte kein Mörder sein. Und wir alle, als Familie, wären vor seiner Kriegslust sicher. Vielleicht würde er aber auch davon ablassen, bis zu diesem Event, das immer länger hinausgezögert wurde, weil unserer Magda kein passender Name einfallen wollte. Andererseits liebte ich seine Ausbrüche auch. Ihn, wie er war. Sein Feuer. Ich wollte gar nicht, dass er ein Unding, ein Weichei würde wie unser Förster.

Als der am frühen Abend aus jener Teilefabrik, in der er Kleinteile kontrollierte, angeheitert in sein trautes Heim rempelte, scherte es niemanden. Die zwei Eltern rannten auch nie biologisch ineinander, wie Pärchen im Fernsehen. Viel mehr magnetisch schlugen sie zusammen, logischerweise kein Küsschen nach getaner Reproduktion, nur ein handliches Hallo grüßend. Teilten aber einen gemeinsamen Feind vielleicht. In geheimen Unterredungen quasselten sie über uns, das wusste ich genau. Während sich Jakop mit seinem bebilderten Buch zufrieden stellte, hörte ich an Türspalten zu.

Und einmal, bevor die abendliche Nahrung bereitlag, um von unseren Essgewohnheiten vereinnahmt zu werden, hievte uns der Förster sogar mal nüchtern unter den Armen hoch und nahm uns mit raus vor die Tür. Sein voller Bart klemmte zwischen seinen Zähnen, wenn er sprach. Ihn störte so was nur ganz selten. Kleckernd leckte er sich den Zwirn aus dem großen, sprechenden Loch. Seine Stimme klang tief und unsauber. Aber ohne Bierbetankung konnte man ihn problemlos mit anhören. Er forderte von uns, Rücksicht auf unsere Mutter zu nehmen. Sie und das Baby bräuchten mehr Ruhe. Wir sollten nicht egoistisch sein.

„Egoistisch?“ Jakop wiederholte es stoisch, glättete jedoch gedankenverloren seine Buchseiten, während wir den Feldweg entlangspaziert wurden.

„Ego, Jakop, bedeutet selbstsüchtig sein. Dem Egoist ist’s Ego Christ“, sagte Förster, dem gehe es nur um sich selbst. „Aber ihr müsst Rücksicht nehmen, Verantwortung übernehmen, rausgehen.“

Ich verstand: Verantwortung übernehmen bedeutete nach draußen zu verschwinden für eines Würmchens Platz. Jakop verstand nichts, was er nicht verstehen wollte.

Den Feldweg verließen wir mit unserem Paps durch eine grüne, dunkelgrüne Wand aus Zweigen, hinein in den Wald, wo wir spielen konnten, ohne zu stören, sagte er, der angeblich früher im Wald wahre Schätze gefunden hatte. Er keuchte ein bisschen, wirkte müde, aber grinste freundlich beim Vorschlägeunterbreiten. Für die Schatzsuche brauche man ein geschultes, schulisches Auge, wie fürs Kleinteilesortieren. Wir sollten es mal versuchen! Wir ließen uns breitschlagen.

Tatsächlich fanden meine Augen einen Flachmann und eine alte Fackel. Jakop, obwohl er mit dem Kopf in seinem Schinken klebte, fand natürlich etwas viel Cooleres, einen toten Schmetterling.

„Toll“, sagte der Förster, steckte das Tier ein und „auch toll“ sagte er zu mir. Dann wüssten wir ja jetzt, wie das gehe, schlussfolgerte er zufrieden und brach den Heimweg an.

Wieder zu Hause in Witterse angekommen, machte er keinen Hehl daraus, der MG zu erzählen, wie es gewesen war, mit den Jungs und im Wald. Wir hätten ihm hoch und heilig versprochen, ab jetzt immer draußen zu spielen. Er tätschelte unsere Köpfe und umgriff die MG bei der Hüfte mit so einem Blick, den Männer haben, wenn sie Hüften umgreifen, „Arsch wie ein Brauereipferd“, lachte er, sie lachte nicht, während sie so tat, als würde sie lachen. Doch viel mehr irritierte Jakop und mich, dass hier ein Versprechen im wahrsten Sinne eines versprochenen Versprechers erfunden wurde für die MG.

„Moment mal“, schrie ein Augenaufschlag in meine Richtung. Aber Jakop fiel ausnahmsweise nicht das passende Widerwort in den Mund. Förster unterbrach unseren Schlagabtausch wohlweislich mit großen Hungergesten, sagte: „Alles für unsere liebe Mama!“

Mit einem großen, roten Rucksack an Spielproviant saßen wir fortan auf den Steinen vor der Haustür. Alles für unsere liebe MG.

„Bis zur Taufe“, grummelte Jakop. In irgendeine Ferne wurde geblickt, fern weg vom Haus, wo man ferner nicht belästigte, wo immer ein Störenfried mit seinem Kindergerangel nicht die Großen von Wichtigerem abhielt. Er seufzte. Doch die Natur besprang uns, sollte uns eine Weile festhalten, mit Kletten in Strängen und Dreckspuren an Hosen, sobald wir abends vor der Dämmerung den Rückzug antraten. Damit begannen die schönsten Tage meiner Kindheit.


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

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