Читать книгу Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen - Jchj V. Dussel - Страница 13

Der große böse Wald

Оглавление

war eine heile Welt für uns.

Jakop packte mich nun sogar manchmal mitreißend bei der Hand. Gehörte ich endlich dazu?

Vor uns die große, gründunkle Mauer aus zottigem Geäst. Tausende Meter hoch stachen die Fichten ohne Angst und Zweifel ins oberste Grau dieser Welt.

„WAS HAST DU ZU VERLIEREN“, schrie Jakop. Er zeckte sich mitten hinein und saugte an der Welt. Ohne ihn war ich zwecklos und stopfte also die Hosenbeine in meine Stiefel. Jeder Juwelendieb folgt dem Juwel.

Ich brach durch den Farn, wischte mir überall was weg, kratzte mich und quetschte die Augenlider zusammen. Sofort krabbelten mir an den Körperenden sechsbeinige Bewohner entlang. Wohin war Jakop nun wieder geritten? Wer ihn wollte, musste mithalten können oder erwachsener sein als er.

Und Jakop sprach: „HINSETZEN! INS GEBÜSCH! AUSSCHAU HALTEN!“ Gründe nannte er nicht. Das Krisengebiet einer Konversation betrat Jakop nur unter dem Panzerschutz seiner eigenen Bedingungen.

Und Jakop sprach: „LOS, IN DEN BUSCH DA!“ Woraufhin wir flink unsere Beinchen durch klamme Fetzen des Nadelmeers schredderten, hierhin rutschten, dorthin fielen. Stiefel troffen nass vom Matsch, in Eile und weil es ihm gefiel, bewarf er mich mit Zapfen. Alles machte ich mit, ohne zu jammern, ohne Wort und Widerrede, aber eine Unruhe stimmte mich zaghaft in den Astgabeln, wenn ich etwas hörte, oder schlimmer noch, etwas fühlte. Der Förster hatte uns gewarnt vor Tieren oder großen, bösen Fremden, meist Männern – also auch Tieren. Immer vor Animalischem und Männern warnt eine Menschheit. Und dann stand wirklich tierisch was da: eine marode Hütte im Wald.

Jakop sprach: „DIE FESTUNG EINNEHMEN, SCHNELL!“ Wir näherten uns dem Hexenhaus, es war ganz klar ein Hexenhaus. Da, plötzlich, knackten trockene Zweige laut wie ein Schuss. Peng! Unsere Seelen knirschten. Wir standen still. Jeder weiß ja, allein unterwegs im Wald kann ein Astknacken den Tod bedeuten. Also wir wussten das. Ich dachte an Wölfe und selbst Goldkerlchen fror um sein Leben.

„Rehe können uns nix“, flüsterte er, „Wildschweine, wenn die Frischlinge haben, DANN SCHON, aber Rehe können uns nix.“

Fichtennadeln schneiten uns lautlos von irgendwoher in die Kleidungsritzen. Wir erwarteten einen übermächtigen Hinterhalt aus dem Unterholz. Aber nichts. Winde ließen nach, strichen das zuvor zerzauste Zwillingshaar glatt, bliesen mit sich die beinah glänzende, elektrische Spannung fort. Wir kasperten vorsätzlich näher ans Haus. Ich trug durchblutete Wangen als einen Gesichtsschutz, vor Aufregung, denn über dem Gebäude hing so sicher ein Groll wie über Jakop eine schützende Hand.

Laub lagerte in mehreren Schichten zu Blätterdünen zugespitzt auf dem Dach und halbfeucht in ein großes Einsturzloch hinein. Laub im Nadelwald und die Ziegel zerstreut wie Kuchendekor, gebrochene Platten im Moos, die Szene wie aus den Märchen. Jakop sprang so selbstverständlich auf Ziegeln rum wie andere sprichwörtlich über Leichen gehen. Er wolle da hoch. Ein echter Bergsteiger wolle er sein. Eine Leiter müsse her, ordnete der Heldenfürst an. Um die stabilere Hälfte des Daches zu erklimmen, hievten wir einen exorbitanten Ast heran und lehnten ihn an den Baum, der direkt am Haus wuchs. Man brauche aber schon mehr Leiter an der Leiter, bemängelte Jakop unzufrieden einige Mängel an unserem Ast.

Jakop sprach: „WIR MACHEN ES OHNE!“ Gezwängt zwischen Hütte und den Baum, der vielleicht eine Ellenlänge entfernt von einer der Hauswände stand, drückte sich mein Brüderlichster zielstrebig in die Höh’. Auf sein Geheiß folgte ich natürlich, er testete derweil bereits die Rutschgefahr auf nassem Laub des Daches, alles okay, trällerte er. Ich hasste Klettern. Schon allein wegen dem Bergsteigervorbild Herbert, aber was tut man nicht für seinen einzigen, geliebten Tyrannen? Der Ausblick, der sich oben nicht darbot, da die Bäume verdammt nah und unglaublich hoch standen, ließ den Kinderaugen zum Bestaunen nur den bekannten Waldboden übrig. Ich stand am Rand. Ein Windstoß aus der Nadeldecke über uns erfasste mich, riss mir das Gleichgewicht fort. Ich wankte vornüber, kurz vorm Fall weit offene Augen, doch etwas warf mich zurück. Ängstlich drehte ich mich um, herzklopfend kroch ich vom Rand weg, tastete meine Brust ab, sagte Gott sei Dank, eher aus Pflichtgefühl, war es Jakop gewesen, der mich zurückgezupft hatte? Oder ein Wald, hatte ein Wind, ein Wetter mich auspusten wollen? Ich verstand in dem Moment, dass dieses grüne Glühen hier sich für keine Menschenseele interessierte. Nicht für meine, ob ich fiel, nicht irgendeine, oder seine, egal wessen. Ich fühlte das einfach. Der große böse Wald war unabhängig von uns zwei weißlichen, schwitzenden Zweibeinern gewachsen. Wir brauchten Bäume zum Atmen, das wusste ich schon. Ohne einen denkenden Mensch hatte aber der Wald gelernt zu leben und zu sterben, brauchte die Menschenseelen rein gar nicht in der Welt, würde sie überdauern, unter sich einmauern, würde, „HEULST DU ETWA?“, rieb Jakop Hagebuttenkerne in meinen Nacken, wo immer er die herhatte, riss mich aus meinem frühkindlichen Weltschmerz und rutschte aus Versehen – die kleinen Sünden bestraft der liebe Spott sofort – in den schwarzen Schlund, in das Loch, das sich im Dach auftat. Wums.

„Aua, Mann!“ Von unten verirrte seine Stimme sich herauf, es stinke total, dieser Berg sei sowieso scheiße zum Besteigen, Mann brauche einen richtigen Berg, was Gefährliches, einen Vulkan und nicht so einen kaputten Krater. Seit Jakop wusste, dass bei seiner Geburt ein Vulkan ausgebrochen war, liebte er Vulkane. Hatte keine Angst vor Ausbrüchen. Heidewitzka rufend, erlebte Jakop, dieser witzige Heide, generell nichts Furchteinflößenderes als Langeweile. Im Gegensatz zu mir. Da reichten Hagebutten aus. Die Dunkelheit im Loch da unten. Und ein Herbert.

Jeden Freitag hatten wir nach der vierten Stunde Schulschluss, aber Jakop verlangte, dass wir noch bis zum Klingeln der Sechsten bei Bert im Bus verbrachten. Ich fand Herbert unangenehm und Bert nannte ich ihn nie im Leben. Herr Busfahrer, das sagte ich. Knallhart. Man könne auch mal ungestört spazieren gehen mit ihm, sagte der dann mit Jakops aufgeschlagenem Märchenbuch in der Hand. Also diese Idee fand ich absolut schwachsinnig. Jakop gefiel das, wie sonst nix auf der Erde. Dieses Ungestörte störte mich an Herbert ungemein. Der las uns zwar unerhört gut das ganze Rotkäppchen bis zum Ende vor, aber er öffnete auch betörend seine großen Augen, seine großen Hände, die behaart und fettig Jakops Hüfte umgreifen konnten wie mit so einem Blick, den Männer haben, wenn sie – oder den Jakop hatte, wenn er die geschenkte Eiswaffel umgriff. Iss das nicht, dachte ich. Herberts Augen leuchteten wie Magma, als Jakop ihm einmal von der Hütte im Wald erzählte. Da tippte Jakop auch mit dem Finger auf ein kleines Kreuzchen mit abgeknickten Enden, das neben Ich war hier ebenfalls in den Bus geritzt war. Was für ein Buchstabe das sei, den hätten wir noch nicht gehabt. Das sei kein Buchstabe, antwortete Herbert sichtlich beklommen. Das sei ein Erkennungszeichen für – er zögerte – Wölfe. Werwölfe, ob Jakop wisse, was ein Werwolf sei.

„Klar“, winkte Jakop ab, er sei ja nicht von gestern.

„Gut“, lächelte Herbert, vor denen solle Jakop sich in Acht nehmen.

„Im Märchen“, erwiderte Jakop, „fressen die Wölfe doch nur die Mädchen.“

„Echte Werwölfe fressen auch Jungs, die fressen oder schlimmstenfalls beißen sie dich in deinen Kopf, und du wirst selbst einer.“

Jakop knirschte angespannt mit den Zähnen. Ich hielt Herbert zwar für derbst dämlich, aber seine sagenhafte Angstmache knallte trotzdem. Ob man nichts dagegen machen könne, fragte Jakop und schaute sich im leeren Bus um, als hätte er eigentlich fragen wollen, ob die Werwölfe hier mitfahren würden. Man könne sich, sofern man gebissen worden sei, dagegen entscheiden, einer zu werden, stammelte Herbert sichtlich in Verlegenheit und mit seinem metaphorischen Latein am Ende. Dagegen entscheiden verstand Jakop nicht, da er eben mehr ein Körper- als ein Kopfmensch war, und meinte, er wolle dann besser ein Wolf sein, sonst würde er doch gefressen, und Wölfe brauchten vor Wölfen bestimmt keine Angst haben. Herbert schritt ein: Es sei sehr kompliziert. Die meisten verstehen nicht, warum sich einer fürs Wolfsein entscheidet.

„Du müsstest ja andere fressen, Jakop, und beißen, nein also, außerdem hast du ja jetzt auch eine kleine Schwester, die braucht doch ein Vorbild, jemanden, der sie beschützt. Du möchtest doch nicht, dass die einmal gefressen wird, oder? Die hast du doch bestimmt furchtbar gern!“

Die Furchtbarkeit krachte wie eine alte Eiche ins Dach dieses Gesprächs und Jakop bellte, heulte Herberts Mondgesicht an vor Liebe zu seiner Schwester. Lieber auf zu neuen Bergen dann, beschwichtigte Herbert, um den plötzlichen Blutdurst von Jakops Visage zu waschen. Spielerisch zauberte er eine Einwegkamera aus seiner weiten Hose und fuchtelte damit herum, als ob es Gold oder etwas Wertvolles wäre. Alle Wutausbrüche vermochte ein kleines Aufmerksamkeits-Doping von Erwachsenen wegzublasen. Jakop zog sein Hemdchen gern aus. Sein wichtigstes Grimm-Nachschlagewerk ging dabei in meine Hände über, ohne dass der Junkie es mitbekam. Ich tat nicht bloß so, als sei ich eingeschnappt. Blätterte aggressiv in grimmen Schauermärchen nach Busfahrern, nach Herberts Augen, Ohren, Zähnen. Und nein, danke, ich wollte mich nicht fotografieren lassen! Ich wollte selber Aufmerksamkeit, und zwar die von Jakop, doch in mir schlummerte mehr Kopf als Körper und so traute ich mich nie, so viel Raum zu nehmen, etwas einzufordern, wie er. Stattdessen suchte ich nach Wolfsbildern, die ihm das zeigten, was ich sah, wenn ich in Herberts Gesellschaft lieber wegschaute und meine Jacke enger zog.

Meine Schuld war es allerdings nicht, dass bald Gerüchte umgingen, und Jakop war wohl auch nicht gemeint, als an der Bushaltestelle im Dorf von Vorfällen geredet wurde. Passt auf die Kinder auf! Förster, der sehr verantwortlich war – also immer abwesend –, verbot uns in der Dunkelheit des Herbstes den Wald. So suchte Jakop, der über das Aufsteigen eines Busfahrersterns an seinem Firmament schwieg, sich einen neuen Höhenzug aus. Den Nachbarhof neben unserm Haus.

Dieser neue Berg bestand aus zwei großen Scheunen, die sich am Ende des Gartenzauns trafen. Während unsere Mutter sich nun mühte, sich täglich mehr in ihren neugeborenen Leibling einzuverlieben, dabei immer noch keinen passenden Namen gefunden hatte, weil sie nach der Geburt ihre Freude am Leben wohl etwas verlor, und der Förster im Nachbarort Weelke in der Fabrik Teile teilte, brauchten wir einzig die besoffene Nachbarin Gretel, die Tante unseres Vaters, aus der Bahn zu schaffen, um den Dachfirst ihrer Scheune mit uns Spitzenkandidaten zu bestücken.

Kaiser Jakop bedeutete ganz oben angekommen, das gehöre jetzt alles ihm. Munter signierte er mit einer Kreide, die er Rebe-Scheelke geklaut hatte, eine Sandsteinplatte, um unsterblich zu sein. Die Zauberworte in Krakelschrift: Ich war hier. Er überlegte kurz, spuckte auf die Platte, wischte, wie er es zuvor mit meinem Namen auf der Schultafel getan hatte, und verbesserte: Ich bin hier. Er schaute mich fragend an. Ich schaute Jakop zurück in die Äuglein, so wie Mann es andern Männern antat, abgekühlt, mundlos. Aber ich fühlte doch was. Es war der Zeitpunkt meiner Loyalität, dachte ich und wollte ihm sagen, dass er unsere Mutter bis hierher nicht gebraucht habe, dass er Herbert auch nicht würde brauchen müssen, oder eine Lehrerin, dass ich da wär – für ihn –, nur ich, dass das reiche. Gerade als meine Lippen den Mut gefasst hatten zu sprechen, trat unsere Mutter an diesem Samstagmorgen mit der Schwester in den Hintergarten und rief, es werde getauft. Scheinbar hatte sie alles schon organisiert, endlich einen Namen parat.

Das Stück Kreide fiel aus Jakops freudig zitternden Fingern, rollte, einige Striche hinterlassend, die Sandsteinplatten entlang, über die Kante des Dachs und lautlos ins Nichts. Aber ich wusste, das war die Ruhe vor dem Sturm. Jetzt würde alles den Bach runtergehen, wenn ich mir nicht endlich eine Scheibe von ihm abschnitt und ihn vor sich selbst rettete.


Aus dem schlafenden Vulkan ausbrechen

Подняться наверх