Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 125
Einundzwanzigster Brief.
Von Juliens Liebsten an Milord Eduard.
ОглавлениеJa Milord, es ist wahr, meine Seele ist erdrückt von der Last des Lebens. Seit lange schon ist es mir zur Last. Was es mir lieb machen konnte, habe ich verloren, es ist mir nichts geblieben, als seine Qual. Indeß es soll mir nicht erlaubt sein, wird gesagt, darüber zu verfügen, ohne das Geheiß Dessen, von dem ich es habe. Ich weiß auch, daß es Ihnen und zwar aus mehr als einem Grunde gehört; Sie haben es mir durch Ihre Fürsorge zweimal gerettet, und Ihre Wohltaten fristen es mir fortwährend, Ich werde nie darüber verfügen, wenn ich nicht sicher bin, daß ich es ohne Sünde thun kann, und solange mir die geringste Hoffnung bleibt, es für Sie zu verwenden.
Sie sagten, ich wäre Ihnen nothwendig: warum hintergingen Sie mich? Seit wir in London sind, haben Sie, weit entfernt mich etwas für Sie thun zu lassen, sich nur mit mir zu thun gemacht. Wie viel überflüssige Mühe Sie sich geben! Milord, Sie wissen, ich hasse die Sünde noch mehr als das Leben; ich bete das ewige Wesen an. Ich verdanke Ihnen Alles, ich liebe Sie, ich hänge nur noch an Ihnen auf Erden. Die Freundschaft, die Pflicht können noch einen Unglücklichen an die Erde ketten; Vorwände, Sophismen werden ihn nicht zurückhalten. Klären Sie meine Vernunft auf, sprechen Sie zu meinem Herzen; ich bin bereit, Sie zu hören, aber vergessen Sie nicht, daß die Verzweiflung sich nicht zum Besten haben läßt.
Sie sagen, man müsse mit der Vernunft prüfen; wohlan, prüfen wir! Sie sagen, man müsse desto mehr überlegen, je wichtiger die Sache sei, um welche es sich handelt; auch das will ich. Suchen wir die Wahrheit in aller Ruhe und ohne Leidenschaft, sprechen wir das Thema im Allgemeinen durch, als wenn dabei von einem Dritten die Rede wäre. Robeck faßte eine Vertheidigung des freiwilligen Todes ab, ehe er ihn sich gab. Ich will nicht, gleich ihm, ein Buch schreiben, bin auch mit dem seinigen nicht sonderlich einverstanden, aber ich hoffe es ihm an Kaltblütigkeit bei dieser Untersuchung nachzuthun [Jos. Robeckii Exercitatio de morte voluntaria erschienen Rinteln 1736, nachdem der Verfasser im Jahre zuvor sich in Bremen den Tod in der Weser gegeben hatte. Er war zu Kalmar in Schweden 1672 geboren, Jesuit und Missionar gewesen, und nach einem längeren Aufenthalte in Rinteln, wo er zuletzt seine ganze Habe vertheilte, nach Bremen gegangen, um sich das Leben zu nehmen. D. Ueb.].
Ich habe lange über diesen ernsten Gegenstand nachgedacht; Sie müssen es wissen, denn Sie kennen mein Schicksal, und ich lebe noch. Je mehr ich ihn überlege, desto mehr finde ich, daß sich die Frage auf folgenden Hauptsatz zurückführen läßt: Sein eigenes Wohl suchen und sich dem Uebel entziehen, soweit es geschehen kann, ohne Anderen zu schaden, ist ein natürliches Recht. Wenn daher unser Leben ein Uebel für uns, und für Niemanden ein Gut ist, so muß es erlaubt sein, uns davon zu befreien. Wenn es einen klaren und unumstößlichen Satz auf der Welt giebt, so ist es meiner Meinung nach dieser; und könnte es gelingen, ihn umzustoßen, so würde keine menschliche Handlung mehr sein, die man nicht zu einem Verbrechen stempeln könnte.
Was sagen darüber unsere Sophisten? Erstlich betrachten sie das Leben als eine Sache, die nicht uns gehört, weil sie uns geschenkt ist; aber gerade weil sie uns geschenkt ist, gehört sie uns. Hat ihnen Gott nicht zwei Arme gegeben? Und doch lassen sie sich, wenn sie den kalten Brand fürchten, einen oder nötigenfalls beide abnehmen. Beide Fälle sind für Den, der an Unsterblichkeit der Seele glaubt, vollkommen gleich; denn wenn ich meinen Arm opfere, um etwas Kostbareres zu retten, nämlich meinen Leib, so opfere ich meinen Leib, um wiederum etwas Kostbareres zu retten, nämlich mein Wohl. Wenn alle Gaben, die uns der Himmel verliehen hat, von Natur Güter für uns sind, können sie doch auch ihrer Natur nach diesen Charakter nur zu leicht verlieren, und der Himmel hat ihnen die Vernunft beigesellt, damit wir sie unterscheiden lernen. Wenn diese Richtschnur uns nicht berechtigte, die einen zu wählen, die andern zu verwerfen, wozu wäre sie dann dem Menschen nütze?
Den genannten Einwurf, der so wenig Halt hat, bringen sie in tausend Wendungen wieder. Sie betrachten den Menschen auf Erden als einen Soldaten auf dem Posten. Gott, sagen sie, hat dich in diese Welt gesetzt; wie darfst du sie ohne Urlaub verlassen? Wie, und du? Hat er doch dich in deinen Geburtsort gesetzt; wie darfst du ihn ohne Urlaub verlassen? Ist der Urlaub nicht durch das Uebelbefinden gegeben? Wohin er mich setze, in einen Leib oder auf die Welt, es ist immer nur, um so lange zu bleiben, als ich mich wohlbefinde, und die Lage zu wechseln, sobald es mir übel geht. Das ist die Stimme der Natur, und die Stimme Gottes. Man muß Geheiß abwarten, ich gebe es zu; aber gerade wenn ich eines natürlichen Todes sterbe, zieht mir Gott nicht Geheiß, das Leben zu verlassen, er nimmt es mir vielmehr; dagegen dadurch, daß er es mir unerträglich macht, heißt er es mich verlassen. Im ersteren Falle widerstehe ich aus allen Kräften, im zweiten habe ich das Verdienst, zu gehorchen.
Wie kann es nur Leute geben, die so unbillig sind, freiwilligen Tod als Auflehnung gegen die Vorsehung zu rügen, gleich als wollte man sich dadurch ihren Geboten entziehen? Im Gegentheil, nicht um sich ihnen zu entziehen, entzieht man sich dem Leben, sondern um sie zu erfüllen. Wie denn? Hat Gott nur über meinen Leib Macht? Giebt es irgend einen Ort auf der Welt, wo irgend ein Geschöpf nicht in seiner Hand stände? Und wird er weniger unmittelbar auf mich einwirken, wann mein geläutertes Wesen mehr Eines, und ähnlicher dem seinen sein wird? Nein, seine Gerechtigkeit und seine Güte sind der Grund meiner Hoffnung, und wenn ich glaubte, daß der Tod mich seiner Macht entziehen könnte, so würde ich nicht sterben mögen.
Dies ist eines der Sophismen im Phädon, der übrigens voll erhabener Wahrheiten ist. Wenn sich der Sklave tödtete, sagt Sokrates zu Cebes, würdest du ihn nicht dafür bestrafen, wenn es möglich wäre, daß er dir dein Gut ungerechter Weise geraubt hat? Guter Sokrates, was sagst du uns da? Gehört man nicht Gott mehr an, wenn man todt ist? Es ist gerade umgekehrt; es müßte heißen: wenn du deinem Sklaven eine Kleidung auflädest, die ihm in dem Dienste, welchen er dir zu leisten hat, hinderlich ist, wirst du ihn bestrafen, wenn er das Kleid ausgezogen hat, um seinen Dienst besser zu verrichten? Der große Fehler ist, daß dem Leben zu viel Werth beigelegt wird, als ob davon unser Sein abhinge und man nach dem Tode nichts mehr wäre. Unser Leben ist nichts in den Augen Gottes, nichts in den Augen der Vernunft, und darf in den unsrigen nichts sein; und wenn wir unsern Leib verlassen, so thun wir nichts, als daß wir ein unbequemes Kleid ablegen. Ist es der Mühe werth, so viel Aufhebens davon zu machen? Milord, diese Leute gehen bei ihren Declamationen nicht ehrlich zu Werke; sinnlos und grausam zugleich in ihrer Betrachtungsweise, machen sie die vorgebliche Sünde schwer, als ob man sich das Dasein nähme, und bestrafen sie, als ob man es ewig hätte.
Was den Phädon betrifft, der ihnen das einzige scheinbare Argument geliefert hat, das je von ihnen gebraucht worden ist, so wird dort die Frage nur obenhin und wie beiläufig behandelt. Sokrates, durch einen ungerechten Spruch verurtheilt, das Leben in einigen Stunden zu verlieren, hatte nicht nöthig, erst noch sorgfältig zu untersuchen, ob es ihm erlaubt sei, darüber zu verfügen. [Dies ist unrichtig. Der Spruch War den athenischen Gesetzen gemäß, Sokrates war überführt, ,,andere Götter eingeführt und die Jugend verführt zu haben," dieses Alles nach der hergebrachten Anschauungsweise und Sitte des athenischen Volks betrachtet. Sokrates hatte eine innere Berechtigung, das Feststehende, Geltende in Athen anzutasten, aber das Volk hatte das Recht, weil er, wie man es jetzt zu nennen pflegt, negativ, subversiv zu Werke ging, ihn zu strafen. Daß Sokrates wegen jener ihm zur Last gelegten Vergehungen, wie häufig geglaubt wird, zum Tode verurtheilt worden wäre, ist ebenfalls unrichtig. Er zog sich die Todesstrafe dadurch zu, daß er sich weigerte, den Rechtsspruch anzuerkennen, und sich demselben zu entwerfen oder die Gnade des souveränen Volks in Anspruch zu nehmen. Xenophon erzählt den Hergang in der ,,Apologie des Sokrates" wie folgt: ,,Es lag dem Sokrates nur daran, sich nicht als Gottesverächter und Zerstörer der sittlichen Verhältnisse darzustellen; dagegen hielt er nicht für nöthig zu bitten, um dem Tode zu entgehen, war viel mehr der Ueberzeugung, es sei für ihn Zeit, aus dem Leben zu scheiden. Daß er so dachte, wurde recht offenbar, als das Schuldig über ihn ausgesprochen war. Er wurde aufgefordert, sich selbst die Strafe zu bestimmen; er weigerte sich dessen, verbot es auch seinen Freunden, indem er erklärte, nur Dem stehe es an, sich die Strafe zu bestimmen, der sich für schuldig bekenne." Er hatte nämlich die Wahl zwischen Verbannung und Geldbuße; die Gnade des Volks konnte ihm beides erlassen; nur auf die Auflehnung gegen die öffentliche Ordnung stand der Tod, und Sokrates litt ihn, wie erzählt, um sich durch keinerlei Handlung schuldig zu bekennen. Er machte also einen höhern Begriff von Schuld geltend, als das athenische Volk ihn besaß, denn nach den herrschenden Begriffen war er allerdings schuldig, und machte sich durch seine Widersetzung gegen die öffentliche Ordnung noch weit schuldiger. D. Ueb.] Gesetzt, er habe wirklich die Reden gehalten, die ihm Plato in den Mund legt, glauben Sie mir, Milord, er würde reiflicher darüber nachgedacht haben, wenn er in dem Falle gewesen wäre, sie unmittelbar in Anwendung zu setzen, und der Beweis, daß man aus diesem unsterblichen Werke keinen guten Einwurf gegen das Recht der freien Verfügung über sein eigenes Leben hernehmen kann, ist, daß Cato es zwei Mal von vorn bis hinten durchlas in der Nacht, in welcher er die Erde verließ.
Unsere Sophisten werfen sodann die Frage auf, ob das Leben jemals ein Uebel sein könne. In Betrachtung der Masse von Verirrung, Qual und Laster, davon es strotzt, möchte man eher versucht sein zu fragen, ob es je ein Gut gewesen. Die Sünde setzt auch dem tugendhaftesten Menschen unaufhörlich zu; jeden Augenblick seines Lebens ist er auf dem Sprunge, eine Beute des Bösen oder selber böse zu werden. Kämpfen und leiden, das ist sein Schicksal in der Welt; schlecht handeln und auch leiden, das Schicksal des Ungerechten. In allem Uebrigen sind diese beiden von einander verschieden, gemein haben sie nur das Elend des Lebens. Wenn Sie Belegstellen und Thatsachen verlangten, könnte ich Ihnen Orakel, Antworten weiser Männer anführen, und Tugendhandlungen, deren Lohn der Tod war. Lassen wir alles Das bei Seite; ich spreche ja zu Ihnen, und ich frage Sie, was ist hienieden das Hauptgeschäft des Weisen, wenn nicht, sich so zu sagen, in die Tiefe seiner Seele zu versenken, und zu trachten, daß er im Leben dem Leben gestorben sei. Ist nicht das einzige Mittel, welches die Vernunft gefunden hat, um uns den Uebeln zu entrücken, mit denen die Menschheit behaftet ist, daß wir uns von allem Irdischen, von Allem, was sterblich in uns ist, lossagen, uns tief in uns sammeln und uns zu erhabenen Betrachtungen aufschwingen? Und wenn unsere Leidenschaften und Irrthümer unser Unglück sind, wie heiß muß unser Verlangen nach einem Zustande sein, der uns von allen beiden erlöst! Was thut der Sinnliche, der seine Schmerzen so thöricht durch seine Lüste vervielfältigt? Er vernichtet, so zu sagen, seine Existenz. indem er sie im Irdischen ausbreitet, er erschwert sich die Last seiner Ketten durch die Menge der Punkte, an denen er hängen bleibt, er hat keinen Genuß, der ihm nicht tausend bittere Entbehrungen bereitete; je mehr er empfindet und leidet, desto tiefer läßt er sich in das Leben ein, und desto unglücklicher ist er.
Aber möge es doch, wenn man will, im Allgemeinen ein Gut für den Menschen sein, trübselig auf der Erde zu kriechen, ich will es zugeben: ich behaupte nicht, daß das ganze Menschengeschlecht sich einhellig opfern und aus der Welt ein weites Grab machen müsse. Es giebt aber, es giebt Unglückliche, die zu auserlesen sind, um der gemeinen Heerstraße zu folgen, und denen ihre Verzweiflung und ihre bittern Schmerzen der Paß sind, den ihnen die Natur ausstellt; von diesen wäre es ebenso unsinnig, zu glauben, daß ihr Leben ein Gut sei, als von dem Sophisten Possidonius zu leugnen, daß die Gicht, die ihn plagte, ein Uebel sei. Solange es gut für uns ist zu leben, wünschen wir es auch sehr, und nur das Gefühl, daß unser Leiden auf's Höchste gestiegen, kann diese Lust in uns besiegen, denn wir alle haben von Natur eine große Scheu vor dem Tode, und diese Scheu macht, daß wir das Elend unseres Daseins nicht ansehen. Lange erträgt man ein jammervolles, schmerzliches Dasein, bevor man sich entschließt, es aufzugeben; wenn aber einmal der Lebensüberdruß über die Todesfurcht das Uebergewicht bekommen hat, so ist dann augenscheinlich das Leben ein großes Uebel und man kann sich nicht schnell genug davon befreien. Also, wiewohl man nicht mit Genauigkeit den Punkt angeben kann, bei welchem es aufhört, ein Gut zu sein, weiß man wenigstens mit Gewißheit, daß es schon lange ein Uebel ist, bevor es uns so erscheint, und bei jedem Menschen, der bei Sinnen ist, geht das Recht, darauf zu verzichten, der Versuchung dazu weit voran.
Noch mehr: nachdem sie geleugnet haben, daß das Leben ein Uebel sein könne, um uns das Recht zu rauben, uns davon zu befreien, sagen sie dann wieder, daß es ein Uebel sei, um uns einen Vorwurf daraus zu machen, daß wir es nicht ertragen, Sie behaupten, es sei eine Feigheit, wenn man sich seinen Schmerzen und Leiden entziehe, und immer nur Schwächlinge brächten sich um's Leben. O Rom, Besiegerin der Welt, was für ein Haufe von Schwächlingen hat dir die Herrschaft über sie verschafft! Mögen Arria, Epponina, Lucretia so zu nennen sein: sie waren Frauen. Aber Brutus, aber Cassius, und du, der du mit den Göttern die Ehrfurcht der erstaunten Erde theiltest, großer, göttlicher Cato, du, dessen Bild die Römer mit heiligem Eifer beseelte und die Tyrannen zittern machte, deine hochherzigen Bewunderer dachten nicht, daß eines Tages in dem staubigen Winkel einer Schule schlechte Rhetoren den Beweis liefern würden, daß du nichts warst als ein Feigling, weil du nicht wolltest, daß dem vom Glück gekrönten Verbrechen die Tugend in Ketten Huldigungen darbringe. O Kraft und Größe der modernen Autoren! wie unerschrocken sie sind mit der Feder in der Hand! Aber sage mir doch, kühner und tapferer Held, der du dich muthvoll aus dem Schlachtgetümmel rettest, um noch länger die Pein des Lebens zu ertragen, warum, wenn auf die beredte Hand ein Köhlchen fällt, ziehst du sie so schnell zurück? Wie? Du bist so feig, daß du nicht wagst, die Hitze des Feuers auszuhaltend. Nichts, antwortest du, verpflichtet mich, die Kohle zu ertragen! Und mich, was verpflichtet mich, das Leben zu ertragen? Ist die Erzeugung eines Menschen der Vorsehung saurer geworden als die Erzeugung eines Strohhalmes? Ist nicht Eines wie das Andere gleichermaßen ihr Werk?
Ohne Zweifel ist es ein Muth, Leiden, die man nicht vermeiden kann, standhaft zu ertragen; aber es wäre nur Verrücktheit, solche freiwillig zu leiden, denen man sich entziehen kann, ohne übel zu thun, und oft ist es ein sehr großes Uebel, Uebel ohne Noth zu dulden. Wer sich nicht von einem schmerzhaften Leben durch einen schnellen Tod zu befreien weiß, gleicht Dem, der lieber eine Wunde giftig werden lassen, als sie dem heilsamen Eisen des Wundarztes anvertrauen will. Komm, verehrungswürdiger Parisot [Wundarzt aus Lyon, ein Ehrenmann, ein guter Bürger, ein zärtlicher, edler Freund, vernachlässigt, vergessen, aber wahrlich nicht von Einem, den er mit seinen Wohlthaten überhäuft hatte. (Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 4. S.7.], nimm mir dieses Bein ab, das mir den Tod zuziehen würde; ich werde zusehen, ohne mit den Augen zu zwinkert, und mich feig schelten lassen von dem muthigen Helden, der das seinige lieber verfaulen läßt, weil er die Operation nicht zu bestehen wagt.
Es giebt allerdings Pflichten gegen Andere, welche nicht jedem Menschen erlauben, über sich zu verfügen; aber wie viele giebt es dafür, die es ihm gebieten! Möge sich ein Beamter, an dessen Leben das Wohl des Staates hängt, möge sich ein Familienvater, der sich seinen Kindern erhalten muß, möge sich ein zahlungsunfähiger Schuldner, der seine Gläubiger ruiniren würde, der Pflicht opfern um jeden Preis; mögen tausend andere bürgerliche und häusliche Verhältnisse einen braven Mann, der unglücklich ist, zwingen, das Unglück, daß er leben muß, zu ertragen, damit er dem größeren entgehe, ungerecht zu sein: ist es deswegen erlaubt in ganz anderen Fällen aus Kosten einer Schaar von Leidenden ein Leben festzuhalten, das nur noch Dem nützt, der nickt den Muth hat zu sterben? Tödte mich, mein Kind, sagt der alte Wilde zu seinem Sohne, der ihn trägt und unter der Last wankt; die Feinde sind da. Geh und kämpfe an der Seite deiner Brüder; geh, rette deine Kinder, und gieb deinen Vater nicht der Gefahr Preis, lebend in die Hände Derer zu fallen, deren Eltern er fraß. Wenn Hunger, Krankheit, Elend, schlimmere Hausfeinde als alle Wilden, einem verstümmelten Unglücklichen erlauben, in seinem Bette das Brod einer Familie zu verzehren, die kaum erschwingen kann, was sie für sich braucht, warum sollte nicht Der, an dem nichts hängt, den der Himmel verdammt, allein auf der Erde zu leben, dessen unseliges Dasein nichts Gutes schaffen kann, warum sollte der nicht wenigstens das Recht haben, einen Aufenthalt zu verlassen, wo seine Klagen überlästig und seine Leiden nutzlos sind?
Erwägen Sie diese Bedenken, Milord, nehmen Sie alle diese Gründe zusammen, und Sie werden finden, daß sie auf das einfachste der Naturrechte zurückgehen, welches noch kein vernünftiger Mensch je in Frage gestellt hat. In der That, warum sollte es erlaubt sein, sich von der Gicht zu curiren und nicht vom Leben? Kommt uns nicht beides von der nämlichen Hand? Wenn das Sterben wehe thut, was will das sagen? Ist es ein Vergnügen, Arzeneien zu gebrauchen? Wie viele Leute ziehen nicht den Tod einer Cur vor! Ein Beweis, daß die Natur dem Einen wie dem Anderen widerstrebt. Also zeige man mir doch, woher es mehr erlaubt ist, sich von einem vorübergehenden Uebel mit Hülfe von Heilmitteln zu befreien, als von einem unheilbaren Uebel mit Hülfe des Todes, und woher man weniger strafbar ist, wenn man China gegen das Fieber, als wenn man Opium gegen den Stein gebraucht. Wenn wir den Zweck ansehen, so ist er in beiden Fällen, uns vom Uebelbefinden herzustellen; wenn wir das Mittel ansehen, so ist es in beiden Fällen auf gleiche Weise ein natürliches; wenn wir den Willen des Herrn ansehen, giebt es ein Uebel zu bekämpfen, das nicht er selbst uns zugeschickt hätte? Giebt es einen Schmerz zu lindern, der uns nicht von seiner Hand käme? Wo ist die Grenze, bei welcher seine Macht endet, und der Widerstand erlaubt zu sein anfängt? Ist es uns also nicht erlaubt, den Zustand irgend eines Dinges zu ändern, weil doch Alles so ist, wie er es hat haben wollen? Darf man nichts auf der Welt thun, aus Furcht seine Verordnungen umzustoßen? Oder können wir auch nur, wie wir uns anstellen mögen, je die kleinste derselben umstoßen? Nein, Milord, der Beruf des Menschen ist höher und edler; Gott hat ihm nicht den Geist eingehaucht, damit er regungslos in beständigem Quietismus hinbrüte; er hat ihm vielmehr die Freiheit gegeben, um das Gute zu thun, das Gewissen, um es zu wollen, die Vernunft, um es zu wählen; er hat ihn selbst zum alleinigen Richter seiner Handlungen bestellt; er hat in des Menschen Herz geschrieben: thue, was dir nützt und Keinem schadet. Wenn ich fühle, daß es gut für mich ist, zu sterben, so widerstrebe ich seinem Geheiß, wenn ich darauf bestehe, zu leben; denn dadurch, daß er mir den Tod wünschenswerth macht, schreibt er mir vor, ihn zu suchen.
Bomston, ich frage Sie, auf Ihre Einsicht und auf Ihre Ehrlichkeit: welche andern Grundsätze über den freiwilligen Tod kann die Vernunft mit Sicherheit aus der Religion ableiten? Wenn die Christen entgegengesetzte aufgestellt haben, so haben sie doch dieselben weder aus den Principien ihrer Religion, noch aus deren alleiniger Richtschnur, nämlich der heiligen Schrift, sondern nur aus den heidnischen Philosophen geschöpft. Lactanz und Augustin, die zuerst diese neue Lehre aufstellten, von der Jesus Christus und die Apostel kein Wort gesagt haben, beriefen sich auf nichts Anderes als das Raisonnement im Phädon, das ich schon bestritten habe, so daß die Gläubigen, die hierin dem Ansehen der Schrift zu folgen meinen, nur dem Ansehen Plato's folgen. In der That, wo findet man in der ganzen Bibel ein Gebot gegen den Selbstmord oder auch nur eine Abmahnung? Und ist es nicht recht seltsam, daß man bei allen Beispielen von Personen, die sich selbst das Leben genommen haben, nie ein Wort des Tadels gegen diese Handlung ausgesprochen findet? Ja, Samson's Selbstmord wird sogar durch ein Wunder bekräftigt, das ihn an seinen Feinden rächt. Würde ein Wunder geschehen sein, um ein Verbrechen zu rechtfertigen? und würde dieser Mann, der seine Stärke verlor, weil er sich von einem Weibe verführen lassen, sie wieder erlangt haben, um eine offenbare Missethat zu begehen? gleich als wollte Gott selbst die Menschen irreführen!
Du sollst nicht tödten, sagen die zehn Gebote. Was folgt daraus? Wenn dieses Gebot buchstäblich genommen werden soll, so darf man auch weder Missethäter noch den Feind des Landes tödten, und Moses, der so viele Menschen zu Tode brachte, hat sein eigenes Gebot sehr schlecht verstanden. Wenn es nun also Ausnahmen von der Regel giebt, so muß man sicherlich vor allen eine zu Gunsten des freiwilligen Todes machen, weil er nicht Gewalt und Ungerechtigkeit in sich schließt, um deren willen allein der Mord ein Verbrechen ist, und weil im Uebrigen die Natur selbst hinlänglich vorgebaut hat.
Aber sagen sie noch ferner, leidet geduldig, was euch Gott auflegt, machet euch ein Verdienst aus eueren Leiden, So die Grundsätze des Christenthums anwenden, heißt dessen Geist schlecht begriffen haben. Der Mensch ist tausend Uebeln unterworfen, sein Leben ist ein Gewebe von Jammer und er scheint nur zum Jammer geboren. Von diesen Uebeln heißt ihn die Vernunft diejenigen vermeiden, die er vermeiden kann, und die Religion, die nie der Vernunft entgegen ist, giebt ihre Zustimmung. Aber wie klein ist ihre Summe gegen die Menge derer gehalten, die er gezwungen ist wider Willen zu dulden! Aus diesen erlaubt der gnädige Gott dem Menschen sich ein Verdienst zu machen; er nimmt als freiwillige Huldigung den gezwungenen Tribut an, welchen er uns auflegt, und schreibt uns für das jenseitige Leben die Entsagungen des diesseitigen gut. Die wahre Buße ist dem Menschen von der Natur auferlegt; wenn er geduldig alles Das erträgt, was er zu ertragen gezwungen ist, so hat er in dieser Hinsicht Alles gethan, was Gott von ihm fordert, und wenn Einer den Hochmuth hat, mehr thun zu wollen, so ist er ein Narr, den man einsperren, oder ein Schelm, den man bestrafen muß. Entziehen wir uns daher ohne Bedenken allen Uebeln, denen wir entgehen können; es wird uns immer noch nur zu viel zu erdulden übrig bleiben. Befreien wir uns ohne Furcht auch von dem Leben selbst, sobald es ein Uebel für uns ist. da wir es in unserer Gewalt haben und dadurch weder Gott noch Menschen beleidigen. Wenn das höchste Wesen Opfer verlangt, ist Sterben nichts! Bringen wir Gott mit unserem Tode das Opfer, das er uns durch die Stimme der Vernunft auflegt, und ergießen ruhig in seinen Schoß die Seele, die er von uns zurückfordert.
Dies sind die allgemeinen Regeln, welche die gesunde Vernunft allen Menschen vorschreibt, und welche die Religion gut heißt [Wunderlicher Brief in Betracht des Gegenstandes, um den es sich handelt! Erörtert man eine solche Frage mit solcher Ruhe, wenn man sie für sich selbst in Ueberlegung nimmt? Ist der Brief fabricirt oder wartet der Schreiber nur darauf, widerlegt zu werden? Was hierüber zweifelhaft machen kann, ist das von ihm selbst angeführte Beispiel Robeck's, das Aehnliches auch bei ihm anzunehmen uns ein Recht giebt. Robeck ging mit sich so wohlbedächtig zu Rathe, daß er die Geduld hatte, ein Buch zu schreiben, ein großes, schweres, dickleibiges, eiskaltes Buch, und nachdem er, seiner Meinung nach, zu dem sicheren Schlusse gekommen war, daß es erlaubt sei, sich zu tödten, tödtete er sich mit derselben Ruhe. Seien wir auf unserer Hut vor Zeit- und Volksvorurtheilen! Wenn es nicht im Brauch ist, sich das Leben zu nehmen, sieht man diejenigen, die es thun, nur für Wahnsinnige an; Handlungen des Muths kommen schwachen Seelen stets chimärisch vor: Jeder beurtheilt die Anderen nur nach sich. Allein wie viele beglaubigte Beispiele haben wir nicht von Männern, die in jeder andern Hinsicht voll Verstand, und die ohne Bedenken, ohne Leidenschaft, ohne Verzweiflung dem Leben entsagen, blos weil es ihnen zur Last ist, und ruhiger sterben, als sie gelebt haben!]. Kommen wir auf uns zurück, Sie haben mich gewürdigt, mir Ihr Herz zu öffnen: ich kenne Ihren Kummer, Sie leiden nicht weniger als ich; Ihr Uebel ist unheilbar wie das meinige, und noch unheilbarer, weil die Gebote der Ehre wandelloser sind als die des Geschickes, Sie ertragen es, bekenne ich, mit Festigkeit, Die Tugend hilft Ihnen: einen Schritt weiter und sie einbindet Sie. Sie dringen in mich, zu leiden; Milord, ich erdreiste mich, in Sie zu dringen, Ihren Leiden ein Ende zu machen, und ich überlasse es Ihnen, zu urtheilen, wer von uns beiden den andern am liebsten hat.
Was zögern wir, einen Schritt zu thun, der immer doch gethan werden muß? Wollen wir warten, bis Alter und Jahre uns auf niedere Weise an das Leben ketten, nachdem sie uns den Reiz desselben geraubt, und bis wir mühsam, schimpflich und schmerzlich den elenden, gebrochenen Leib hinschleppen? Wir sind in dem Alter, wo die Seele noch Kraft genug hat, um leicht ihre Bande abzustreifen, in welchem der Mensch noch zu sterben weiß; später läßt er sich das Leben nur mit Seufzern entreißen. Nutzen wir eine Zeit, da Lebensüberdruß uns den Tod wünschenswerth macht! Später möchte er in seinem Graus zu einer Zeit kommen, da wir ihn nicht mögen. Ich erinnere mich eines Augenblicks in meinem Leben, in welchem ich den Himmel nur um eine Stunde bat: ich wäre in Verzweiflung gestorben, wenn ich sie nicht erhalten hätte. Ach, wie schmerzlich ist es, die Bande zu zerreißen, welche unser Herz an die Erde ketten! und wie weise gethan ist es, ihr zu entfliehen, sobald jene zerrissen sind! Ich fühle es, Milord, wir sind beide einer bessern Wohnung werth: die Tugend weist uns zu ihr hin, und das Schicksal ladet uns ein, den Weg zu betreten. Vereinige uns die Freundschaft, die uns verbindet, noch in unserer letzten Stunde. O welche Wollust für zwei wahre Freunde, ihre Tage freiwillig einer in des andern Armen zu beschließen, ihre letzten Seufzer zu vermischen und zugleich die beiden Hälften ihrer Seele auszuhauchen! Welcher Schmerz, welche Klage könnte ihre letzten Augenblicke vergiften? Was verlassen sie, wenn sie aus der Welt scheiden? Sie gehen mitsammen hin, sie verlassen nichts.