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10. Summula

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Mittagsabenteuer

Gewöhnlich fand der Doktor in allen Wirtshäusern bessere Aufnahme als in denen, wo er schon einmal gewesen war. Nirgends traf er aber auf eine so verzogene Empfangsphysiognomie als bei der verwittibten, nett gekleideten Wirtin in St. Wolfgang, bei der er jetzt zum zwölften Male ausstieg. Das zweite Mal, wo sie in der Halbtrauer um ihre eheliche Hälfte und in der halben Feiertagshoffnung auf eine neue ihrem medizinischen Gaste mit Klagen über Halsschmerzen sich genähert, hatte dieser freundlich sie in seiner Amtssprache gebeten: sie möge nur erst den Unterkiefer niederlassen, er wolle ihr in den Rachen sehen. Sie ging wütig-erhitzt und mit vergrösserten Halsschmerzen davon und sagte: , „Sein Rachen mag selber einer sein; denn kein Mensch im Hause frisst Ungeziefer, als Er.“ Sie bezog sich auf sein erstes Dagewesensein. Er hatte nämlich zufolge allgemein-bestätigter Erfahrungen und Beispiele, z. B. de la Landes und sogar der Demoiselle Schurmann — welche nur naturhistorischen Laien Neuigkeiten sein können — im ganzen Wirtshause (dem Kellner schlich er deshalb in den Keller nach) umhergestöbert und gewittert, um fette runde Spinnen zu erjagen, die für ihn (wie für das obengedachte Paar) Landaustern und lebendige Bouillonkugeln waren, die er frisch ass. Ja er hatte sogar, um den allgemeinen Ekel des Wirtshauses, wo möglich, zurechtzuweisen — vor den Augen der Wirtin und Aufwärter reife Kanker auf Semmelschnitte gestrichen und sie aufgegessen, indem er Stein und Vein dabei schwur — um mehr anzuködern —, sie schmeckten wie Haselnüsse.

Gleichwohl hatte er dadurch weit mehr den Abscheu als den Appetit, in betreff der Spinnen und seiner selbst vermehrt, und zwar in solchem Grade, dass er selber der ganzen Wirtschaft als eine Kreuzspinne vorkam und sie sich als seine Fliegen. Als er daher später einmal versuchte, dem Kellner nachzugeben, um unten aus den Kellerlöchern seine mensa ambulatoria, seit Kanarienfutter zu ziehen, so blickte ihn der Bursche mit fremdem, wie geliehenem Grimme an und sagte: „Fress’ Er sich wo anders dick als im Keller!“

Nichts bekümmerte ihn aber weniger als sauere Gesichter; der gesunde Sauerstoff, der den grösseren Bestandteil seines in Worte gebrachten Atems ausmachte, hatte ihn daran gewöhnt.

Die Wirtin gab sich alle Mühe, unter dem frühen Gastmahle ihn von Theoda und Niess recht zu unterscheiden zu seinem Nachteile; er nahm die Unterscheidung sehr wohl auf und zeigte grosse Lust, nämlich Esslust; und liess, um weniger der Wirtin als seinen Leuten etwas zu schenken, diesen nichts geben als seine Tafelreste. Die Wirtin liess er zusehen, wie er mit derselben Butter zugleich seine Brotscheiben und seine Stiefelglatzen bestrich und wie er den Zuckerüberschuss zu sich steckte, unter dem Vorwande, er hole aus guten Gründen den Zucker erst hinter dem Kaffee nach im Wagen.

Dennoch schlug ihm eine seine Kriegslist, von deren Beobachtung er durch Verhasstwerden abzuziehen suchte, ganz fehl. Er hatte nämlich unter einer Winkeltreppe ein schätzbares Katzennest entdeckt, aus welchem er etwas einen oder zwei Nestlinge auszuheben gedachte, um sie abends im Nachtlager, wo er so wenig für die Wissenschaft zu tun wusste, aufzuschneiden, nachdem er vorher ihnen in der Tasche aus Mitleiden, zum Abwenden aller Kerkerfieber, die Köpfe einigemal um den Hals gedreht hätte. Es musste aber wohl von seinem elften Besuche, wo die Wirtin gerade nach seiner Entfernung auch die Entfernung einer treuen Mutter mehrer Kätzchen wahrnahm, hergekommen sein, dass sie, überall von weitern ihn wie einen Schwanzstern beobachtend, gerade in der Minute ihm aufstossen konnte, als er eben ein Kätzchen einsteckte. — „Hand davon, mein Herr“, schrie sie, „nun wissen wir doch alle, wo voriges Jahr meine Kätzin geblieben — und ich war so dumm und sah das liebe Tier in Ihrer Tasche arbeiten — o Sie — —“ Den Beinamen verschluckte sie als Wirtin. Aber wahrhaft gefällig nahm er statt des Kätzchens ihre Hand und ging daran mit ihr in die Stube zurück. „Sie soll da besser von mir denken lernen“, sagte er. Und hier erzählt’ er weitläufig mit Berufen auf Theoda, dass er selber mehre Katzenmütter halte und solche, anstatt sie zu zerschneiden, väterlich pflege, damit er zur Ranzzeit gute, starke Kater durch die in einer geräumigen Hühnersteige seufzenden Kätzinnen auf seinen Boden verlocke und diese Siegwarte neben den Klostergittern ihrer Nonnen in Teller- oder Fuchseisen zu fangen bekomme; denn er müsse als Professor durchaus solche Siegwarte, teils lebendig, teils abgewürgt, für sein Messer suchen, da er ein für die Wissenschaft vielleicht zu weiches Herz besitze, das keinen Hund totmachen könne, geschweige lebendig aufschneiden wie Katzen. Die Wirtin murmelte bloss: „Führt den Namen mit der Tat, ein wahrer abscheulicher Katzenberger und -Würger.“ — Niess fragte nicht viel danach, sondern da das erste, was er an jedem Orte und Örtchen tat, war, nachzusehen, was von ihm da gelesen und gehalten wurde: so fand er zu seiner Freude nicht nur im elenden Leihbücherverzeichnis seine Werke, sondern auch in der Wirtsstube einige geliehene wirkliche. Sich gar nicht zu finden, drückt berühmte Männer stärker, als sie sagen wollen. Niess erteilte seinen Leihwerken, aus Liebe für den Wolfgangischen Leihbibliothekar, auf der Stelle einen unbeschreiblichen Liebhaberwert (pretium affectionis) bloss dadurch, dass er’s einem Voltaire, Diderot und D’Alembert gleichtat, indem er, wie sie, Noten in die Werke machte mit Namensunterschrift; — die künftige Entzückung darüber konnte er sich leicht denken.

Während Theoda zwischen dem Dichter und der Freundin hin und her träumte: kam auf einmal der Mann der letzten, der arme Mehlhorn, matt herein, der nicht den Mut gehabt, seinen künftigen Gevatter um einen Kutschensitz anzusprechen. Der Zoller war zwar kein Mann von glänzendem Verstande — er traute seiner Frau einem grössern zu —, und seine Ausgaben der Langenweile überstiegen weit seine Einnahme derselben; aber wer Langmut im Ertragen, Dienstfertigkeit und ein anspruchloses redliches Leben liebte, der sah in sein immer freudiges und freundliches Gesicht und fand dies alles mit Luft darin. Theoda lief auf ihn entzückt zu und fragte selbstvergessen, wie es ihrer Freundin ergangen, als sei er später abgereiset. Er verzehrte ein dünnes Mittagwahl, wozu er die Hälfte mitgebracht: „Man muss wahrhaftig“, sagt’ er sehr wahr, „sich recht zusammennehmen, wenn man noch zwei Stunden nach Huhl hat und doch nachts wieder zu Hause sein will; es ist aber kostbares Wetter für Fussgänger.“

Theoda zog ihren Vater in ein Nebenzimmer und setzte alle weiblichen Röst-, Schmelz- und Treibwerke in Gang, um ihn so weit flüssig zu schmelzen, dass er den Zoller bis nach Huhl mit einsitzen liess. Er schüttelte Kaltblütig den Kopf und sagte, die Gevatterschaft fürchtend: „Auch nähm’ er’s am Ende gar für eine Gefälligkeit, die ich ihm etwa beweisen wollte.“ Sie rief den Edelmann zum Bereden zu Hilfe; dieser brach — mehr aus Liebe für die Fürsprecherin — gar in theatralische Beredsamkeit aus und liess in seinem Feuer sich von Katzenberger ganz ohne eines ansehen. Dem Doktor war nämlich nichts lieber, als wenn ihn jemand von irgendeinem Entschlusse mit tausend beweglichen Gründen abzubringen anstrebte; seiner eignen Unbeweglichkeit versichert, sah er mit desto mehr Genuss zu, wie der andere, jede Minute des Ja gewärtig, sich mutzlos abarbeitete. Ich versinnliche mir dies sehr, wenn ich mir einen umherreisenden Magnetiseur und unter dessen Händen das Gesicht eines ad menschlichen Magnetismus ungläubigen Autors, z. B. Biesters, vorstelle, wie jener diesen immer ängstlicher in den Schlaf hineinzustreichen sucht und wie der Bibliothekar Biester ihm unaufhörlich ein aufgewecktes Gesicht mit blickenden Augen still entgegenhält. „Gern macht’ ich selber“, sagte Niess, „noch den kurzen Weg zu Fuss.“ — „Und ich mit“, sagte Theoda. „Oh! “ sagte Niess und drückte recht freudig die katzenbergerische Hand, „ja, es bleibt dabei, Väterchen, nicht?“ — „Natürlich“, versetzte letztes, „aber Sie können denken, wie richtig meine Gründe sein müssen, wenn sie sogar von Ihnen nicht überwogen werden.“ Man schien auf seiten des Paars etwas betroffen: „Auch möcht ich den guten Umgelder ungern verspäten“, setzte der Doktor hinzu, „da wir erst nach dem Pferdefüttern aufbrechen, er aber sogleich fortgeht.“

Als sie sämtlich zurückkamen, stand der Mann schon freundlich da, mit seinem Abschiede reisefertig wartend. Theoda begleitete ihn hinaus und gab ihm hundert Grüsse an die Freundin mit und den Schwur, dass sie schon diesen Abend das Tagebuch an sie anfange. „Könnt ich für Sie gehen, guter Mann!“ sagte sie; und er schied mit einem langen Dankpsalm, ohne sie sonderlich zu verstehen, so wie sie selber, setz ich dazu, ebensowenig den Doktor. Sie wusst’ es aus langer Erfahrung, dass er zudringende Bitten gewöhnlich abschlug als Anfälle auf seine Freiheit; sie tat sie aber doch immer wieder und brachte vollends heute den Auxiliar-Poeten mit. Mehlhorn war ihm nicht am meisten als Gevatterbitter verdriesslich, sondern als eine Art Ja-Herr gegen die Frau und ein Ja-Knecht gegen alle Welt. Schwachmütige Männer aber, sogar gutmütige, konnt’ er nicht gut sich gegenüber sehen, besonders einen halben Tag lang auf dem Rücksitz.

Bald darauf, als die Pferde abgefüttert waren und die Gewinn- und Verlustrechnung abgetan, gab Katzenberger das Zeichen des Abschieds; — es bestand darin, dass er heimlich die Körke seiner bezahlten Flaschen einsteckte. Er führte Gründe für diese letzte Ziehung aus der Flasche an: ,Es sei erstlich ein Mann in Paris bloss dadurch ein Millionär geworden, dass er auf allen Kaffeehäusern sich auf ein stilles Korkziehen mit den Fingern geletzt, wobei er freilich mehr ans Stehlen gedacht als an erlaubtes Einstecken; zweitens sei jeder, der eine Flasche fordere, Herr über den Inhalt derselben, wozu der Stöpsel als dessen Anfang am ersten gehöre, den er mit seiner eigenen Korkzieher zerbohren oder auch ganz lassen und mitnehmen könne, als eine elende Kohle aus dem niedergebrannten Weinfeuer.‘ Darüber suchte Niess zu lächeln ohne vielen Erfolg.

Dr. Katzenbergers Badereise

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