Читать книгу Welcome to Borderland - Jeanette Erazo Heufelder - Страница 15

Mexikanische Siedler im Wilden Norden

Оглавление

Hundert Jahre bevor in den USA die ersten Siedlertrecks gen Westen zogen, hatten sich in der neu-spanischen Provinz Nuevo León ganze Familienverbände mit ihren Planwagen Richtung Norden in Bewegung gesetzt. Sie waren unterwegs zum Rio Bravo. Unter der Bedingung, dass sie sich dort mit ihren Familien dauerhaft niederließen, hatte die Real Audiencia jedem dieser Siedler eigenes Land in Aussicht gestellt. Entgegen den sonst üblichen langwierigen Verfahren erfolgten diese Landschenkungen relativ unbürokratisch. Zum einen lag das an den bourbonischen Reformen; einem Bündel kolonialpolitischer Maßnahmen, mit denen Mitte des 18. Jahrhunderts die Verwaltung im neuspanischen Vizekönigreich wirtschaftlich effizienter gestaltet werden sollte; zum anderen aber war das Siedlungsprojekt José de Escandón zu verdanken, der 1746 zum Gouverneur der neu gegründeten Provinz Nuevo Santander ernannt worden war. Als solcher verantwortete er die Erschließung der bisher in ihrer ursprünglichen Wildheit belassenen nordöstlichen Außengrenze des neuspanischen Vizekönigreichs. Die neue Provinz erstreckte sich im Norden bis hoch zum Sabina-Fluss und umfasste den Teil des ›mexikanischen Busens‹ am Golf von Mexiko, in den der Rio Grande mündete, der damals noch den Zusatz ›del Norte‹ trug. Da sich der Rio Grande del Norte, bevor ihm im 20. Jahrhundert durch den Bau der Falcon- und Amistad-Staudämme die Wassermassen entzogen wurden, in Regenperioden regelmäßig in einen wilden, reißenden Fluss verwandelte, wurde er in der Korrespondenz mit der Audiencia auch als Rio Bravo bezeichnet.

Die Erschließung des Rio-Grande-Tals, an dessen nördlichem Ufer das heutige Texas beginnt, schien Mitte des 18. Jahrhunderts aus Sicht der spanischen Krone aus mindestens zwei Gründen notwendig geworden zu sein: das Rio-Grande-Delta am Golf von Mexiko hatte sich in ein Rückzugsgebiet nomadisierender Indianerstämme entwickelt. Außerdem drangen die Franzosen vom angrenzenden Louisiana immer häufiger in spanisches Territorium ein. Es schien also ratsam, das Gebiet durch gezielte Besiedelung als Eigentum der spanischen Krone zu markieren. Bis 1747 hatten die Kartographen 120.000 Quadratmeilen Land vermessen, eine Fläche, die von der Stadt Laredo im Westen bis zur Küste am Golf von Mexiko reichte und sich von Monclova im Süden bis nach San Antonio de Bexar im Norden erstreckte.3

Auf die künftigen Siedler wartete ein hartes Leben in extremer Abgeschiedenheit. Der Boden war nur in Uferzonen für die Landwirtschaft geeignet. In Regenperioden bildeten sich an manchen Stellen des Rio Grande ganze Seen. Wenn sich das Wasser wieder zurückzog, hinterließ es fruchtbares Land. Doch jenseits dieser grünen Oasen breiteten sich Ebenen aus, auf denen nur Büsche und Gras wuchsen. Chaparral ist der gängige Name für diesen Vegetationstyp. Die harten Lebensbedingungen und die sengende Hitze der Sommermonate wurden von den Neu-Siedlern in Kauf genommen, da ihre Situation trotz allem eine Verbesserung erfuhr. Sie stiegen von Soldaten, Handwerkern und Landpächtern zu Landbesitzern auf – mochte das Land noch so knochentrocken, das Klima noch so heiß und das Leben noch so anstrengend sein. Bereits die erste Generation konnte große Flächen urbar machen. Im Gegensatz zu den traditionellen Latifundien-Kasten – Kirche und Adel – hatten sich diese Siedler ihre Verdienste als einfache Soldaten im Heer der spanischen Krone erworben. José de Escandón hatte die Audiencia davon überzeugt, diesen neuen Typ Siedler zu fördern; der Einzige, der wirklich bereit war, sich auf die Mühen des Pionierdaseins einzulassen. Um den Preis, dass sie sich im Falle eines Indianerangriffs selbst verteidigen mussten. Denn presidios, befestigte Garnisonen, waren aus Gründen der Sparsamkeit ebenso wenig vorgesehen wie kirchlicher Gemeinschaftsbesitz.

In jeder neu gegründeten Siedlung gab es nur ein einziges Amt, dessen Gehalt die Audiencia übernahm: das des capitán, dem sowohl militärische wie zivile Aufgaben zukamen. Da das Funktionieren der dörflichen Selbstverwaltung von den Fähigkeiten dieses Gemeindevorstehers abhing, war das Amt stets der Person zugedacht, die in der Gemeinschaft das größte Ansehen besaß – in der Regel waren das die Siedlungsgründer. Aber unabhängig davon, dass er in der Gemeinde das Amt mit dem höchsten Sozialprestige bekleidete, lebte auch ein capitán auf engstem Raum mit seinen peones zusammen. Für Angehörige des spanischen Adels und für kirchliche Würdenträger wäre das undenkbar gewesen. Die peones, die die einfachsten und mühsamsten Arbeiten in den rancherías verrichteten, waren Angehörige indianischer Ethnien, die vor Ankunft der spanischen Siedler in kleinen Familienverbänden am Rio Grande vom Fischfang gelebt hatten. Mit der Parzellierung der fruchtbaren Böden in den Uferzonen und Überschwemmungsgebieten in sogenannte porciones – handtuchförmige, relativ schmale, aber dafür bis zu 18 Kilometer lange Grundstücke –4 und deren Vergabe an Einzelpersonen war ihnen ihre bisherige Lebensgrundlage entzogen worden. Sie mussten nun für ihren Lebensunterhalt bei den Ranch-Besitzern arbeiten. Ihre eigenen Unterkünfte befanden sich in der Nähe der Pfarreien oder etwas abseits der Siedlungen.5

Insgesamt 6000 Siedler waren in wenigen Jahren zu eigenem Land gekommen. Kaum war alles verteilt, begannen sich die ersten wieder davon zu trennen, was anderen die Gelegenheit bot, sich noch mehr Land anzueignen. Begünstigt durch das Belohnungssystem der Krone bildeten sich so in den Siedlungen am Rio Grande von Anfang an große Besitzunterschiede. Die rancherías spezialisierten sich auf Rinder- und Schafwirtschaft. Der Absatzmarkt wurde ihnen von der Audiencia vorgegeben. So verboten die Gesetze der spanischen Kolonialverwaltung Produktion und Handel von Gütern, die auch in Spanien hergestellt werden konnten. Nur einige Grundnahrungsmittel waren unter bestimmten Auflagen von den strengen Gesetzen ausgenommen. Die Gemeinden zum Beispiel durften Felle, Wolle und sonstige Tierprodukte auf regionalen Märkten verkaufen. Handel mit Ländern, die nicht der spanischen Krone gehörten, wurde bestraft. Zum Ausgleich erhielten die Siedler am Rio Grande von der Krone Steuernachlässe. Doch wenn sie ihr Land verkauften und weiterhin im Ort leben wollten, verloren sie alle Rechte und Privilegien.6

Als erste der berühmten sieben Siedlungen des José de Escandón war am südlichen Ufer des Rio Grande 1749 Camargo gegründet worden. Dann folgten die Gründungen von Reynosa, Refugio, Dolores, Mier, Revilla und Laredo. Wie Perlen an einer Kette reihten sich schließlich sieben Siedlungen und einige haciendas beidseitig des Rio Grande/Bravo aneinander. Dass es die Einzigen im weiten Land zwischen dem Golf von Mexiko und Santa Fe im heutigen New Mexico waren, stärkte von Anfang an die Bindung untereinander.7 Diesseits und jenseits des Rio Grande existierte bald ein mehrere hundert Kilometer umfassendes Wegenetz. Die Gemeinden bauten außerdem ihr Selbstverteidigungssystem weiter aus, da die Überfälle von Comanchen und Lipan-Apachen nicht abnahmen.8 Die Stämme waren Mitte des 18. Jahrhunderts von den nordöstlichen Plains zu ihren in Chihuahua lebenden Stammesverwandten aufgebrochen. Auf ihrem Weg in den Süden stießen sie am Rio Grande/Bravo auf die Siedlungen, die als Schutzmaßnahme unter anderem ihre Dörfer an Stellen verlegt hatten, die mehr Überblick boten. Außerdem ersetzten sie beim Bau von Häusern Holzmaterialien durch den in der Region vorkommenden Fluss-Sandstein und bauten auf diese Weise ihre rancherías zu presidios aus.

Dass es auch um 1800 immer noch so häufig zu Überfällen kam, war ein Indiz, dass die spanische Krone nie die völlige Kontrolle über das Gebiet erlangt hatte und ihre Autorität zudem immer weniger gefürchtet wurde. Die Gemeinden am Rio Grande wandten sich in dieser Zeit kommerziell stärker den nordöstlichen Außengrenzen des Kolonialreichs zu. Von den Siedlungen führten versteckte Maultierpfade und Trampelwege durch endloses Chaparral bis zum Sabina-Fluss, wo seit der Annexion Louisianas 1803 die Vereinigten Staaten begannen. In den Jahrzehnten vor dem endgültigen Zusammenbruch des spanischen Vizekönigreichs hatten die drastischen Strafen, die Warenschmugglern drohten, ihre abschreckende Wirkung verloren. Und wer mit Rindern, Schafen, Wolle, Fellen, Kattun, Baumwolle und Tabak zu Wohlstand gekommen war, begann sich ohnehin über so etwas wie Freiheit Gedanken zu machen.

Wie Bernardo Gutiérrez de Lara. Der Schmied und Händler aus der Gemeinde Revilla strebte die Unabhängigkeit seiner Provinz von der spanischen Krone an und sprach schon von Texas, als es noch Teil Nuevo Santanders war. Mit Gutiérrez de Lara kämpfte bereits 1812 ein spanischstämmiger Mexikaner für die Befreiung der texanischen Provinz von der spanischen Kolonialherrschaft. Viele Jahre bevor der Angloamerikaner Stephen Austin auf der Bildfläche erschien, reiste Gutiérrez de Lara nach Washington und bat den US-Kongress um Unterstützung für den texanischen Freiheitskampf. Die USA reagierten zurückhaltend. Denn sie verhandelten mit den Spaniern gerade über die Westgrenze von Louisiana und den Erwerb Floridas. Immerhin sicherten sie Gutiérrez de Lara zu, seine Aktionen zu dulden. Also verbündete sich Gutiérrez de Lara mit französischen und US-amerikanischen Abenteurern. Mit ihrer Hilfe baute er die 1400 Mann starke »Republikanische Armee des Nordens« auf, belagerte 1813 San Antonio und rief den unabhängigen Staat Texas aus.9 In Medina kam es zur Schlacht mit den Streitkräften der spanischen Krone, die für die Armee der Aufständischen tödlich endete. Wer nicht im Kampf fiel, wurde hingerichtet. Die Konfrontation ging als blutigste Schlacht auf texanischem Boden in die Geschichte ein. Die Massenhinrichtungen, die der spätere mexikanische Präsident Antonio López de Santa Anna als junger spanischer Soldat auf Seiten der Royalisten erlebte, lieferten Historikern die Erklärung für sein späteres Handeln in Alamo (1836) und anderen Schlachten, wo er als mexikanischer Präsident und oberster Kriegsherr ebenfalls keine Gefangenen machte.

Welcome to Borderland

Подняться наверх