Читать книгу Einsatz über den Wolken - Jenny Schuckardt - Страница 6
Оглавление»Schneller, Pappel, schneller!«
Mein Vater Fritz Thyben stammte aus der Danziger Niederung aus dem Hof eines Domänen-Pächters der Stadt Danzig und war Prokurist bei der Firma Johansen & Schmielau in Kiel. Meine Mutter Lisbeth, geb. Ebelmann, stammte aus Bingen am Rhein und war Hausfrau – eine hübsche junge Frau mit dunklen Haaren und ebenmäßigen Gesichtszügen, die für das Theater schwärmte und nach gesellschaftlichem Aufstieg strebte. Zu gerne hätte sie aus mir, ihrem einzigen Sohn, einen Künstler gemacht. Ich erinnere mich mit Schaudern daran, dass sie mich eines Tages in einen Matrosenanzug steckte und ins Theater schleifte, da man dort auf der Suche nach einem dunkelhaarigen Jungen war, der einen Italiener spielen sollte.
»Gerdchen«, beschwor sie mich vor meinem Auftritt, »zeig ihnen, was du kannst, geh aus dir heraus!«
Genau das tat ich nicht. Es war mir einfach nur peinlich. Möglicherweise standen aber auch meine abstehenden Ohren einer künftigen Bühnenkarriere im Weg. Jedenfalls wurde ich zu meiner großen Erleichterung und ihrer maßlosen Enttäuschung nicht für die Rolle ausgewählt. Bis heute hält sich meine Begeisterung für das Theater in Grenzen.
Meine Kindheit in Kiel in unserem schmucken ockerfarbenen Reihenhäuschen mit etwas Garten und einem kleinen Kräuterbeet in der Graf-Spee-Straße 14 war unbeschwert und glücklich. Unsere Urlaube verbrachten wir abwechselnd auf dem wunderschönen weitläufigen Gut meines Onkels Karl Thyben in Ostpreußen oder in Bingen. Während meine Mutter zum Glück irgendwann ihre Träume von einer Schauspielerlaufbahn ihres Sohn begrub, schwebte meinem Vater, meinem »Pappel«, wie ich ihn nannte, vor, dass ich einen anständigen handwerklichen Beruf erlernen sollte, denn von meiner Mutter hatte ich eine ausgeprägte handwerkliche Begabung geerbt. Sie bastelte selbst noch im hohen Alter mit wenig Mitteln wunderschönen Weihnachtsschmuck.
Im elterlichen Wohnzimmer 1932 mit Mutter Elisabeth, Großmutter Maria geb. Rahn und dem Vater Fritz Thyben
Um dies zu fördern, brachte mir mein Vater eines Tages einen Bauplan für ein Segelflugmodell mit. Er erinnerte an ein Schnittmuster für Bekleidung. »Sieh mal, mein Junge, du musst jedes Teil einzeln mit einer Laubsäge ausschneiden und dann mit etwas Leim verkleben«, erklärte mein Vater und demonstrierte mir dann auch noch, wie man diesen Kleister aus Wasser, Zucker und Mehl anrührte. Unsere gemeinsamen Bastelstunden fanden in der Küche statt, was meiner Mutter ganz und gar nicht gefiel.
Der Bastler mit seinen Segelflugmodellen im Garten des Elternhauses in Kiel
»Kann der Junge nicht einfach Fußball spielen wie alle anderen auch«, seufzte sie so manches Mal, halb im Scherz, halb im Ernst.
Fußball fand ich langweilig. Während die anderen Jungs auf dem Sportplatz miteinander wetteiferten, gefiel es mir, stundenlang bei meiner Mutter in der Küche zu sitzen und an den Segelfliegern zu basteln, während sie die Pellkartoffeln zu den Matjesheringen kochte, meinem Lieblingsessen. Wenn dann mein Vater von der Arbeit heimkam, zogen wir zusammen los, um die selbstgebastelten Modelle fliegen zu lassen. Mit dem Fahrrad, er vorne, ich hinten drauf, manchmal begleitet von einer drolligen Dohle, die beschlossen hatte, bei uns als Haustier zu leben, radelten wir zu einer Wiese in der Nähe und starteten die Segelflieger, die eine Spannweite bis zu 2,5 Meter aufwiesen, mit einem langen Gummiband.
»Schneller Pappel, schneller!« Glucksend vor Glück rannte ich los, um die nach dem Flug sanft in der Wiese landenden Segler wieder zu holen, mein Vater hinterher. »Gemach, mein Junge, ein alter Mann ist kein D-Zug«, kokettierte er, war aber beinahe so schnell wie ich.
Die Zeit mit meinem Vater zu verbringen und meine Flugmodelle majestätisch durch die Luft gleiten zu sehen, war für mich das Schönste, was ich mir vorstellen konnte. Doch diese unbeschwerte Zeit zu zweit wurde bald schon knapp bemessen.
Seit Hitlers Machtübernahme als Reichskanzler am 30. Januar 1933 lief eine gewaltige Werbekampagne, um die Jugendlichen zum Eintritt in die »Hitlerjugend« zu bewegen, eine Jugendorganisation der NSDAP, die ideologische Indoktrinierung mit attraktiven Freizeitangeboten verband. Für jeden Geschmack wurde eine HJ angeboten: Es gab eine Reiter-, Motor-, Flieger-, Marine- oder Nachrichten-HJ für technisch begabte und sportliche Jugendliche, für künstlerisch Begabte gab es Fanfarenzüge und Spielscharen. Feiern, Ausflüge oder Zeltlager sollten für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sorgen. Im Grunde aber wurden die Jugendlichen zu Parteisoldaten erzogen, denen beigebracht wurde, Befehlen zu gehorchen, ohne lange nachzudenken. Einmal in der Woche waren Treffen angesetzt, dafür gab es sogar schulfrei. Weigerte man sich, der Hitlerjugend beizutreten, wurde man automatisch zum Außenseiter und konnte sogar Probleme in der Schule mit linientreuen Lehrern bekommen.
Bei den HJ-Treffen hatte man Uniform zu tragen. Diese Verkleidung mochte ich so wenig wie meinen Matrosenanzug. Meistens schmuggelte ich einen weißen Rollkragenpullover unter die Uniformjacke. Der musste später auch unter meine Luftwaffenuniform und blieb bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus mein Lieblingskleidungsstück.
So wenig wie die darstellenden Künste begeisterten mich paramilitärische Übungen in der Natur. Geländespiele waren nicht mein Ding. Aber da gab es eben auch diese Flieger-HJ, und irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass ich da hingehörte. Dort durften wir Jungs unter der Anleitung eines Flugzeugbau-Schreiners, eines freundlichen Mannes mittleren Alters, richtige Segelflugzeuge bauen. Das Geld dafür kam von irgendwelchen Sponsoren. In Kiel war das damals die Reichsbahn. Je nach Baustunden und Leistung durfte man dafür am Wochenende fliegen. Maßlos aufgeregt fieberte ich daher jedem Wochenende entgegen.
Alle zusammen schleppten wir dann das Segelflugzeug auf eine Anhöhe und stellten es hangabwärts gegen den Wind. Ein Gummiseil in V-Form wurde unter der Nase eingehakt, und an jedem Ende mühten sich bis zu sieben Kameraden, das Seil zu spannen. Eine Haltemannschaft von etwa fünf Leuten hielt den Segler fest. Ein Vorgesetzter übernahm das Kommando: »Ausziehen! … Laufen!« Sobald das Gummiseil genug gespannt war, erfolgte endlich das ersehnte Kommando »Los!«, und jeder von uns wurde einmal, begleitet von den strahlenden Augen aller anderen, in die Luft befördert.
Als Segelflieger bei der Flieger-HJ im Segelflugzeug SG 38 Zögling kurz vor dem Start
Ich erinnere mich noch ganz genau an das überwältigende Gefühl, zum ersten Mal auf den offenen Pilotensitz einer »Grunau 9« klettern zu dürfen. Dabei handelte es sich um einen einfachen Schulgleiter, dem eine vor dem Piloten angebrachte Strebe den Spitznamen »Schädelspalter« eingebracht hatte. Mein Herz klopfte bis zum Hals, meine Hände waren schweißnass. Fliegen! Wie ein Vogel! Großartig! Am liebsten wäre ich nie wieder heruntergekommen! Jede freie Minute verbrachte ich fortan eifrig beim Flugzeugbasteln, um möglichst viele Baustunden zu sammeln.
Bedauerlicherweise gab es da aber nebenbei auch noch die Schule – und Hein Bolle, meinen Mathelehrer, zu dem ich ein äußerst gespanntes Verhältnis hatte, da mein mathematisches Verständnis nicht allzu ausgeprägt war. es mir wieder einmal nicht gelang, eine Aufgabe zu lösen, zitierte mich Hein Bolle höchst erzürnt an die Tafel, erklärte mir den Lösungsweg und fragte nach, ob mir dieser jetzt endlich verständlich wäre.
»Muschja wohl«, nuschelte ich genervt und dachte dabei ans Fliegen. Dies war nicht die Antwort, die Hein Bolle hören wollte, denn er verpasste mir sogleich einen Satz heiße Ohren.
Aber noch etwas anderes blieb mir von diesem Lehrer im Gedächtnis: Er hatte als Soldat den Ersten Weltkrieg miterlebt. Aber anders als viele andere Kriegsteilnehmer erzählte er höchst ungern davon. Wenn die Sprache darauf kam, war er äußerst verschlossen. Nur einen einzigen Satz wiederholte er immer wieder: »Jungs, eines kann ich euch sagen: Wünscht euch keinen Krieg!«
Gegen Ende meiner Schulzeit kam es in meiner Familie zu einer dramatischen Entwicklung. Meine Eltern vermieteten die obere Wohnung unseres Reihenhauses an ein junges Ehepaar. Sie schlossen rasch Freundschaft mit den neuen Mietern, spielten miteinander Karten und lernten sich immer besser kennen. Er war ein mäßig begabter Musiker, doch meine Mutter bewunderte seine Kunst, lauschte hingebungsvoll seinem Spiel und verbrachte immer mehr Zeit mit ihm. Irgendwann kamen sie sich nahe. Zu nahe! Meine Mutter wurde schließlich schwanger. Mein Vater weigerte sich, dieses »Kuckuckskind«, wie er es nannte, als das seine anzunehmen. Meine Mutter tat alles, um die Beziehung zu retten, und gab das Kind, meinen Halbbruder, zur Adoption frei. Doch die Kluft zwischen meinen Eltern war zu tief. Die Ehe wurde geschieden.
Das Unglück meiner Eltern berührte mich nicht sonderlich, denn schicksalhafte Ereignisse warfen ihren Schatten voraus: Der Krieg brach aus, und es folgten Tage voller Unsicherheit, Gerüchten und Tuscheleien. Aus Angst, mit der Masse zur Infanterie eingezogen zu werden und womöglich in einem Schützengraben zu landen, meldete ich mich freiwillig zur Luftwaffe. Die Schule hatte ich mit einem Notabitur beendet, einer Art abgespeckten Reifeprüfung, bei der lediglich der bis dato unterrichtete Stoff abgefragt wurde. Ab September 1939 konnte man mit dem Segen des Regimes diesen Weg wählen, um möglichst rasch an die Front zu kommen. Für mich war das höchst erfreulich, da ich mit der Schule ohnehin nicht so viel am Hut hatte.
So schnell durfte ich dann aber doch nicht die Uniform tragen. Denn nach dem raschen Sieg über Polen dümpelte der Krieg ereignislos vor sich hin. »Drôle de guerre«, komischer Krieg, nannten die Franzosen diese acht Monate Stillstand bis zum Frankreichfeldzug. Also entschied mein Vater, dass ich ein Maschinenbau-Praktikum bei Blohm & Voss beginnen sollte. Es gab dort für mich wenig zu tun. Die meiste Zeit bastelte ich mit großem Vergnügen an einem kleinen Motor für ein Modellflugzeug.
Doch irgendwann ging der Krieg weiter, und ich wurde als »kriegsverwendungsfähig« (KV) eingezogen – zwar, wie es mein Wunsch gewesen war, zur Luftwaffe, aber leider nicht zum fliegenden Personal, sondern zu den Fallschirmjägern. Das sei eine außergewöhnliche Ehre, hieß es in dem Einberufungsschreiben, denn: »Die Fallschirmjägertruppe muss an ihre Männer besondere Anforderungen an Charakter, Willen und Körperbeherrschung stellen. Dies bedeutet, dass lediglich eine kleine Auslese wehrfähiger Deutscher den Mut besitzt, mit dem Fallschirm abzuspringen.«
Mein Traum war es, zu fliegen. Das Abspringen aus einem Flugzeug war nicht mein Ding, ebensowenig die Vorstellung, in einem Schützengraben zu liegen, denn das folgte wohl logischerweise danach, und davor graute mir. Alles, nur das nicht! Ich war ziemlich verzweifelt, lief tagelang kopflos durch die Gegend, bis meinem Pappel eine List einfiel. Er holte eine seiner besten Flaschen Cognac aus seinem geheimen Spirituosenversteck. »Die Buddel gibst du dem Feldwebel, der für die Rekrutierung zuständig ist, und machst ihm klar, dass du mit deinen Hohlfüßen keine gute Verstärkung für die Fallschirmjäger wärst.«
Mehrmals übte er mit mir die Szene vor dem Unteroffizier. Sicherlich war es nicht die Form meiner Füße, sondern mein doch sehr schüchternes Auftreten, das diesen schließlich zu seiner Entscheidung bewog. Er erhob sich von seinem Schreibtisch, lehnte sich gegen das Fenster und blickte hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
»Nun, bedauerlich, Thyben, wirklich äußerst bedauerlich. Sie hätten das Zeug gehabt. Jedoch nur, wer über sich hinauswachsen will durch selbstlosen Einsatz, wer die Erfüllung des Mannestums erstrebt, der kann Fallschirmjäger werden. Und offensichtlich sind Sie dazu nicht bereit.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass dieser Kelch an mir vorbeiging.