Читать книгу LIAM - Jens F. Simon - Страница 11
Das Generationenschiff
ОглавлениеDie ZUKUNFT I war startbereit. Das Generationenschiff befand sich in einer orbitalen Höhe von 350 Kilometern über der Erdoberfläche.
Das letzte Zubringerschiff hatte gerade wieder abgedockt und war auf dem Weg zurück zum Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana.
Von dort waren in den letzten Tagen über vierzig Flüge hinauf zu dem Fernraumschiff gestartet. Jeder Flug transportierte zwischen dreißig und fünfunddreißig Personen.
Die Besatzung des ersten Fernraumschiffes der Menschheit, das von vielen auch Generationenschiff genannt wurde, obwohl es kein wirkliches Generationenschiff war, war zwischen siebzehn und achtzehn Jahre alt.
Sie würden in dem Schiff nicht ihre ganze Lebenszeit verbringen, sondern während des Fluges hauptsächlich in sogenannten Tiefschlaf-Stasis-Kammern liegen.
Alec stand vor dem Panoramafenster der Brücke und blickte hinunter zur Erde. Der noch dunkle Rand des Planeten färbte sich langsam hellblau, als die Sonne langsam hinter der Erdkugel hervorkam.
Er war der erste Lenker des Schiffes. Mit ihm zusammen würden noch sechs weitere junge Männer und Frauen die ersten sieben Jahre des etwa 1300 Jahre dauernden Fluges als aktive Mannschaft an Bord verbringen.
Nach den sieben Jahren kam das nächste Team an die Reihe. Insgesamt gab es genau 191 Gruppen zu je sieben Personen, die jeweils sieben Jahre aktiv die Geschicke des Fernraumschiffes bestimmen würden.
Danach würde die ZUKUNFT I die etwa 1300 Lichtjahre in das ferne Sternbild des Schwans zurückgelegt haben.
Ein zurück gab es für die Crew aufgrund der Zeitdilatation jetzt nicht mehr. Das Raumschiff hatte seine Reisegeschwindigkeit von etwa 270.000 Kilometern/Sekunde erreicht.
Der Dilatationseffekt führte gemäß der Speziellen Relativitätstheorie dazu, dass die Zeit an Bord der ZUKUNFT I erheblich langsamer verging als auf der Erde. Je mehr sich das Raumschiff der Lichtgeschwindigkeit annäherte, umso größer wurden die Differenzen der Zeitabläufe zwischen den Menschen an Bord und den zurückgebliebenen auf der Erde.
Bei der jetzt erreichten Geschwindigkeit war der Dilatationsfaktor etwa 2, was bedeutete, dass die Uhren auf der Erde im Vergleich zu der Raumschiffbesatzung doppelt so schnell gingen. Für beide selbst, der Besatzung sowie den Menschen auf der Erde, schien jedoch alles unverändert normal zu sein.
Sobald das Schiff das fremde Sonnensystem im Sternenbild des Schwans erreicht hatte, waren auf der Erde etwa 2600 Jahre vergangen.
Ob es dann noch Menschen dort gab, konnte Alec nur vermuten. Jedenfalls sollte die ZUKUNFT I nicht das einzige Schiff seiner Art bleiben. Soviel er wusste, würden noch weitere Schiffe folgen.
„Alec, du stehst jetzt bereits eine halbe Stunde hier und schaust aus dem Fenster, dabei ist die Erdkugel schon längst der Schwärze des Alls gewichen.“
Helena hatte ihre Hand in die Seine gelegt und zog seinen Oberkörper zu sich heran. Beide waren seit einem Jahr ein Paar. Sie hatten sich entschlossen, ihre gemeinsame Zukunft weit weg von der übervölkerten Erde aufzubauen, dabei waren sie beide gerade erst achtzehn Jahre alt geworden.
Alec strich ihr mit der anderen Hand zärtlich durch die langen, schwarzen Haare und lächelte etwas zaghaft.
„Ich weiß nicht, ob wir wirklich das Richtige gemacht haben und jetzt ist es zu spät. Ein zurück gibt es nicht mehr!“
Sie nickte. „Das Gleiche habe ich auch schon gedacht. Aber wir sind ja nicht alleine. Denk nur an all die anderen, die sich ebenso entschieden haben, wie wir. Es wird nicht einfach werden, eine neue Welt mit aufzubauen, aber gemeinsam werden wir es schaffen. Du wirst sehen.“
„Es ist ein langer Flug. Ich hoffe nur, dass wir lebend ankommen werden. Ich habe Angst, über 1300 Jahre in der Stasiskammer zu liegen und andern meine Sicherheit anzuvertrauen. Verstehst du das?“
Helena verstand Alecs Bedenken und Ängste nur zu gut. Sie waren die ersten Sieben, die erste Lenkergruppe. Nach ihnen würden noch weitere 190 Teams zu je sieben Personen folgen.
Das war eine Menge und es würde noch eine lange Zeitspanne vor ihnen liegen, bis das Schiff sein Ziel erreicht hatte. Außerdem gab es noch so viele offene Fragen, die von niemandem wirklich beantwortet werden konnten. Waren die sieben wachen Personen an Bord überhaupt in der Lage, das Schiff vollständig zu beherrschen?
Was würde geschehen, wenn etwas Unvorhergesehenes eintrat? Ein Defekt am Antrieb, Ausfall von Maschinen, dem Lebenserhaltungssystem, der Stasiskammern.
Fremde Einwirkungen von außen oder sogar ein Kontakt mit Außerirdischen! Natürlich konnte die Lenkercrew weitere Besatzungsmitglieder aus der Stasis zu Hilfe holen, nur war das Fernraumschiff nicht auf mehr als maximal zehn ständig wache und aktive Menschen ausgelegt. Lufterneuerung, Nahrung und Recycling würden eine größere aktive Mannschaftsstärke nicht verarbeiten können.
„Ich hoffe nur, die Energiesysteme überstehen die lange Flugzeit.“
Alec schien tatsächlich sehr betrübt.
„Es gibt Notfallsysteme und für jedes Bauteil sind zwei weitere Ersatzteile eingelagert. Die Ingenieure und Wissenschaftler auf der Erde haben beim Bau des Schiffes nichts außer Acht gelassen. Schließlich hatten sie lange genug Zeit, um jede Eventualität durchzurechnen. Glaube mir, wir sind gut gerüstet. So und jetzt gehen wir in die Kantine. Ich habe Hunger!“
Helena zog Alec mit einem Ruck vom Fenster weg. Der Anblick der Sterne konnte im Moment eher eine depressive Stimmung erzeugen und das war nicht gut.
Luna schrag auf, als die Stimme des Hadronengehirns der ZUKUNFT I im Raum ertönte.
„Es gibt keine Aufzeichnung. Eine rückwirkende Komprimierung der Videodaten ist nicht möglich, da keine valide und damit kohärente Grunddateien existieren. Ein nachträgliches Fehleranalyseprogramm kann nicht gestartet werden, da es dazu keine greifbaren Grundlagen gibt. Es scheint, als wäre bei deinem Verlassen von ‚Reality-Fiction‘ das Programm ebenfalls eingefroren worden.“
„Das verstehe ich nicht!“
Sie blickte auf das kleine, holografische Symbol des Schiffes, das sich während des Gesprächs direkt vor ihrem Kopf mitten in der Luft gebildet hatte. Von der Stelle des Symbols kam auch die synthetisierte Stimme der ZUKUNFT I.
„Ich schlage vor, du betrittst nochmals das Programm. Diesmal wird dein Avatar zuvor mit einem Impulsgeber versehen, der indirekt eine Verbindung zu meinem Hauptspeicher herstellt und dabei sämtliche Datenflüsse für eine Nanosekunde nochmals abbildet, damit sie kopiert werden können.“
„Heute nicht mehr. Ich bin viel zu müde und außerdem muss ich die gemachten Eindrücke erst einmal verarbeiten!“
Luna zog sich aus und legte sich auf die Ruhefläche, die in gewisser Weise der Stasisliege nachempfunden war. Ein normales Bett, wie es sie von zuhause gewohnt war, gab es auf dem Schiff nicht.
Die Ruheliegen waren aus dem gleichen Material gefertigt, wie die Stasisliegen und es gab an ihnen eine Vielzahl von Sensoren und einen integrierten Ganzkörperscanner, der ihre Körperfunktionen und Gehirnaktivitäten während der Ruhephase überwachte. Ein über ihren Körper projiziertes Wärmefeld ersetzte die Bettdecke. Angenehme 24 Grad Celsius umhüllten so ihren nackten Körper.
Noch bevor ihr Geist begann, träge zu werden, rekapitulierte er das im Programm ‚Reality-Fiction‘ Erlebte.
Luna hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bevor sie einschlief, nochmals das gesamte Tagesgeschehen vor ihrem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Sie hatte mehrere Stunden in der virtuellen Welt verbracht und erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass ihr Unterbewusstsein diese Welt anscheinend für die Realität hielt. Immer wieder, wenn sie an Liam dachte, fingen ihre Gefühle an Purzelbäume zu schlagen.
Ihr ganzer Körper versteifte sich etwas, um dann sofort wieder zu entspannen, wobei sich in der Magengegend ein Kribbeln bemerkbar machte, das sich langsam über die Herzgegend bis hinauf in den Kopf fortpflanzte.
Sie konnte sich nicht wirklich daran zurückerinnern, dass das ursprüngliche Programm eine solche Figur beinhaltet hatte.
Sie hatte eigentlich damals, bevor sie das Schiff bestieg, lediglich eine Art Second Life Spiel mitnehmen wollen, um in den langen Jahren der Aktivphase etwas Ablenkung zu finden.
Irgendwie war das Spieleprogramm verändert worden und das konnte nur passiert sein, nachdem sie das Programm in das Schiffgehirn geladen hatte.
Aber trotzdem blieb es lediglich ein Programm, eine virtuelle Welt. Man konnte sich doch nicht in eine nicht existente Figur in einem solchen Programm verlieben, oder?
Lunas Gedanken fingen an, in eine konfuse Richtung zu wechseln. Sie liefen langsam aus dem Ruder, und bevor sie sich vollkommen in fantastische Gefilde verloren, war sie bereits eingeschlafen und begann zu träumen.
Ein neues, vom Unterbewusstsein geschriebenes Programm, begann ihr Ego in Beschlag zu nehmen.
Neue Welten entstanden, neue Figuren und Abläufe. Diesmal war es jedoch nur ein Traum.
Sie befand sich wieder in der Diskothek Sunrise und beobachtete Liam, der zwischen seinen Freunden stand und sich mit ihnen lautstark unterhielt.
Der Morgen des nächsten Tages brachte nichts Gutes. Luna fühlte sich bereits beim Aufwachen wie zerschlagen, so, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan.
„Guten morgen Luna. Was machst du den für ein Gesicht? Geht es dir nicht gut?“
Maja platzierte sich direkt gegenüber Luna und Milena, die mit ihr die Kantine betreten hatte, setzte sich schweigend neben sie.
Luna schaute die beiden an, als würden sie sich das erste Mal begegnen. Seitdem das Hadronengehirn des Schiffes sie aufgeweckt hatte, waren bereits sechs Jahre vergangen. Die letzte Siebenergruppe bestand aus drei jungen Männern und vier jungen Frauen. Das Ziel des Schiffes war in greifbare Nähe gerückt.
Tjark, der Astronom unter ihnen, war zur bestimmenden Person geworden. Er war seit einem Jahr mit Milena liiert.
„Gibt es irgendetwas, was wir wissen müssten?“ Milenas Frage ließ Luna aufhorchen. „Wie meinst du das?“
Es war unhöflich, auf eine Frage eine Gegenfrage zu stellen, aber Luna fühlte sich irgendwie in die Enge getrieben.
„Ajak hat Tjark gegenüber so eine Andeutung gemacht.“
„Ajak, ach ja? Ihr wisst doch, dass er zu Übertreibungen neigt. Was soll sein? Wir befinden uns fast am Ende einer sehr langen Reise. Möglicherweise hält er die Spannung nicht mehr aus oder die Einsamkeit!“
Luna trank hastig den letzen Schluck Kaffee und stand auf.
„Einsamkeit?“ Milena blickte fragend zu ihr auf.
„Natürlich Einsamkeit. Was soll die Fragerei? Ich habe zu tun!“
Luna verließ die beiden Frauen mit einem unguten Gefühl. Langsam bauten sich Spannungen unter den letzten Sieben auf und das war nicht gut.
Maja war mit Kian zusammen und Milena mit ihrem Tjark. Lediglich Ajak war keine Bindung eingegangen und das lag weiß Gott nicht an ihm. Er hatte mehrmals versucht, nacheinander mit Alina und auch mit ihr näheren Kontakt aufzubauen, aber sie beide hatten ihn abblitzen lassen. Für einen Mann war das wahrscheinlich nicht so einfach zu verkraften. Noch dazu, da er tagtäglich den beiden Frauen über den Weg lief.
Auch ihr fiel es von Stunde zu Stunde schwerer, die zur Schau getragene Verliebtheit der beiden Paare mit ansehen zu müssen. Sie wusste nicht, wie die anderen 190 Siebenergruppen vor ihrer Zeit mit diesem Umstand umgegangen waren. Soviel sie wusste, waren die einzelnen Gruppen, was das Geschlecht anging, paritätisch besetzt.
Aber das musste nicht automatisch heißen, dass sich auch dementsprechend Paare fanden.
Vielleicht sollte sie diesbezüglich einmal mit Alina sprechen, schließlich war sie ebenso Single geblieben, wie sie selbst. Obwohl, mittlerweile ging ihr dieser Liam nicht mehr aus dem Kopf.
Hatte sie sich etwa in einen animierten, virtuell erschaffenen jungen Mann verliebt? Nicht auszudenken, wenn die anderen davon Wind bekämen. Luna hatte als Lenkerin des Schiffes eine absolute Geheimhaltung über das Vorhandensein des Programms verhängt.
Nur das Hadronengehirn des Fernraumschiffes wusste davon und das sollte auch so bleiben.
Luna befand sich auf dem Weg zur Steuerhauptzentrale. Dort befand sich auch der VR-Spiegel in einem kleinen, abgegrenzten Raum, dessen Zugang verdeckt angebracht war. Er konnte nicht sofort erkannt werden, zu sehr war das Zugangsschott mit der Wand verwachsen.
ZUKUNFT I offenbarte ihr diesen Raum, nachdem sie, als Lenkerin, dem Schiff gegenüber eine gewisse Weisungsbefugnis erhalten hatte.
Sie bemerkte nicht, dass ihr jemand folgte, zu sehr war sie auf das Kommende fixiert, einen zweiten Einstieg in das Programm ‚Reality-Fiction‘. Sie würde Liam wieder begegnen, aber auch in eine Welt eintauchen, die so farbenfroh und spannend war, wie sie es sich nicht erträumt hatte.
Der triste Bordalltag und die Routinen wurden zur Last und die virtuelle Welt von ‚Reality-Fiction‘ war das Surrogat, das ein Durchhalten bis zum Ende der Reise erst ermöglichte.
Ajak beobachtete Luna, wie sie die Steuerhauptzentrale betrat. Er war ihr von der Kantine aus gefolgt, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie kam ihm immer seltsamer vor. Nach sechs Jahren immerwährenden engen Zusammenseins hatte sich zwischen den sieben aktiven Besatzungsmitgliedern eine emotionale Verbundenheit eingefunden, die auch ohne feste Bindungen eine gewisse Nähe schuf.
Jede noch so kleine Sinnesschwankung fiel sofort auf.
Ajak stand vor dem Schott der Steuerhauptzentrale und wusste zunächst nicht, was er tun sollte.
Wenn er jetzt einfach so hineinging, würde es aussehen, als wäre er ihr gefolgt. Das wollte er vermeiden, da immer noch die Hoffnung in ihm vorhanden war, dass sie sich näherkommen könnten. Er durfte das nicht einfach vermasseln.
Nach mehreren Minuten des Überlegens war jedoch die Neugier stärker.
Er betätigte den Wärmesensor an der rechten Seite und das Schott gab den Eintritt frei.
Verblüfft blickte er sich in dem mit Kontrollpulten übersäten Raum um. Es gab nur wenig freien Platz, an dem sich ein Mensch aufhalten konnte. Luna war nicht hier.
Er blinzelte mehrmals hektisch und atmete tief durch.
„ZUKUNFT I, wo befindet sich die Lenkerin Luna?“
Ajak stellte die Frage an das Schiff. Mit dem Hadronengehirn konnte man von jedem beliebigen Ort innerhalb des Schiffes in Kontakt treten.
„Es liegt keine Notfallautorisierung vor. Die Privatsphäre jeder Person hier an Bord ist nach Artikel 23 der Gemeindirektive vom 18.02.2044 ebenso geschützt, wie auf der Erde. Aussage verweigert!“