Читать книгу LIAM - Jens F. Simon - Страница 6
Disco-Night
ОглавлениеDie Diskothek Sunrise war der angesagteste Diskoschuppen in der ganzen Gegend. Ben hatte von seinen Eltern letzte Woche zu seinem achtzehnten Geburtstag einen alten Opel Kadett geschenkt bekommen. Den Führerschein hatte er schon ein Vierteljahr zuvor bestanden.
Ben hatte bereits vorher Fahrerfahrungen gesammelt, da er seit Jahren den Traktor seines Vaters fuhr, wenn er ihm auf dem Feld bei der Ernte half.
Sie fuhren durch das offenstehende Doppelflügeltor auf das Betriebsgelände der Diskothek. Langsam rollte Bens Wagen an dem hell erleuchteten Eingangsportal vorbei.
„Ist noch nicht viel los. Wir hätten ruhig auch eine Stunde später losfahren können!“
Silas schlechte Stimmung war ihnen bereits auf der ganzen Fahrt aufgefallen. Er saß auf dem Beifahrersitz, während Liam und Mika im Fond Platz genommen hatten.
Für Liam war es das erste Mal, dass er eine Diskothek besuchte und das auch nur, weil ihn der fünfzehnjährige Mika dazu überredet hatte. Zwischen ihnen beiden bestand ein besonderes Verhältnis.
Das heißt, es war wohl doch nur ein einseitiges Verhältnis.
Liam und Mika kannten sich bereits vom Kindergarten her und Mika war seit jeher ziemlich schüchtern und ängstlich. Sie hatten sich aus den Augen verloren, da sie auf verschiedene Schulen gewechselt waren und Liam dazu noch umgezogen war. Erst vor einigen Wochen hatten sie sich wieder getroffen und Mika hing seitdem an ihm, wie eine Klette.
Der Wagen wechselte von der asphaltierten Fläche auf Schotter. Auf dem Gelände, das dem Eigentümer der Diskothek Sunrise gehörte und auf dem ebenfalls ein Wohnhaus stand, das von ihm selbst auch bewohnt wurde, gab es einen Parkplatz, der für die Diskothekenbesucher reserviert war.
Ben bremste etwas hart und der Wagen rutschte auf dem Schotter und wäre fast in den einzigen anderen Wagen, der hier schon parkte, hineingeschlittert.
„Pass doch auf. Mir ist bereits schlecht!“
Silas Aufforderung wurde von Ben nur mit einem feinen Grinsen beantwortet.
Der Wagen war einen halben Meter vor dem anderen zum Halt gekommen.
„Sitzenbleiben, bis das Triebwerk zum Stillstand gekommen ist“, hörte Silas ihn noch sagen. Er wollte gerade die Wagentür öffnen, um auszusteigen.
Ben legte den Rückwärtsgang ein und gab nochmals Vollgas. Der Wagen schlingerte im Schotter und die Vorderräder drehten durch.
Eine ganze Anzahl kleinere Steine prasselten gegen die linke Seite des fremden PKW, dann drehte Ben mit einem gekonnten Handschlenker den Zündschlüssel herum und zog ihn aus dem Schloss.
„Endstation. Raus mit euch müden Kriegern. Lasst uns Party machen.“
Liam beobachtete erstaunt Ben. Er erschien ihm auf einmal total verändert.
Die Eingangstür war nur angelehnt, trotzdem ließ sie sich nur schwer aufziehen.
Der am oberen Türband befestigte Türschließer war defekt, sodass er bei jeder Bewegung des Türblattes versuchte, der Bewegung entgegenzuwirken. Demzufolge tat er auch nicht mehr das, wofür er konstruiert worden war, nämlich die Eingangstür selbsttätig wieder zu schließen.
„Silas, zieh die Tür hinter dir zu!“
Ben war als Erster eingetreten, gefolgt von Liam. Rechts neben der Eingangstür stand ein kleiner Tisch. Auf ihm befand sich ein brauner, verschließbarer Kassenbehälter und hinter dem Tisch saß Petra, die Tochter des Inhabers. Natürlich kostete der Eintritt Geld. Dafür bekam man aber auch einen Getränkebon.
Neben der Kasse konnte Liam ein ebenfalls braunes Kofferradio erkennen. Er zuckte sichtlich betroffen zusammen, als Ben die Tochter des Diskothekenbesitzers zu sich heranzog, in den Arm nahm und küsste.
Auch Mika und Silas klotzten nur und zeigten dabei einen recht dümmlichen Gesichtsausdruck.
Alle drei hatten augenscheinlich nicht gewusst, dass Ben eine Freundin hatte.
Es war still im Raum, da der DJ noch nicht anwesend war und selbst die Diskothekeninnenbeleuchtung, Discokugeln und Laserlicht waren noch nicht eingeschaltet. Der Raum wirkte kalt und ungemütlich.
„Heiko kommt etwas später“, sagte Petra gerade als Ben sie losließ.
„Dann mach wenigstens das Radio an, wenn der DJ schon zu spät kommt! Das hier ist doch eine Disco!“ Ben grinste Liam an, der immer noch starr neben dem Tisch stand und drückte auf einen Knopf am Radio.
„Es folgt die Zusammenfassung der Ereignisse um die Entführung. Am Montag, dem 5. September 1977 gegen 17:10 Uhr wurde Hanns Martin Schleyer in Köln von seinem Fahrer in einem dunklen Mercedes 450 SEL von der Arbeitgeberzentrale am Oberländer Ufer zu seiner Dienstwohnung chauffiert. Drei Polizisten folgten in einem hellen Mercedes 280 E. Die drei Personenschützer waren bewaffnet, Schleyer und sein Fahrer nicht. Der Anschlag spielte sich wie folgt ab: Die Täter fuhren mit einem Mercedes 300 D rückwärts aus einer Einfahrt direkt vor den Mercedes 450 SEL, dessen Fahrer noch rechtzeitig bremsen konnte.
Das Begleitfahrzeug fuhr jedoch auf Schleyers Wagen auf und schob diesen auf den Mercedes 300 D. Daraufhin eröffnete die RAF das Feuer auf den Fahrer, der mehrfach getroffen nach kurzer Zeit seinen schweren Verletzungen erlag. Einer der Terroristen sprang plötzlich auf die Motorhaube des Begleitfahrzeugs und feuerte aus einer polnischen Maschinenpistole PM-63 durch die Frontscheibe ins Wageninnere. Der Fahrer wurde 60 Mal in allen Körperbereichen getroffen und starb. Seinem Kollegen gelang es noch, den Fond des Fahrzeugs zu verlassen und mit seiner Dienstpistole dreimal zurückzuschießen. Daraufhin eröffnete der dritte Personenschützer aus der geöffneten Beifahrertür heraus das Feuer mit seiner Maschinenpistole, traf aber ebenfalls nicht. Beide Männer wurden daraufhin durch mehrere Schüsse der Terroristen tödlich getroffen.“
„Man, das kann man sich ja überhaupt nicht anhören.“ Petra schaltete das Radio aus.
„Der 05. September war doch letzten Montag!“
Mika blickte ziemlich erstaunt drein. Auch Liam war etwas blass geworden. Er hatte die Nachricht über den terroristischen Angriff und die Entführung überhaupt nicht mitbekommen.
„Ich war am letzen Wochenende in ‚Krieg der Sterne‘. Ich sage euch, das ist ein geiler Film. Den kannst du mit anderen Science-Fiction Filmen überhaupt nicht vergleichen.“
Silas schaute von einem zum anderen und sein Blick blieb dann auf Petra hängen.
„Nur eines habe ich nicht ganz verstanden, wieso im Vorspann Episode IV stand!“
„Wir gehen am Sonntag in ‚Bernhard und Bianca‘, nicht wahr?“ Petra lächelt Ben an und dieser schien jetzt tatsächlich etwas verlegen zu werden.
„Ähm, mal sehen“, wich er aus und nahm seinen Bon entgegen.
„Ich habe Durst!“ Liam folgte Ben in Richtung Bar Theke.
Hatte Silas eben tatsächlich den Anschlag der Terroristen mit dem Krieg der Sterne Kinofilm verglichen? Das eine war reine Fiktion, das andere tödliche Wirklichkeit.
Sag mal Silas, sonst geht‘s noch!“
Silas verstand jedoch nicht, was er wollte. Er grinste nur und Liam vernahm nur ein „Hä“ aus seinem Mund.
Als sie an der Theke ankamen, ging gerade die Standardbeleuchtung aus und mit dem ersten Song begannen die bunten Discobälle sich im Schein der Spotlights zu drehen.
„Seit 15 Wochen auf Platz 1 der deutschen Charts. Hier ist Baccara mit ‚Yes Sir I Can Boogie‘!“
Die Stimme des DJ durchdrang die eben noch vollkommene Stille, und bevor die Gruppe Baccara so richtig loslegen konnte, hörte man noch aus dem Mikrofon ein lautes Pfeifen und Fiepsen.
Liam hielt sich schnell die Ohren zu.
„Mister, Your eyes are full of hesitation. Sure makes me wonder, if you know what your looking for.”
Ein schwarzhaariges Mädchen drängte sich an ihm vorbei und Liams Blick fiel wie automatisch auf ihre Bluejeans, die sehr eng an ihren Oberschenkel saß und jede noch so verführerische Bewegung der Hüfte an den Po sichtbar weitergab.
Er schaute ihr immer noch versonnen hinterher, als ihn Mika mit der rechten Schulter anrempelte.
„Man, geh weiter, ich habe Durst!“
Liam ließ ihn an sich vorbeigehen, während seine Augen weiter dem schwarzhaarigen Mädchen folgten. Erst als sie von den Armen eines jungen Mannes umschlungen wurde, wendete er sich ab und ging weiter. Ben hatte bereits für alle Cola Bier bestellt, und als er jetzt den Bartresen erreichte, wurde ihm ein Glas zugeschoben.
„Auf die vielen Mädchen, die nur darauf warten, von uns verführt zu werden!“
Ben hob sein Glas und grinste. Silas begann zu kichern und Mika wurde rot. Nur Liam schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
Er hatte nicht wirklich zugehört. Sein Blick schweifte durch den riesigen Raum, vorbei an der noch leeren Tanzfläche, über die Tische hinweg und an den beiden Nischen vorbei.
Links, etwas höher als das normale Bodenniveau platziert, befand sich das DJ-Mischpult. Direkt davor standen zwei junge Frauen und lehnten sich lässig gegen das Pult.
Liams Blick wurde von ihnen wie magisch angezogen. Die Eine hatte lange, blonde und die Andere kurze schwarze Haare.
Dieses gegensätzliche Aussehen setzte sich ebenso in ihrer Kleidung fort. Während die Schwarzhaarige eine Bluse und Bluejeans trug, hatte die Blonde ein gelbes Kleid an.
Als sich sein Blick mit dem Blick der blonden Jungen Frau kreuzte, erschrak Liam und wandte sich schnell ab und schaute direkt in das Gesicht von Ben.
„Alles klar bei dir?“
Liam zuckte leicht zusammen, versuchte aber gleichzeitig einen alltäglichen Gesichtsausdruck zu bewahren, was ihm nur zum Teil gelang. Ihm war es unangenehm, sollte Ben bemerkt haben, dass er den beiden jungen Frauen nachschaute.
Er nickte nur hastig und blickte in eine andere Richtung.
„Lasst es euch nicht langweilig werden, ich schaue mich mal um! Sollten wir uns nicht mehr sehen, treffen wir uns um 23.30 Uhr an meinem Wagen!“
Liam schaute kurz hinter Ben her, dann schwenkte sein Blick wieder zum DJ-Pult. Die beiden jungen Frauen standen jedoch nicht mehr dort.
„Hast du bekannte Gesichter gesehen?“
Silas stand jetzt rechts von ihm und Mika links. Die beiden klebten wie Kletten an Liam. Er musste sie unbedingt loswerden. Aber wie?
Er entschied sich für eine Notlösung, schaute sich wie suchend um und marschierte dann mit dem Glas Cola Bier in der Hand auf die Toilettentür zu.
Er spürte noch den Blick der beiden in seinem Rücken, dann war er bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. Liam ließ sich Zeit und lehnte sich gegen die Außenwand mit dem einzigen Fenster im Raum.
Er wurde zwar mehrfach von den Leuten, die auf die Toilette kamen, eigenartig angeschaut, jedoch sprach ihn niemand dabei direkt an.
Nach zehn Minuten hatte er das Glas geleert und entschloss sich, den Toilettenraum wieder zu verlassen. Langsam öffnete er die Tür und blickte durch den Spalt in den Diskothekenraum. Er kam sich dabei schon recht blöd vor, aber es hatte funktioniert.
Er konnte Mika und Silas nicht mehr sehen. Dafür blieb sein Blick auf der Tanzfläche haften. Dort sah er die Blonde mit dem gelben Kleid und die Schwarzhaarige von vorhin tanzen.
Sie tanzten miteinander und schienen sich prächtig zu amüsieren. In Liams Leben war bisher nur wenig Platz für Mädchen gewesen.
Er kam jedoch zunehmend in ein Alter, wo man die neu einsetzenden Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr so einfach ignorieren konnte.
Wenn da nur nicht diese dumme Schüchternheit gewesen wäre. Die blonde, junge Frau gefiel ihm schon und je länger er sie beobachtete, umso mehr spürte er den Drang in sich, sie anzusprechen. Nachdem die beiden die Tanzfläche verlassen hatten, ging er ihnen nach.
Liam ließ die Blonde nicht mehr aus den Augen. Es war nicht einfach, da sich die Diskothek mittlerweile ziemlich stark gefüllt hatte und man in den Gängen nur noch durch Schieben und Drücken vorankam. Trotzdem schaffte er es.
Er wartete geduldig, bis sie endlich alleine war. Er hoffte, die Schwarzhaarige würde nicht gleich wieder zurückkommen.
Die beiden hingen wirklich wie Kletten beieinander. Er fasste allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte und schritt mit wackligen Knien auf sie zu. In seiner Hand hielt er immer noch das leere Glas.
Sie schien ihn überhaupt nicht bemerkt zu haben, denn als er schon vor ihr stand, blickte sie immer noch in eine andere Richtung.
In Liam kamen Zweifel auf. Er begann immer stärker zu transpirieren. Nur mit großer Mühe kam ein „Hallo“ über seine Lippen.
In seinem Kopf begann es zu rauschen, als sie langsam ihren Kopf in seine Richtung drehte.
Er versuchte noch schnell ein Lächeln aufzusetzen. Ihre Augen blitzten ihn regelrecht an, und obwohl sie kein Wort sprach, fühlte er sich bis auf die Seele durchschaut.
„Hast du Lust, mit mir zu tanzen“, kam es stockend aus seinem Mund.
Seine Hände umfassten krampfartig das leere Bierglas. Voller Erwartung starrte er sie an und bemerkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete.
Ihr Gesichtsausdruck blieb nichtssagend und es kam ihm tatsächlich so vor, als würde sie durch ihn hindurchblicken.
Dann fühlte er eine Berührung an seiner rechten Schulter. Vollkommen verblüfft und in einer unkontrollierten Bewegung drehte er sich um und schaute direkt in die Augen der Schwarzhaarigen.
„Lass sie in Ruhe, sie gehört zu mir. Du brauchst dich nicht zu bemühen, hast du verstanden?“
Liam blickte verstört zu der blonden, jungen Frau. Aber sie schien ihn immer noch nicht zu beachten.
Erst als die Schwarzhaarige auf sie zu trat, ihre Hand um ihren Kopf legte und sie ostentativ küsste, kam wieder etwas Farbe in sein Gesicht.
Vollkommen verdattert schaute er den beiden zu, wie sie jetzt ungeniert Zärtlichkeiten austauschten. Entmutigt wandte er sich ab und stolperte von dem schmalen Podest, auf dem er eben noch gestanden hatte.
Das Schicksal schien es überhaupt nicht gut mit ihm zu meinen. Langsam begann sich sein Körper wieder zu entspannen.
Er benötigte dringend etwas frische, kühle Luft. Er kam sich vor, wie ein Versager.
Als er draußen vor der Eingangstür der Diskothek stand, atmete Liam erst einmal tief durch.
Die Nacht war nicht ganz so dunkel, wie gewohnt. Der Vollmond in dem wolkenlosen Himmel spendete genug Helligkeit, um die nähere Umgebung mit einem weißlich grauen Schimmer auszuleuchten.
Ein Wagen fuhr mit aufheulendem Motor an ihm vorbei und der Splitt unter den Rädern spritzte nach allen Richtungen.
Liam sah dem Wagen nachdenklich hinterher, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Ein unterdrücktes Kichern, das aus einer Ecke seitlich neben dem Toilettenanbau kam, ließ ihn aufhorchen. Als er von dort ebenfalls leise Stimmen vernahm, ging er langsam darauf zu.
Sie lag weitgehend im Schatten und so konnte er das Pärchen erst wahrnahmen, als er fast vor ihm stand.
Voller Schrecken erkannte er Silas in den Armen eines Mädchens.
Schnell ging er zurück und hoffte nur, dass ihn Silas nicht erkannt hatte. Hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen? Blieb er der einzige junge Mann ohne Beziehung?
„Verdammt!“ Mit einem wütenden Schrei warf Liam das leere Bierglas gegen die Außenwand der Diskothek. Es gab einen lauten Knall, als das Glas in tausend Scherben zerbarst.
„Ist da wer?“ Als er Silas Stimme hörte, öffnete er schnell die Tür und verschwand wieder im Inneren der Diskothek.