Читать книгу LIAM - Jens F. Simon - Страница 9
Die Auswanderung
Оглавление23.07.2015. Der Tag, an dem die zweite Erde entdeckt wurde, war ein Donnerstag. Die US-Weltraum-Organisation NASA vermeldete, dass im Sternbild des Schwans sich ein Cousin der Erde befand.
Jakob Grasfeld, Chef der wissenschaftlichen Expedition des Weltraumteleskops "Kepler", sprach vor Journalisten begeistert von einer „Erde 2.0“.
Das in knapp 70 Millionen Kilometer von der Erde entfernt installierten Weltraumteleskop „Kepler“ beobachtete einen festen Ausschnitt des Sternenhimmels mit ca. 190.000 Sternen im Sternbild Schwan.
Die Zielsetzung der Wissenschaftler war dabei gewesen, vergleichsweise kleine Planeten, ähnlich der Erde, und damit auch potenziell bewohnbare extrasolare Planeten zu entdecken.
Um dieses Unterfangen überhaupt möglich zu machen, befand sich das Teleskop nicht in einer Erdumlaufbahn, sondern in einem Sonnenorbit mit einer Umlaufzeit von 372,5 Tagen. Kepler entfernte sich im Laufe der Jahre immer weiter von der Erde und minimierte damit Störeinflüsse oder periodische Verdeckungen durch den Planeten.
Es dauerte nochmals ganze 20 Jahre, bis man endlich Gewissheit bekam, dass es sich bei Kepler 452b wirklich um einen Planeten in der habitablen Zone handelte.
Er war etwa 60 Prozent größer als die Erde und sechs Milliarden Jahre alt. In 385 Tagen drehte er sich einmal um seine Sonne. Auf seiner Oberfläche gab es aktive Vulkane, aber auch Ozeane.
Im Jahre 2038 wurde dann endlich auch eine Sauerstoffatmosphäre nachgewiesen. Damit konzentrierte sich das gesamte Interesse der Weltmächte auf diesen einen Planeten.
„Die Überbevölkerung der Erde lässt keine andere Schlussfolgerung zu. Denken Sie nur an die Bevölkerungsexplosion des letzten Jahrzehnts zurück. Die daraus folgenden Umweltprobleme und den globalen ökologischen Fußabdruck der Menschheit brauche ich wohl erst gar nicht zu erwähnen. Die Entwaldung durch das sogenannte Landgrabbing, der extreme Rückgang der verfügbaren Süßwasserressourcen. Die Erde wird Ende des Jahres 16,7 Milliarden Menschen beherbergen. Bewaffnete Konflikte werden bereits zunehmend um Wasser ausgetragen!“
Jens Collin, Chef des SETI-Instituts im kalifornischen Mountain View, holte tief Luft und trank sein Glas Mineralwasser auf einen Zug leer.
Er saß zusammen mit zwei führenden Wissenschaftlern und Physikern der neu gegründeten EMF (Extraterrestrial Migration Force) innerhalb der ESA in Kourou, Französisch-Guayana.
Diskutiert wurde über die potenzielle technologische wie auch gesellschaftspolitische Möglichkeit einer Auswanderung nach Kepler 452b.
Franz von Lohheim, der älteste der beiden Wissenschaftler, nickte nur zustimmend. Er war weit über sechzig Jahre alt und hatte bereits im Alter von 24 Jahren das im Jahre 2014 gestartete Sentinel-Projekt übernommen und weitergeführt. 2021 kreisten insgesamt zehn Sentinel-Satelliten um die Erde und sammelten Daten für das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus.
Im Jahre 2022 begann von Lohheim damit, das Sentinel-Projekt auf andere Raumfahrtprojekte zu erweitern. Er kombiniert die Informationen mit Messungen von Ballons, Flugzeugen, Wetterstationen, Seismografen und Kommunikationssatelliten. Dabei legte er besonderen Wert auf eine sozialanthropologische und ethnologische Ausrichtung der Analysen sowie die entsprechenden Auswirkungen auf die Umwelt.
„Meine Herren, wir alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Die Lebensblase Erde schrumpft unausweichlich. Es ist bereits kurz vor zwölf. Wenn wir nicht jetzt handeln, wenn dann!“
Von Lohheim blickte seinen Kollegen Sergei Wassilje auffordernd an. Der gebürtige Russe war einer der führenden Köpfe der Erde, wenn es um moderne Raumfahrttechnologie ging.
„Die Gelder sind genehmigt. Die Mitgliedsstaaten der UN haben einstimmig entschieden. Es ist das größte und ambitionierteste Projekt, das die Menschheit seit Beginn der Marsbesiedlung in Angriff nimmt!“
„Das wissen wir. Sergei, was Collin und mich viel mehr interessiert, ist die technische Umsetzbarkeit.“
„Meine Herren, ich bezweifle stark, dass man in einer relativ kurzen Zeitspanne ein Transportmittel entwickeln und bauen kann, das in der Lage ist, eine solche Entfernung auch nur im Ansatz zu überbrücken. Selbst wenn ein Raumschiff technisch in der Lage wäre, sich mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen, würde es Jahrhunderte benötigen, bis man bei Kepler 452 b angekommen wäre. Das ist ein Projekt für die Kinder unserer Kindeskinder!“
Jens Collin hielt nichts von unrealistischen und von Wunschdenken geprägten Aktionismus.
„Mit 90 Prozent Lichtgeschwindigkeit, bitte! Gemäß der speziellen Relativitätstheorie Einsteins kann sich kein Objekt schneller als das Licht im Vakuum bewegen. Selbst das Erreichen von 100 Prozent Lichtgeschwindigkeit ist nicht möglich, da der aufzuwendende Energieaufwand zur Beschleunigung über alle Grenzen gehen würde. Die kinetische Energie steigt mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit mit wachsender Geschwindigkeit immer steiler an und nach einem gewissen Punkt muss zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit unendlich viel Energie aufgebracht werden. Dieser Umstand ist eine Folge der Struktur von Raum und Zeit und keine Eigenschaft des Objekts, sodass es nicht an der angewandten Technologie liegen kann. Aber dieser Umstand ist vernachlässigbar. 90 Prozent Lichtgeschwindigkeit reichen bereits aus, um Kepler 452 b zu erreichen. Wir benötigen lediglich noch einige zusätzliche Spezifikationen, die Passagiere eine Reisedauer von etwa 1300 Jahren überleben lassen.“
Sergei Wassilje war in seinem Element. „Mit der Entwicklung der sogenannten Stasiskammern wurde bereits 2047 begonnen. Die letzten Tests mit Schimpansen verliefen sehr zufriedenstellend.“
Wassilje schaute mehr versonnen als gegenwärtig zu seinen beiden Kollegen. Dann lenkte er seinen Blick auf die Armbanduhr.
„Ich habe heute Nachmittag einen Besprechungstermin mit Doktor Manfred Lukas. Er ist ein Deutscher und zeichnet hauptsächlich verantwortlich für die Entwicklung der Stasiskammern des Fernraumschiffs. Er ist einer der besten Bio-Kypernetiker unseres Jahrhunderts.“
„Darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, dass die EMF bereits ein fertiges Konzept entwickelt hat!“ Jens Collin schaute verwirrt von Sergei Wassilje zu Franz von Lohheim.
„Nicht nur das. Mit dem Bau des Fernraumschiffes wurde bereits begonnen. Die Triebwerkstechnologie basiert auf einem antimateriebetriebenen Laserreaktor. Damit werden Millionen von Photonen wie ein Triebwerk mit Lichtgeschwindigkeit ins All geschossen. Jedes Photon hat einen Impuls. Der Gesamtimpuls ist wellenlängenunabhängig. Es kommt nur auf die in den Laser gesteckte Energie an und diese wird aus der Antimaterie gewonnen, die wiederum aus dem Energiefeld der sogenannten Dunklen Energie extrahiert wird.
Das Universum ist voll von Strukturen der Dunklen Energie, das wissen wir schon seit Jahrzehnten. Aber erst vor Kurzem ist es gelungen, diese rätselhafte Energieform, die der Schwerkraft der im Weltall enthaltenen Materie entgegenwirkt und so die Expansion des Raumes bremst, anzuzapfen.“
Doktor Doktor Wassilje nickte wie bejahend zu seinen eigenen Ausführungen.
„Diese Information ist noch streng geheim. Wir halten sie unter Verschluss, bis das Projekt vor dem endgültigen Abschluss steht. Sie verstehen! Ich darf Sie, verehrter Kollege, diesbezüglich an die Verschwiegenheitserklärung erinnern, die Sie unterschrieben haben. Noch darf davon kein Sterbenswort an die Öffentlichkeit dringen.“
Er trank das halb volle Glas mit Mineralwasser, das vor ihm auf dem Tisch stand, mit einem Schluck aus und blickte nochmals auf seine Uhr.
„Jetzt müssen mich die Herren bitte entschuldigen, ich habe noch ein paar Vorbereitungen zu tätigen, die ich für den Besprechungstermin mit Doktor Lukas benötige.“
Mit dem eigentlichen Bau des Fernraumschiffs hatte man bereits im Jahre 2040 begonnen. Das war ein Jahr nach der Fertigstellung der Internationale Raumstation ISS, deren Bau 1998 begonnen hatte.
Die ISS befand sich in einem etwa 400 Kilometer hohen Erdorbit und kreiste alle zweiundneunzig Minuten einmal um die Erde.
Von 2020 bis 2039 hatte man die Größe der Station fast nochmals verdoppelt, sodass sie nach Fertigstellung eine Ausdehnung von etwa 230 Metern mal 190 Meter mal 62 Meter erreichte.
Zunächst hatten die Raumfahrtagenturen der europäischen Länder nach Fertigstellung der ISS eine zweite, kleinere Raumstation geplant. Erste Shuttles begannen damit, Fracht- und Antriebsmodule in die Exosphäre der Erde zu transportieren.
Die zweite Raumstation sollte sich in unmittelbarer nähe zur ISS befinden, damit spätere Versorgungsflüge zu den Stationen miteinander verbunden werden konnten.
Nach dem Startschuss des Projektes ‚Neue Heimat‘ wurde dann damit begonnen, die bereits im Weltraum befindlichen Module für den Bau eines Fernraumschiffs zu verwenden.
Die äußere Form des in der Entstehung befindlichen Raunschiffs ZUKUNFT glich zunächst stark der Raumstation ISS. Besonders auffällig waren die vielen Sonnensegel.
Sie waren notwendig, um während der gesamten Bauphase zusätzliche Energie von der Sonne zu gewinnen.
Die Techniker, Ingenieure und Stahlarbeiter bezogen während der ersten Jahre ihr Quartier in der ISS und flogen täglich mehrmals mit den neuen Stratmos- Einmannfluganzügen zwischen der Baustelle und ihren Wohnquartieren hin und her.
Erst als nach etwa fünf Jahren Wohnmodule in die entstandene Skelettstruktur des Schiffes integriert wurden und diese mit Energie versorgt werden konnten, begann man in dem im Bau befindlichen Schiffskörper auch zu wohnen.
Das Besondere an dem Projekt „Neue Heimat“ war, dass bereits an dem Raumschiff gearbeitet wurde, während die Forschung und Entwicklung der wichtigsten Maschinen und Anlagen noch voll im Gange war.
Der Antrieb sowie die Technologie der Stasiskammern war noch nicht ausgreift genug, um in die Fertigung zu gehen.
Es gab verschiedene Ansatzmöglichkeiten und eine Vielzahl von Wissenschaftlern arbeitete an differenzierten Lösungsmöglichkeiten.
„Die Schiffbrücke und der Gemeinschaftsraum sind die Kernbestückung des Schiffs. Wir sind jetzt mit dem Außenstahlskelettbau in die entscheidende Phase gerückt. Als Nächstes müssen die Teilstücke und Module der Brücke und der Innenräume eingebracht und installiert werden. Wie Sie alle wissen, wurden dafür genau 22 Korridore im Skelett ausgespart. Es wird nicht gerade einfach werden, die Raummodule dort hindurch zu bugsieren und in die für sie vorgesehene Position zu bringen. Wir arbeiten in sieben Teams zu je fünf Mann.“
Ingenieur Jan Mailand blickte von dem runden Tisch, an dem er und seine Kollegen saßen, auf.
Vor ihm lagen mehrere holografische Tablets mit dreidimensionaler Grafik. Sie zeigten die verschiedenen Ansichten des einstigen Fernraumschiffs. Lagepläne der Räume, Quer, - und Längsschnitte sowie verschiedenartige Risszeichnungen vervollständigten die Konstruktionsunterlagen.
„Lukas, wann können wir mit den ersten Lieferungen rechnen?“
Lukas Baumann, Stahltechniker und erfahrener Logistiker, erhob sich von seinem Platz.
Sie befanden sich alle im Wohnmodul VI, das einzig und allein dafür vorgesehen war, um solche Arbeitsbesprechungen wie heute, abzuhalten.
Die anderen fünf Module, die ebenfalls innerhalb des Stahlgerippes der Schiffsaußenkonstruktion verankert waren, dienten den Monteuren der Zukunft, wie sie sich selber nannten, als Unterkunft.
Die mittlerweile 300 Meter lange und 200 Meter breite Gesamtkonstruktion befand sich in 420 Kilometer Höhe über der Erde und etwa 22 Kilometer südöstlich der Raumstation ISS.
„Ich habe vor einer Stunde die Bestätigung vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou bekommen. Die ersten Space-Shuttles von SpaceX werden in genau 12 Stunden starten. Zunächst werden vorgefertigte Teile der Brücke und der Maschinenräume angeliefert. Wir müssen uns auf einen Zeitkorridor von 48 Stunden einrichten. Ich denke, es wäre vorteilhaft, dass wir im Schichtbetrieb rund um die Uhr arbeiten, anders ist es wohl nicht zuschaffen. Das private Raumfahrtunternehmen SpaceX wird insgesamt 18 Flüge durchführen, und dass innerhalb eineinhalb Monaten.“
Es war ruhig geworden, im Raum. Die Männer und Frauen schauten etwas irritiert von Lukas Baumann zu Ingenieur Mailand.
Er trug nicht nur die Verantwortung für die Einhaltung der Fristen beim Bau des Schiffes, sondern insbesondere auch für das Wohlergehen und die Sicherheit der Mitarbeiter.
Trotzdem war dieser Gewaltakt auch für ihn völlig neu.
Als ein Tumult unter den Leuten auszubrechen drohte, erhob er sich und brüllte: „RUHE!“
Er brauchte es nicht zweimal zu tun, die Mitarbeiter waren normalerweise sehr diszipliniert. Das mussten sie auch sein, schließlich lag ihr Arbeitsplatz in 420 Kilometer Höhe bereits in der Exosphäre, der äußersten Schicht der Erdatmosphäre.
Schlagartig war es ruhig. „Ich bin selbst etwas überrascht. Lukas, wieso erfahre ich diese wichtige Information erst jetzt?“
Lukas Baumanns Gesicht lief rot an.
„Ich habe es auch erst kurz vor dem angesagten Besprechungstermin erfahren. Was glauben Sie, was ich denen da unten alles an den Kopf geworfen habe. Trotzdem bestand man weiterhin auf eine genaue Termineinhaltung. Ich denke, Sie müssen die Situation an höherer Stelle eskalieren!“
Er holte tief Luft. „Ich gebe Ihnen nach der Besprechung die Telco- minutes.“
„Leute, keine Panik. Ich werde das klären. Wir werden uns nicht erpressen lassen und schon gar nicht zulasten unserer Sicherheit irgendwelche Terminvorgaben erfüllen, die absolut illusorisch sind. Mein Wahlspruch war immer Qualität vor Quantität. Die zukünftige Besatzung muss sich schließlich auf unsere Arbeit einhundertprozentig verlassen können. So geht das nicht!“ Baumann blickte nochmals aufmunternd in die Menge.
„Die Versammlung ist aufgehoben. Alles Weitere erfahren Sie vom jeweiligen Schichtführer.“
Als Lukas Baumann nach mehreren Stunden Außenbordarbeit zurück in sein Wohnmodul kam, ging er sofort zur Kabine von Ingenieur Mailand.
Er hatte sich die ganze Situation nochmals durch den Kopf gehen lassen und war ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zeitfenster der Montage viel zu kurz gewählt waren.
Baumann hatte sich noch nicht einmal Zeit genommen, seinen Raumanzug auszuziehen. Mit eingeklapptem Raumhelm und voller Montur stand er vor Mailands Kabinenschott.
In einem klobigen Raumanzug des beginnenden 21. Jahrhunderts wäre das nicht so einfach möglich gewesen. Er hätte sich zumindest nicht im Innenwohnraum so frei bewegen können, wie mit den seit 2050 gebräuchlichen Monturen. Sie waren nicht nur viel flexibler und dünner, sondern verfügten auch über optimierte Gelenkstellen für den Hüft,- und Schulterbereich.
Sie waren nicht so wulstig, wie die alten Anzüge, in deren innersten Schicht Schläuche eingelegt waren, durch die kaltes Wasser zur Kühlung gepumpt wurde. Ebenso wenig war es nicht mehr notwendig, damit sich der Anzug im Vakuum nicht aufblähte, in seinem Inneren den Druck zu senken.
Lediglich die äußere Aluminiumbeschichtung zum Schutz vor Mikrometeoriten und Strahlung war geblieben. Der Weltraumanzug verfügte über ein starkes Antigravitationsfeld, das vollständig ausreichte, um dem Träger einen sicheren Aufenthalt im All zu garantieren. Gleichzeitig konnte man durch gezielte Veränderung seiner Vektoren einen Schub erzeugen und bekam damit eine Mobilität, die mit den alten Anzügen undenkbar gewesen wäre.
„Mit Verlaub, so geht das absolut nicht. Ich kann und werde meine Leute nicht unter diesen Bedingungen weiterarbeiten lassen. Das Gefährdungsrisiko ist viel zu groß!“
Baumann stand im offenen Kabinenschott und hörte Mailands laute Stimme. Er sprach gerade über Funk mit dem ESA-Hauptquartier Guayana. Mailand blickte nur kurz zum Eingang und nickte Baumann zu.
Er trug einen Kopfhörer und die Antwort von der Erde schien ihm nicht wirklich zu gefallen.
„Nein, das ist keine Rebellion. Es muss doch auch im Sinne aller Beteiligten sein, dass wir hier oben keinen Blödsinn machen, oder? Das Zeitfenster der Modulanlieferungen muss vergrößert werden, und wenn SpaceX da nicht mitspielt, kontaktieren Sie die Sierra Nevada Corporation oder ein anderes privates Raumfahrtunternehmen mit entsprechenden Kapazitäten.“
Baumann stand immer noch unbeweglich am Eingang und hörte Mailands Ausführungen mit wachsendem Interesse zu.
„Natürlich ist es eine Frage der Kosten. Aber es ist auch eine Frage von Menschenleben. Wie viel ist ihnen denn ein Leben wert?“
Mailand gab Lukas Baumann mit der Hand ein Zeichen, ganz hereinzukommen und das Schott zu schließen.
„Nein, ich bin weder sarkastisch noch unsachlich. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir eine realistische und durchführbare Alternative liefern. Ende!“
Mailand betätigte den Ausschalter, riss sich die Kopfhörer herunter und warf sie auf das Funkgerät.
„So, jetzt ist mir wohler, jetzt sind die da unten am Zug. Es ist kaum zu glauben, dass der oberste Chef der ESA Pfarrer gewesen sein soll. Er muss doch begreifen, dass man Menschen, die bereits am Limit ihrer Möglichkeiten in einem sehr gefährlichen Umfeld arbeiten, nicht auch noch zusätzlich unter Druck setzen kann.“
Baumann nickte nur zustimmen und setzte sich etwas unbeholfen auf den einzig freien Platz neben Mailand.
„Gehen wir davon aus, dass wir genügend Zeit bekommen werden, um die Module der Innenräume des Schiffes einzufügen und zu montieren.“
Mailand aktivierte per Tablettsteuerung den Zentralschirm, der sich über dem Arbeitsplatz befand.
„Wir beginnen zunächst mit dem Aufbau der Brücke.“
Ein holografisches Bild der Schiffzentrale entstand direkt vor ihnen. Die dreidimensionale Risszeichnung gab ein sehr plastisches Bild des zukünftigen Herzstückes des Fernraumschiffes wieder.
Der Brückenraum war kreisförmig und hatte einen Durchmesser von fast fünfzig Metern. Er war in zwei unterschiedliche Bereiche aufgeteilt. Die eine Hälfte bestand aus dem Hauptschirm, Steuerpulten mit Sitzen und Computerterminals.
Die andere Hälfte war mehr oder weniger eine Art Aufenthaltsbereich mit Liegeflächen, Sesseln und dazugehörige Versorgungseinrichtungen.
Die Außenwandung war hier fast vollständig durch eine Fensterfläche ersetzt worden, die nur von tragenden Stahlstützen unterbrochen war.
Die Fensterflächen waren ebenfalls gerundet und ragten bis zu zwanzig Prozent in die Deckenflächen hinein.
In der Mitte des runden Zentralraums befand sich der Zugang, ebenfalls gerundet und mit Blick in das untere Deck.
Treppenstufen führten nach unten. Die gesamte Konstruktion wurde aus verschiedenen metallhaltigen Werkstoffen erbaut und glänzte in einer graublauen, silbernen Optik. Lediglich die Brüstung zum unteren Deck bestand aus Kunststoffglas mit einem Handlauf aus Aluminium.
Neben dem Zentralschirm, der in einer kleinen seitlich herausragenden Zwischenwand eingebaut war, befanden sich weitere Bullaugenfenster, die vom Boden bis zur Decke reichten.
„Aus wie viel Modulen besteht die Brücke?“
Baumann sah den Raum zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit.
„Es werden insgesamt elf Module in verschiedenen Größen sein.“
„Es gibt sehr viele Fensterflächen. Man wird dort das Gefühl haben, direkt im Weltraum zu stehen. Ich glaube nicht, dass mir das gefallen würde!“
Baumann verfolgte aufmerksam, wie sich der Zentralraum auf dem Bildschirm plötzlich in elf Stücke aufspaltete, die immer schneller auseinanderdrifteten und sich dabei zwischen dem bereits bestehenden Stahlgerüst des Schiffes hindurchbewegten, ohne irgendwo anzustoßen.
Am Ende der Filmsequenz standen die Space-Shuttles, die die Module von der Erdoberfläche herauf transportiert hatten.
Baumann und Mailand blickten sich gegenseitig aufmunternd in die Augen. Es lag noch viel Arbeit vor ihnen, bevor die Crew das Fernraumschiff betreten konnte, bevor es in die Weiten des Alls aufbrechen würde.
Für sie war das noch ferne Zukunftsmusik.
Im Hier und jetzt galt es zunächst, die elf Module der Brücke fehlerfrei zu montieren, Verbindungsgänge, Versorgungsanschlüsse und Vacuumverschlüsse herzustellen.
Von dem Innenausbau ganz abzusehen, der sich natürlich anschloss. Die nächsten Jahre würden jedenfalls noch viel Arbeit mit sich bringen.