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Das Mädchen Luna
ОглавлениеDirekt neben dem Eingang der Disco stand ein alter Flipper. Die Innenräume an sich waren an den Wänden hauptsächlich mit Holzpaneelen verblendet. In der Mitte des Raums befand sich die Tanzfläche. Sie war mit einem massiven und robusten Holzgeländer eingefasst.
Nur die Seite in Richtung Tresen war offen, von dort konnte man auch die Tanzfläche betreten. Der Boden der linken Seite vom Ausgang gesehen, war um zwei Stufen erhöht.
Hier waren Sitzplätze in Form von Nischen eingelassen, mit einem jeweils in der Mitte fest am Boden verschraubten Tisch.
Direkt gegenüber dem Eingang konnte man einen, mit offenem Holzfachwerk abgeteilten, zweiten Raum erkennen. Hier standen mehrere Tische mit Stühlen auf gleichem Bodenniveau. Es war noch früh, an diesem Freitag.
Meist füllte sich die Diskothek erst so gegen 23.00 Uhr. Petra lächelte ihn an, als sie ihm den Gutschein für ein Getränk gab, nachdem er bezahlt hatte.
Er ging langsam weiter und kam an der Tanzfläche vorbei. Sie lag noch im Dunkeln, da die Discostrahler noch nicht eingeschaltet waren. Ebenfalls waren die beiden Lasergeräte noch nicht in Betrieb.
Liam besuchte in der letzten Zeit öfters die Disco. Wenn man es genau nahm, fast jedes Wochenende. Seitdem Ben ihn das erste Mal hierher mitgenommen hatte, schien es ihm hier irgendwie zu gefallen.
Sehnsüchtig blickte er auf die Pärchen in den Nischen und auf der Tanzfläche. Er merkte immer mehr, wie ihm etwas fehlte. Es gab hier nur wenige Jungs, die wie er, sich alleine von einer Ecke in die andere drückten.
Die meisten hatten ihre Freundinnen dabei und das war etwas, was ihn zunehmend beunruhigte.
Immer stärker wurden Gefühle in ihm wach, die sich nicht mehr wirklich steuern ließen und die er zunächst nicht verstand. Es gab ihm jedes Mal einen Stich in der Brust, wenn er andere Jungs mit ihren Mädchen beobachtete.
Wenn sie sich in die dunklen Ecken und versteckten Winkeln zurückzogen oder sich ganz offen auf der Tanzfläche vergnügten.
Liam nippte an seinem zweiten Glas Cola Bier und lehnte lässig an einen der vier Holzpfosten, die die Eckbegrenzungen der Tanzfläche bildeten. Mittlerweile war es bereits nach zehn Uhr und der Raum füllte sich immer weiter.
Es war schon jetzt nicht mehr einfach, durch die schmalen Gänge zwischen den Tischen zu gehen, ohne mit jemandem zusammenzustoßen oder zumindest anzurempeln.
Liam mochte es nicht, wenn der Discoschuppen zu voll wurde. Er überlegte gerade, ob er sich nicht auf den Weg nach Hause machen sollte, als der DJ La Bionda mit ‚One for You, One for Me’ auflegte. Er schaute rein zufällig zum Eingang hin.
Dort saß Petra an dem kleinen Tisch, umringt von neuen Besuchern und gab die Eintrittskarten aus.
Die Eingangstür öffnete sich und eine blonde, junge Frau betrat den Raum. Sie trug schulterlanges, gelocktes Haar und zwei riesige silberne Kreolenohrringe zierten ihre kleinen Ohrläppchen.
Liams Blick wanderte von den Ringen zu den rehbraunen Augen, die von einem dichten, silbernen Lidschatten umrundet wurden. Dabei waren ihre Wimpern tiefschwarz, und die Augenbrauen hatten den gleichen Farbton wie die Iris ihrer Augen.
Er vergaß fast zu atmen und beobachtete ihr Eintreten sehr genau. Irgendwie wirkte sie auf ihn etwas unbeholfen, aber nicht schüchtern.
An der silbernen Jacke in Blouson-Form mit den langen Ärmeln und dem Stehkragen stand der durchgehende Reißverschluss halb offen, wobei sie ihre Hände in die seitlichen Einschubtaschen gesteckt hatte.
An Kragen, Bund und Armabschlüssen befanden sich sogenannte elastische Rippstrickbündchen. Je mehr sich sein Blick auf ihren Körper fixierte, umso mehr verloren sich seine Gedanken in eine unendliche Ferne.
Mehr unbewusst nahm er noch wahr, dass sie anscheinend nichts weiter unter der bis zum Nabel reichenden Jacke trug, denn er konnte zwischen dem Jacken, - und dem Hosenbund nackte Haut erkennen.
Die helle Bluejeans wurde von einem weißen Canvasgürtel gehalten.
Ihm kam es fast so vor, als schwebte diese überirdische Schönheit regelrecht über dem Boden.
Als Petra sie ansprach, erschienen für wenige Sekunden zwei kleine Fältchen auf ihrer Stirn, die aber sofort wieder verschwanden. Mit einer eleganten Armbewegung zog sie einen Geldschein aus der Jackentasche und legte ihn auf den Tisch.
Als sie das Wechselgeld entgegennahm, wusste sie zunächst nicht, wohin damit. Beim Weitergehen steckte sie dann die Münzen einfach in die enge Hosentasche.
Liams Blick folgte der jungen Frau wie elektrisiert. Sie schaute sich neugierig nach allen Seiten um, während sie sich langsam zwischen den Gästen hindurchbewegte.
Ihm kamen ihre Bewegungen geradewegs so vor, als würde sie es tunlich vermeiden wollen, mit irgendjemand oder mit irgendetwas in Berührung zu kommen.
Kurz bevor sie aus seinem Blickfeld verschwinden konnte, gab er sich einen Ruck.
Natürlich hatte er bereits die begehrlichen Blicke einiger anderer Jungs bemerkt, die ihr ebenso hinterschauten wie er. Sie war tatsächlich alleine, ohne Begleitung. „Wenn nicht jetzt, wenn dann?“
Er versuchte seine Gedanken und damit seine einsetzende Nervosität auszublenden und ging mit schneller wertenden Schritten auf die Stelle zu, an der er mit ihr zusammentreffen würde, wenn sie ihren eingeschlagenen Weg fortsetzte.
Dann verlor er sie aus den Augen. Es standen zu viele Leute zwischen ihm und ihr.
Schon längst hatte er das Glas, das er immer noch in seiner Hand gehalten hatte, irgendwo auf einen Tisch abgestellt, an dem er vorbeigekommen war. Zweimal stieß Liam bei dem Versuch, schneller zu werden, gegen andere Besucher und ignorierte ihre bösen Blicke. Er hatte irgendwie ein Gefühl in der Bauchgegend, dass er nicht aufgeben durfte.
Er musste ihre Bekanntschaft machen, koste es, was es wolle. Dann endlich hatte er den Schnittpunkt erreicht, an dem er eigentlich mit ihr hätte zusammentreffen müssen.
Er bewegte seinen Kopf ruckartig von links nach rechts und wieder zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er konnte sie jedoch nirgends ausmachen.
„Verflucht!“
Plötzlich spürte er eine Berührung an der Schulter. Liam zuckte kurz zusammen und drehte sich um. Vor ihm standen Mika und Silas.
„Was machst du den für ein betretenes Gesicht?“ Mika grinste.
„Er sieht aus, als hätte man ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen“, setzte Silas nach.
„Wie kommt ihr denn hierher?“
Liam besaß seit einigen Wochen ein Mofa. Es handelte sich dabei um ein Kleinkraftrad mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h. Man benötigte für ein Mofa keinen Führerschein, lediglich eine Mofa-Prüfbescheinigung und man musste mindestens 15 Jahre alt sein, um es zu erwerben. Das Mofa rangierte eine Fahrzeugklasse unterhalb des Mopeds. Jetzt war er mobil genug und war nicht mehr auf eine Mitfahrgelegenheit angewiesen.
„Dreimal darfst du raten!“ In Mikas Stimme lag ein aggressiver Unterton.
„Du hast dich ja in den letzten Wochen ziemlich rar gemacht. Bist nicht mehr auf dem neusten Stand, was?“
Liam hatte sich tatsächlich etwas von seinen einstigen Freunden zurückgezogen. Mika ging ihm sowieso schon länger auf den Senkel und mit Silas verband ihn nur eine sehr lockere Freundschaft. Ihm war es jetzt jedenfalls überhaupt nicht recht, dass sie hier auftauchten.
„Na dann viel Spaß noch!“
Liam nickte den beiden kurz zu und verschwand zwischen einigen anderen Discobesuchern, die gerade den Raum betreten hatten und an ihnen vorbeigingen.
Er stellte sich noch ihre verblüfften Gesichter vor und musste grinsen, dann konzentrierte er sich wieder auf die Suche.
Andy Gibb sang gerade „I Just Want to Be Your Everything”, als er sie wiedersah. Ihre silberne Jacke strahlte ihm regelrecht entgegen.
Plötzlich spürte er eine aufkommende Panik, die seine Gedanken fast vollständig zu übernehmen versuchte. Ein Schweißausbruch nach dem anderen schüttelte seinen Körper und ließ ihn leise aufstöhnen.
„Wie sollte er sie nur ansprechen?“ Seine Gedanken jagten nur so. Jetzt und hier war die Gelegenheit und er musste sie nutzen, bevor jemand anders es tat.
Sein Blick bohrte sich regelrecht in ihre rehbraunen Augen mit den silbernen Liedschatten und er begann, sich bereits in ihnen zu verlieren.
Alles in ihm drängte danach, endlich Kontakt herzustellen, während seine Schüchternheit immer noch einen starken Widerstand bildete.
Seine innere Zerrissenheit ließ ihn fast wahnsinnig werden. Sie stand jetzt nur noch drei Meter vor ihm.
Eigentlich müsste sie ihn bemerken. Liam blieb stehen. Sie wirkte auf einmal nicht mehr so erhaben auf ihn, eher zurückhaltend und unsicher.
Er gab sich einen Ruck und sprang über seinen Schatten. Mit hochrotem Kopf trat er in ihr Blickfeld.
„Hallo! Hast du Lust zu tanzen?“
Er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden, so sehr faszinierten ihn ihre Gesichtszüge.
Jetzt bildeten sich kurz zwei kleine Fältchen auf ihrer Stirn, während Liam starr vor Angst nur dastand und innerlich zitterte.
„Wird sie ja sagen?“ Der Gedanke stand noch in seinem Geist, als sie bereits antwortete: „Warum nicht. Ich habe schon viel von dieser Art Musik gehört, aber die Bewegungen sind mir fremd. Du kannst mir bestimmt zeigen, wie das geht!“
Sie blickte zuerst Liam an, dann wanderte ihr Blick hinüber zur Tanzfläche. Das innere Zittern legte sich etwas, als sie gemeinsam zur Tanzfläche gingen.
Die Gruppe ABBA trällerte gerade „Dancing Queen“, als sie den metallischen Bodenbelag betraten.
Sofort setzte bei Liam erneut die Angst ein. Er hatte noch nie mit einem Mädchen getanzt. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Zwei rehbraune Augen blickten ihn erwartungsvoll an.
Er hatte sich jetzt so weit vorgewagt, das letzte Stück würde er auch noch meistern. Verstohlen schaute er den anderen Paaren auf die Füße und begann sofort sie nachzuahmen.
Dabei kam im zugute, dass er vor zwei Jahren auf Druck seiner Mutter einen Tanzkurs besucht hatte.
Zwar hatte er ihn nach dem dritten Abend bereits wieder abgebrochen, aber die Schritte des Foxtrotts waren in seinem Gedächtnis hängen geblieben.
Liam kombinierte einfach diese Schritte mit dem, was er so bei den anderen Paaren sah.
Der Rhythmus schien auch gut zu dem Song von ABBA zu passen, jedenfalls wurde er von Minute zu Minute sicherer.
Seine Partnerin passte sich relativ schnell seinen Bewegungen an und es schien ihr ebenfalls Spaß zu machen.
„Ich wusste überhaupt nicht, wie toll sich das anfühlt. Ich mochte diese alten Songs schon als kleines Kind.“
Liam verstand nur einen Teil von dem, was sie sagte. Die Beschallung zur Tanzfläche hin war extrem laut. Dazu kamen noch die Lichteffekte der Lichtorgeln, die an verschiedenen Stellen über und seitlich der Tanzfläche angebracht waren.
Als der DJ „Fly Like An Eagle“ auf den Plattenteller legte, kam Liam vollständig aus dem Rhythmus.
„Lass uns etwas trinken, ich bekomme Durst. In Ordnung?“ Jetzt kam es darauf an, ob sie ihn tatsächlich zum Bartresen begleiten würde oder nicht. Aber das Glück schien heute Abend auf Liams Seite zu stehen.
„Ja in Ordnung“, hörte er ihre leise Stimme und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben als vollwertiger Mensch, als sie ihm folgte.
Kurz kam sie mit ihrem schulterlangen, gelockten Haar in die Nähe seines Gesichts.
Ein angenehmer Orangenblütenduft stieg ihm in die Nase und wühlte ihn innerlich noch mehr auf.
„Was möchtest du trinken?“
Er versuchte seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben, was aber nicht ganz gelang.
Ihre rehbraunen Augen blickten ihn fragend an. Gerade so, als wüsste sie tatsächlich nicht, was sie wollte.
„Hallo Ben, zwei Cola Bier“, rief er etwas zu laut quer über den Tresen. Ben stand am anderen Ende und gab ihm mit der Hand ein Zeichen, dass er verstanden hatte.
Nachdem er bezahlt hatte, gab Liam ihr das Glas Cola Bier in die Hand und lächelte sie schüchtern an.
„Ich heiße Liam!“
Er nahm sein Glas vom Tresen und stieß vorsichtig gegen das ihre. Sie schaute etwas verblüfft auf den dunklen Schaum im Glas, begann aber sofort wieder zu lächeln.
„Luna, du kannst mich Luna nennen.“
Sie führte das halbe Liter Glas mit beiden Händen vorsichtig zum Mund, schaute nochmals auf den sich langsam auflösenden, dunklen Bierschaum und nippte am Glas.
Sie kannte den bitteren Geschmack von Bier, aber zusammen mit Cola hatte sie es noch nicht getrunken. Tatsächlich schmeckte die Mischung eher etwas herb als bitter und das war gar nicht so unangenehm.
Sie nahm sofort einen richtigen Schluck hinterher.
Liam beobachtet sie und musste grinsen, als dabei etwas von dem braunen Bierschaum auf ihrer Oberlippe und sogar an der Nasenspitze hängen blieb.
„Darf ich?“ Mit einem Papiertaschentuch wichte er vorsichtig den Schaum, der tatsächlich die gleiche Farbe hatte, wie Lunas Augen, von ihrer Nase und Oberlippe. Sie blickte ihn dabei zunächst etwas erschrocken an und machte einen Schritt zurück.
„Du hattest Bierschaum im Gesicht!“
Liam zeigte ihr entschuldigend das Taschentuch mit dem braunen Fleck.
Sie lächelte ihn zaghaft an, während er das Taschentuch einsteckte, und griff sich reflexartig an die Nase. Jetzt mussten sie beide lächeln.
„War sie nur schüchtern oder spielte sie ihm etwas vor?“ Der Gedanke machte ihm Angst.
Als sie ihm jetzt direkt in die Augen schaute, war er es jedoch, der verschämt den Blick senkte.
Als er wieder aufblickte, war es schon zu spät, um noch zu reagieren. Mika und Silas standen laut grölend neben ihnen.
„Na ihr zwei Hübschen, was geht ab?“
Silas roch stark nach Alkohol, als er leicht schwankend neben Liam stand und sich an seiner Schulter abstützte. Er hielt ein großes Glas mit einer hellen Flüssigkeit in der Hand.
Mika setzte gerade ein Glas Cola Bier an und Liam bemerkte, wie er beim Trinken über den Glasrand hinweg Lunas Ausschnitt beäugte. Er ließ sich dabei viel Zeit.
Luna blinzelte mehrmals mit ihren langen und tiefschwarzen Wimpern zuerst in seine Richtung. Anscheinend wusste sie nicht so recht, was sie von den beiden zu halten hatte.
„He, was schaut ihr beiden so betreten? Lasst uns einen draufmachen!“
Als Silas mit dem Glas ansetzte, um mit dem Bierglas von Luna anzustoßen, fand Liam seine Handlungsfähigkeit zurück.
Silas, Mika, lasst uns gefälligst in Ruhe. Ihr seid ja beide betrunken.“
Unwillig schüttelte er Silas Arm von seiner Schulter, ging mit einem schnellen Schritt auf Luna zu und dirigierte sie mit ausgestrecktem Arm von den beiden weg. Nicht gerade zimperlich begann er sich zusammen mit ihr durch die anderen Discobesucher hindurchzuquetschen.
Als es wieder etwas lichter wurde und weniger Leute in seinem Weg standen, bemerkte er, dass er fast den Ausgang erreicht hatte.
Er blieb spontan stehen und drehte sich zu ihr um.
„Es ist Zeit, ich muss jetzt gehen“, vernahm er ihre Stimme, als David Soul anfing zu singen.
Sein „Don't Give Up On Us“ klang sehr melodramatisch.
„Kannst du nicht noch etwas bleiben!“ Die Frage lag ihm auf den Lippen, aber er brachte sie nicht heraus.
Liam nickte nur ergeben und nahm das halb volle Glas Cola Bier entgegen, das sie ihm hinhielt.
Er blickte ihr nur stumm hinterher, und als sie durch die Tür ging und die Diskothek verließ, kam es ihm so vor, als wäre die Begegnung nur ein Spuk gewesen.