Читать книгу Schuldig! - Jens R. Willmann - Страница 4
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ОглавлениеLange, beinahe zu lange dauerten seine Vorbereitungen. Er hatte von seinem Vater gelernt, immer absolut akribisch vorzugehen, und nun war endlich der Augenblick gekommen, die Theorie praktisch umzusetzen.
Immer und immer wieder hatte er jeden einzelnen Schritt seiner Vorgehensweise in der engen, fensterlosen Kammer im Dachgeschoss an einer kleinen Holzpuppe ausprobiert, Berechnungen in Bezug auf Körpergröße, Gewicht, Fallhöhe und so weiter angestellt – bis er sich sicher sein konnte, dass es funktionieren würde.
Sein »Testopfer« fand er in einer billigen Absteige für Schwule, Nutten, Drogenabhängige und andere aus dieser Gesellschaftsschicht. Denn nur dort konnte er ihn nach so vielen Jahren antreffen, nachdem dessen Familie und sein Freundeskreis ihm ja wegen des damaligen Prozesses so kläglich den Rücken zuwandten. »Verlogene Bande.«
Sich sein Vertrauen zu erschleichen war leicht, wenn auch auf die Gefahr hin, dass dieser seine Maskerade entdecken würde. Er brauchte nicht mehr, als ein bisschen spendabel hier und dort zu sein, und bereits nach drei Tagen konnte er sein Opfer in ein verlassenes, abbruchreifes Wohnhaus locken, wo er ihm schließlich einen Cocktail anbot. Dann ging alles sehr schnell, die K.-o.-Tropfen taten ihre Arbeit. Nach Eintritt der Bewusstlosigkeit band er ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und steckte ihm einen Lappen in den Mund. Der Rest schien ein Kinderspiel: Mit dem kurz zuvor gestohlenen Wagen zum Loher Bahnhof fahren, parken und schließlich an den Ort gelangen, den er ausgesucht hatte.
Er hatte diese Stelle lange beobachtet, sowohl tagsüber als auch nachts, und natürlich musste er auch abwägen, wie schnell man seine Tat entdecken könnte, aber seine Bemühungen zahlten sich nun aus. In dem alten Bahnhofsgebäude wohnte nur noch eine Familie im oberen Stockwerk. Die Schlafzimmer befanden sich im hinteren Gebäudetrakt, was er zwar nicht mit Sicherheit wusste, aber er glaubte es daran zu erkennen, dass dort immer als Letztes das Licht erlosch. Die Bewohner bekamen nicht mit, wenn ein Wagen auf den Parkplatz fuhr, auch das testete er mehrere Male. Unmöglich schien es auch, von der Rudolfstraße her etwas zu sehen, da das Grundstück etwas oberhalb lag und die Böschung gut zugewachsen war. Die stillgelegte Bahntrasse wurde fast nur von Schulkindern als Abkürzung genommen und lag auch auf der anderen Seite und der Baum konnte vom Parkplatz nicht gesehen werden, weil er durch eine Hecke halb verdeckt wurde, was ganz in seinem Sinn war, um Zeit zu gewinnen. Und genau die Zeit brauchte er, um seinen eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Er musste nur bis nach Mitternacht warten, da erst dann der Verkehr nachließ. Dies schien genau der richtige Zeitpunkt, um seinen ersten Fall erfolgreich abzuschließen. Also kein Grund, sich um irgendwas Sorgen zu machen.
Das Warten hatte endlich ein Ende und die Show konnte beginnen.
Leichter Wind kam auf, die Wolken zogen weiter und gaben den Mond wieder frei. »Das hätte nicht besser passen können«, dachte er, während sein Blick zu der Sackkarre hinüberwanderte, die nur wenige Meter entfernt stand. Nur schwach konnte er die Silhouette seines Opfers erkennen, was ihn plötzlich an einen Film erinnerte. Wenn ihm auch der Titel nicht einfallen wollte, so hatte er doch diese eine bestimmte Szene klar vor Augen. Seine Mundwinkel formten sich zu einem breiten Grinsen.
»Der Unterschied zwischen dir und diesem Filmtyp ist einfach zu erklären: Er entkam und du wirst sterben.« Obwohl sein Adrenalin zu steigen schien, fühlte er sich innerlich so ruhig wie lange nicht mehr. Genugtuung war es, was er erreichen wollte, für all die unnütz vergeudete Zeit. Zwar diente diese Nacht nur als Experiment, war aber dennoch wichtig und notwendig. Sein Opfer war nur ein kleiner Fisch – oder von ihm auch nur als notwendiges Übel bezeichnet. Jemand, auf den die Menschheit, nicht nur seiner Meinung nach, gut verzichten konnte. Ungeachtet dessen war er sich schon bewusst, dass es beim nächsten Mal nicht mehr so einfach werden würde. Er hatte nur wenig Spielraum für den Ablauf. Trotzdem musste es unbedingt gelingen, denn nun gab es kein Zurück mehr.
Schon zum zweiten Mal versuchte er, das dicke Seil über den Ast der Kastanie zu werfen, die er sich vorher ausgesucht hatte. Anfangs gestaltete sich das schwieriger als gedacht, aber beim dritten Versuch gelang es schließlich doch. Erneut sah er zu seinem Opfer rüber und überlegte, was wohl in dessen Kopf vorgehen mag. Dabei verspürte er weder Reue noch Mitleid, was ihn nach so vielen Jahren immer noch ein wenig beunruhigte. War es nur noch Routine, die diese Gefühllosigkeit auslöste?
Nachdem er das Seil endlich in Position gebracht hatte, kehrte er ruhigen Schrittes über den moosbedeckten Boden zu seinem Opfer zurück. Es schien wieder ein wenig zu Bewusstsein gekommen zu sein.
Im Schein der Taschenlampe entdeckte er an der Hose seines Opfers dunkle Stellen. Auch am Boden neben den Schuhen bildete sich bereits eine kleine Pfütze. Hämisch grinste er seinem Gegenüber ins Gesicht. »Leider habe ich keinen Spiegel.« Sein Lachen durchbrach kurz die Stille der Nacht. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich plötzlich wieder, das Lachen brach genau so plötzlich ab, wie es eingesetzt hatte, und die Stille der Nacht kehrte zurück. Mit ernstem Blick sah er sein Gegenüber an und glaubte, ein Zittern in dessen Pupillen zu erkennen. »Weißt du, was komisch ist? Dein Opfer hatte auch Angst und sich in die Hose uriniert …«, er stockte. Uriniert? Das Wort schien ihn für einen kurzen Moment zu irritieren, aber dann fuhr er entschlossen fort: »Und genauso soll es dir nun ergehen. Obwohl, ich bin ja dein Kumpel«, sein Grinsen kehrte zurück: »Du hast Zeit, dich an Vergangenes zu erinnern, bevor dein letzter Atemzug das Ende besiegelt. Das ist doch nett, oder etwa nicht?«
Wenn auch mit Mühe, schob er die Sackkarre durch den leicht aufgeweichten Boden näher an den Baum heran und löste die Gummibänder, mit denen er sein Opfer befestigt hatte. »Gar nicht so unpraktisch, diese elastischen Bänder.« Anschließend zog er ihn von der Karre, stieß diese mit einem Fußtritt an die Seite und griff blitzartig nach dem Seil. Nun war er gespannt, ob sich die täglichen Übungen in die Praxis umsetzen ließen. Kurzerhand zog er das Seilende durch die Schlaufe der gefesselten Handgelenke und weiter zum Halsbereich. Dann knotete er seitlich eine Schlinge, die er zwar fest, aber nicht zu fest anzog. Schade, dass sein Opfer sich kaum noch wehrte und sich offensichtlich seinem Schicksal ergeben hatte. Die Nachwirkungen der K.-o.-Tropfen waren wohl noch sehr stark, vielleicht hätte er doch eine kleinere Dosis wählen sollen. Nun noch ein Stück Klebeband auf den Mund und die Prozedur konnte ihren Lauf nehmen.
Als Nächstes zog er das Foto von dem Jungen aus der Jackentasche und zeigte es ihm. »Dies soll deine Erinnerungen ein wenig auffrischen.« Mit der Taschenlampe leuchtete er auf das Bild. Er wusste, dass er damit seinem Opfer die Augen öffnete, seinen getrübten Sinnen einen Tritt gab. »Wusstest du, dass dieser Junge dort drüben im alten Bahnhof mit seinen Eltern eine glückliche Kindheit genoss? Wahrscheinlich nicht, sie endete ja abrupt, als du aufgetaucht bist. Ach ja, und hier habe ich noch etwas.« Aus seiner Tasche holte er einen verknitterten Zeitungsausschnitt und hielt ihm diesen direkt vor die Augen. »Sieh dir an, was dort steht! Er sah keinen Sinn mehr in seinem Leben, genau wie ich keinen mehr in deinem sehe. Heute, mein Lieber, wirst du merken, wie sich das anfühlt, keinen Ausweg mehr zu haben.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht bewegten sich die Augen langsam entlang der Schlagzeile, die durch das Licht der Taschenlampe zynischerweise wie Leuchtreklame auf ihn wirkte. Erst nach einigen Minuten, als sein Peiniger davon überzeugt war, dass er den ganzen Artikel gelesen hatte, faltete dieser das Blatt wieder zusammen und steckte es ein.
»Es könnte jetzt ein wenig unangenehm werden, aber wenn du Glück hast, wird es nicht lange dauern.« Seine Stimme klang rau, wenn auch ruhig und besonnen, während sich das Seil langsam spannte, wurden gleichzeitig die auf dem Rücken zusammengebundenen Arme allmählich aufwärtsgezogen. Durch den Lappen, den er im Mund hatte, und das Klebeband, das auf der Höhe seines vollgestopften Mundes in mehreren Schichten fest um seinen Kopf gewickelt war, war es ihm unmöglich, zu schreien. Nur ein leises Stöhnen war zu hören, was sich aber eher wie der Ruf einer Eule anhörte. Im Mondschein waren nur die weit aufgerissenen Augen, umrahmt vom schmerzverzehrten Gesicht, deutlich zu erkennen. Der Körper war noch zu schwach, um sich genügend zu wehren. Selbst wenn er es versuchen würde – es gab kein Entrinnen mehr.
Nun verloren die Füße jeglichen Kontakt mit dem Waldboden. »Nur noch ein kleines Stück, dann ist es geschafft.«
Auf Basis seiner Berechnungen hatte er eine Stelle am Seil mit einem weißen Isolierband markiert. Er zog den von ihm zum Tode Verurteilten bis zu dieser Stelle hoch. Und wieder hatte er ein hämisches Grinsen auf den Lippen, denn es passte. Der Abstand zwischen Boden und Füßen betrug knapp einen Meter. Jetzt nur schnell das Seil am Stamm des Baumes befestigen! Und es begann die Zeit des Wartens. Eigentlich war er sich sicher, dass dies nicht allzu lang dauern dürfte. Dafür war sein Opfer körperlich nicht mehr in der Lage.
Also trat er ein paar Schritte zurück, stellte sich die Sackkarre so hin, dass er darauf sitzen konnte, und ließ sich nieder. Aus seinem Rucksack holte er eine kleine Thermoskanne und schenkte sich einen heißen Schwarztee ein. Und während er einen Schluck zu sich nahm, überlegte er, nachzuhelfen, zog es dann aber doch vor, zuzusehen, bis es von allein vollbracht war. Außerdem war er ja noch nicht ganz fertig.