Читать книгу Schuldig! - Jens R. Willmann - Страница 6
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ОглавлениеNach einer Weile verließ Hartmann die Zelle und kehrte ins Büro von Kommissarin Wisert zurück. »Welcher Staatsanwalt bearbeitet den Fall?« Sie sah in ihren Unterlagen nach und nannte den Namen samt Telefonnummer.
Hartmann stand wieder auf und bat die Ermittlerin, seine Tochter noch eine Weile in der Zelle zu lassen. »Ich werde mit dem Staatsanwalt sprechen. Vielleicht gelingt es mir ja, einen Deal auszuhandeln. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen.« Hartmann verabschiedete sich und verließ das Präsidium, um zu seinem Wagen zu gelangen. Er schloss ihn auf, stieg aber nicht sofort ein, sondern zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf die Motorhaube. Dabei überlegte er, ob es in diesem Fall nicht doch besser wäre, wenn er Anja anruft. Sicherlich würde sie ihm wieder Vorwürfe machen, er hätte sich nicht gekümmert, dabei wusste sie, dass er gar keine Möglichkeit dazu hatte. So war es besprochen. Vielleicht war es ein Fehler, dem zuzustimmen, dachte sich Hartmann.
Manchmal bereute er es, sich darauf eingelassen zu haben. Melanie war auch seine Tochter. Und er hatte keine Chance, sie aufwachsen zu sehen wie Gina Marie, aber trotzdem war Melanie seine Erstgeborene und er liebte sie, wenn er es ihr auch nie zeigen konnte. Wütend schnippte er die Kippe weg und stieg in seinen Wagen.
Nachdem er wieder im Wuppertaler Polizeikommissariat angekommen war, wollte er gerade den Staatsanwalt anrufen, als sein Handy klingelte. Er sah auf das Display und erkannte die Nummer seines Kollegen Nitze von der Spurensicherung.
»Es gibt einen Leichenfund«, sagte Nitze, ohne zuerst zu grüßen.
»Wo?«
»Bahnhof am Loh.«
»Was für ein Bahnhof?«
Hartmann konnte sich nicht erinnern, jemals von diesem Bahnhof gehört zu haben.
»Na, der Stillgelegte in der Rudolfstraße, in der Nähe des ehemaligen TUFFY-Standortes, oder Clausenstraße, wenn dir das was sagt«, sagte Nitze und nun klingelte es bei Hartmann. »Du meinst das alte Gebäude, gegenüber der Schule.«
»Richtig, genau dort«, bestätigte Nitze, während Hartmann sich vage daran erinnerte, dort vor Jahren mehrmals gewesen zu sein. »Hat da nicht so eine Karnevalsgesellschaft ihr Clubheim?«
»Ja, die Wuppertaler Prinzengarde.«
»Was ist passiert?«
»Komm lieber her, das wirst du nicht glauben.« Sie beendeten das Gespräch und Kommissar Hartmann schnappte sich seine Jacke und eilte zu seinem Wagen zurück.
Über die B 7 ging es in Richtung Wuppertal-Barmen, wo er schließlich 20 Minuten später den ominösen Bahnhof erreichte. Ein wenig schwermütig stieg er aus, nicht ohne sich dabei schon wieder eine Zigarette anzuzünden.
Langsam näherte er sich einer Polizeistreife, die Schaulustige davon abhielt, noch näher an den Tatort zu gelangen. Mürrisch und ohne ein Wort zu sagen ging er an den Beamten vorbei, über einen asphaltierten schmalen Weg an einer mittelhohen Hecke entlang, bis er am Ende von Nitze erwartet wurde. »Wie ich sehe, haben wir wieder mal viele Zuschauer!«, stellte Hartmann lakonisch fest und fuhr sich mit der Hand durch sein schon etwas schütteres Haar. Nitze nickte kurz. »Du bist halt bekannt, Hartmann.«
Im Gegensatz zu Hartmann schien Nitze sich überhaupt nicht zu verändern. Er hatte noch immer sein volles schwarzes Haar, welches kurz geschnitten war, kaum Falten im Gesicht, und schien irgendwie nicht zu altern. Sein Kollege versuchte, wie schon so oft in solchen Situationen, witzig zu sein. Wir begegneten dem Tod beinahe jeden Tag, wir sollten ihn als normal ansehen, und dazu gehöre auch ein wenig Humor – so etwas Ähnliches hatte er mal zu Hartmann gesagt, der sich über diese Einstellung noch heute wundert. Obwohl er ihm recht geben musste. Nitze war in seiner Arbeit immer extrem penibel. Und Hartmann konnte ihm deshalb voll und ganz vertrauen. Nitze sucht so lange, bis er was findet, gibt nie auf, und so manches Mal verbrachte er auch die Nacht in seinem kleinen, alten und schäbigen Labor im Keller des Kommissariats.
»Haha, noch so ein Ding, Doppelschicht«, scherzte Hartmann, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. »Nein, aber nun mal im Ernst, was wollen die hier? Was haben wir?« Der Kommissar warf wie so oft seine halb gerauchte Kippe weg und ließ seine Hände in den Hosentaschen verschwinden.
»Schau es dir selbst an! Komm mit!« Nitze drehte die Augen kurz zur Seite und sie gingen.
»Rainer, die Kippe dort ist von Hartmann.« Der Kommissar biss sich auf die Lippe. Wie oft hatte Nitze ihn schon gemahnt, nicht immer seine Kippen am Tatort zu hinterlassen?
»Entschuldige.«
»Kennt man ja nicht anders, Marc.«
Gemeinsam näherten sie sich dem Tatort. Während Nitze schnellen Schrittes darauf zusteuerte, hielt sich Hartmann auffällig zurück, um das Geschehen erst einmal aus einiger Entfernung zu betrachten. Als Erstes fielen ihm die weit aufgerissenen Augen auf, die Schreckliches vermuten ließen. Dazu noch die seltsam hochgestreckten Arme und die wenigen Zentimeter bis zum Boden, die dem Opfer fehlten.
Durch den leicht nach vorn gebeugten Kopf des Opfers konnte man etwas auf der Stirn des Mannes erkennen.
Nachdem ersten Eindruck folgte Hartmanns Blick dann dem Verlauf des Seils, an dem der tote Körper hing. Auch das helle Isolierband, das an einer Stelle des Stranges umgewickelt war, entging ihm nicht. Auf dem Boden standen verschiedene Nummerntafeln, wenn auch nicht ganz so viele, die einzelne Spuren bezifferten und so zur Sicherung dienten für die spätere Dokumentation.
Beim näheren Betrachten bemerkte er die schlechte Kleidung, die vielleicht auf einen Obdachlosen hinwies. Das Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Ähnlich wie er sie bei seiner Tochter heute schon entdeckte, hier nur intensiver. Hartmann schätzte ihn auf Mitte fünfzig, wusste aber, dass er sich auch durch das Bild, das die Leiche abgab, täuschen konnte. Die Schuhe waren mehr als ausgelatscht, kaum noch Sohle und an den Seiten bereits eingerissen. Die Haare ungewaschen, die Hände voller Kratzer und schmutzige Fingernägel. Hose und Mantel machten den Eindruck, schon länger keine Waschmaschine mehr von innen gesehen zu haben. Es waren deutliche Spuren von Urin und Kot zu sehen. Die Entleerung, wahrscheinlich ausgelöst durch die Erschlaffung des Schließmuskels, nach Eintritt des Todes.
Plötzlich dachte Hartmann, dass er so etwas schon irgendwo einmal gesehen hatte. Nur wo, wollte ihm momentan nicht einfallen, so sehr er auch darüber nachgrübelte. Schließlich wischte er den Gedanken weg und bat Nitze, ihm nun seine bisherigen Ergebnisse mitzuteilen.
»Okay, angerufen hat uns die Bewohnerin vor etwa einer Stunde. Wo bist du eigentlich vorher so schnell hin?«
»Ich war in Velbert, privat.«
»Hättest du doch was gesagt.«
»Nein, da war ich schon wieder im Präsidium, als du anriefst«, winkte Hartmann ab, »Ist sie noch da?«
»Wer?«
Ungeduldig verdrehte Hartmann die Augen. »Na, die Frau, die ihn fand.«
»Ach so, ja, natürlich. Sie wohnt ja direkt dort im Bahnhofsgebäude.«
Etwas erstaunt sah der Kommissar zu dem alten Gemäuer. »In der Bruchbude wohnt jemand?«
»Ja, schon viele Jahre, wie sie uns mitteilte.«
Kopfschüttelnd suchte Hartmann in den Jackentaschen nach seinen Zigaretten, doch die musste er wohl im Wagen gelassen haben. »Verflucht«, dachte er und überlegte, sie zu holen, ließ es aber vorerst sein. »Ich habe so etwas schon mal gesehen.« Er deutete auf das Opfer und konnte sich von dem Gedanken einfach nicht lösen.
»Das könnte sein«, nickte Nitze von der Spurensicherung. »Eigentlich handelt es sich um eine alte Foltermethode, Pfahlbinden oder Baumhängen. Doch der oder die Täter gingen noch einen Schritt weiter.« Der Ermittler schien in seinem Element und für den Kommissar war das nichts Ungewöhnliches, denn er kannte ja bereits Nitzes Faszination für historische Tötungsdelikte und Foltermethoden. »Sieh es dir an.« Er forderte Hartmann regelrecht dazu auf, nun endlich näher heranzutreten, doch der winkte ab: »Ich sehe von hier gut genug.«
Aber der hartnäckige Spurenermittler ließ sich in seinem Drive nicht abhalten, er wollte seine bisherigen Erkenntnisse näher erläutern. »Siehst du? Er hat dem Opfer die Arme nach hinten zusammengebunden, was bis hierhin noch die normale Vorgehensweise bei dieser Folterart ist.« Nitze drehte den Toten, der ja noch am Baum hing, um dem Kommissar seine Schilderung auch bildlich zu verdeutlichen. »Aber dann nahm der Täter ein zweites Seil und zog das eine Ende durch die Schlaufe der gefesselten Handgelenke, um dieses am Hals zu einer Schlinge zu binden. Das andere Ende dann nur noch über den Ast, schließlich hoch mit dem armen Kerl. Er musste wohl nicht lange warten bis es knack gemacht hat.«
»Knack?« Hartmann schien verwundert über diese Äußerung.
»Ja. Durch das Hochziehen stellten sich die auf dem Rücken zusammengebundenen Arme entsprechend rechtwinklig zum Rücken. Wodurch der ganze Körper mit angehoben wurde. Aber nur solange, bis die Muskulatur im Schulterbereich nachließ. Durch dieses Nachlassen wurden die Schultergelenke ausgekegelt. Hervorgerufen durch das Gewicht des Körpers, zog sich dieser nach unten und gleichzeitig die Schlinge am Hals zu. Strangulation – Tod. Interessante Vorgehensweise!«
»Interessant oder nicht, ich würde es eher als beschissen qualvolles Ende bezeichnen, wird ja wohl für den armen Kerl recht lange gedauert haben das Ganze.« Hartmann konnte sich diese gereizte Reaktion nicht verkneifen. »Sonst noch irgendwas?«
»Ja, wir können davon ausgehen, dass der oder die Täter sehr darauf geachtet haben, dass das Opfer nach dem Auskegeln der Schultern keine Chance hat, mit den Füßen jemals den Boden zu erreichen.«
Der Kommissar konnte Nitze im Moment nicht folgen. »Und dennoch fehlten nur wenige Zentimeter, wie geht so was?«
»Moment!« Der Ermittler der Spurensicherung musste das Opfer erneut drehen, was ein eigenartiges und sehr unangenehmes Geräusch des Seils auslöste: »Wenn man jemanden so hinaufzieht, stellen sich die Arme in eine beinahe rechtwinklige Position.« Er ließ das Opfer wieder los und der aufgehängte Körper drehte sich zurück, was bei Hartmann fast eine Übelkeit hervorrief, die er in seinem Job eigentlich bisher nicht kannte.
»Wie ich bereits erwähnte, ließ irgendwann die Muskulatur nach und der Körper fiel durch sein Eigengewicht wie ein Sack nach unten. Aber dadurch, dass seine Füße den Boden nicht erreichen konnten, zog sich die Schlinge hier am Hals fest zu und das Opfer wurde auf eine nicht alltägliche Art und Weise erhängt.«
Hartmann fragte nach dem Abdruck auf der Stirn. »Vorher oder nachher, woher kommt dieser Abdruck?« Nitze wusste zuerst nicht, was er meinte, bis der Hauptkommissar darauf deutete. »Vermutlich der Abdruck von etwas Rundem, aber Genaueres werden wir noch herausfinden.« Hartmann war mit dieser Antwort absolut nicht zufrieden.
»Wie kommt dieser dahin?«
»Eingebrannt, so sieht es zumindest aus.«
»Wie bitte?«
Nitze wiederholte seine Antwort und wollte ihm das näher erklären, doch Hartmann gab zu verstehen, dass er weiter nichts darüber hören wollte.
»Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt komme, aber dieser verdammte Verkehr …« Hinter ihnen tauchte Dr. Miguel, der Pathologe, auf. Ein kleiner Typ, den man schon mal in der Menge übersehen konnte. Unscheinbar, mit einer großen Nase, Halbglatze. Das linke Bein zog er etwas hinter sich her, was man aber kaum sah. Hartmann meinte sich zu erinnern, dass er bei einem Kanada-Urlaub in eine Tierfalle geraten war. Dr. Miguel hatte charakterlich seine Stärken, ganz zu schweigen von seinem fachlichen Wissen. Er galt als ein sehr spezieller Rechtsmediziner, der auch gelegentlich von anderen Instituten angefordert wurde, was wohl für sein Können sprach. »Was haben wir?«
Hartmann deutete zu dem Baum, an dem der Tote hing.
»Ach herrje, das ist aber eine recht seltsame, wenn auch interessante Methode, jemanden zu töten. Vor allen Dingen effektiv, wie es scheint. Aber so auf den ersten Blick, irgendwo habe ich das schon mal gesehen. Hm, muss ich mal überlegen …«
»Ja, eigentlich ist dies eine alte Foltermethode, nur ein wenig erweitert, bla bla bla«, fiel ihm der Kommissar ins Wort.
»Och, so alt ist diese Methode auch wieder nicht. Selbst Nazis wandten sie noch an. Wenn sie auch eigentlich eher dazu genutzt wurde, um jemanden zum Sprechen zu bringen. Aber das meinte ich nicht, als ich sagte, ich hätte diese Methode schon einmal gesehen. Es gab schon mal einen solchen Fall. Noch nicht lange her, scheiße, verdammt, wann und wo war das bloß?«
»Na, dann strengen Sie sich mal an!« Hartmann war ungeduldig. Er projizierte seinen Ärger darüber, dass er sich in letzter Zeit auch an allerlei Dinge nicht präzise erinnern konnte, auf Dr. Miguel, der eben dasselbe Problem hatte.
»Moment. Warten Sie. Es muss kurz nach meinem Studium gewesen sein, also gut 30 Jahre her. Ja genau, Ihr alter Kollege Sander war mit dem Fall betraut, aber wenn ich mich recht erinnere, wurde er nie aufgeklärt.«
Sander, dachte Hartmann. Natürlich Sander. Immer wieder mal, wenn wenig zu tun war, sah er die Akte auf dessen Schreibtisch liegen. »Ja, ich kann mich, wenn auch nur dunkel, daran erinnern. Sander sprach ab und an davon.«
»Richtig. Und ich meine, dass das Opfer damals im Gelpetal gefunden wurde. Übrigens ganz in der Nähe der Stelle, wo wir die drei toten Kinder fanden. Aber da wird es ja noch Aufzeichnungen darüber geben. Nur das mit dem Abdruck ist neu, und mit der Strangulation auch.«
Der Kommissar nickte und nahm sich vor, gleich mal im Archiv anzurufen. »Wie ist Sander denn damals vorgegangen?«
»Das, Hartmann, ist eine gute Frage, ich glaube, wir standen genauso dämlich davor wie nun auch. Es wurden damals nur wenige Anhaltspunkte gefunden, die auf einen Täter hinwiesen, und so hat Sander den Fall bereits nach wenigen Wochen zu den Akten gelegt. Wobei man es wohl Glück nennen darf, dass es keine weiteren Opfer zu beklagen gab, bis heute zumindest. Die Presse hatte ihn damals als unfähigen Beamten betitelt. Tja, aber das ist ja nun Schnee von gestern.«
Hartmann hörte dem Mediziner angestrengt zu und rieb sich nachdenklich das Kinn. Er erinnerte sich, wenn auch nur vage, an den Fall, denn sein ehemaliger Vorgesetzter hatte ihm oft davon berichtet. Deswegen kam ihm das nun auch so bekannt vor.
»Wo ist eigentlich Krause?«, fragte Hartmann.
»Der ist doch zum Seminar«, antwortete Nitze.
Das hatte der Kommissar ganz und gar vergessen und Nitze schüttelte verwundert den Kopf.
»Typisch, da gibt es mal eine interessante Mordmethode und unser junger Kollege muss zu einer Schulung, sich bekloppte Theorie einhämmern lassen.«
Dr. Miguel wandte sich zu ihm und meinte, Krause vorhin in der Rechtsmedizin gesehen zu haben. »Heute lernt der Junge das Zerteilen einer Leiche.« Hartmann sah den amüsierten Gesichtsausdruck des Mediziners und zeigte ihm einen Vogel, bevor er sich von ihm abwandte.