Читать книгу Schuldig! - Jens R. Willmann - Страница 9
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ОглавлениеAls Hartmann den Tatort verlassen hatte, ordnete der Pathologe den Abtransport der Leiche an.
Auch die Kollegen von der Spurensicherung waren bereits dabei einzupacken. »Er hat sich verändert«, meinte Nitze, der sich zu dem Rechtsmediziner gesellte.
»Ja, das hat er«, bestätigte der Dok. »Hätte nicht gedacht, dass es ihn mal erwischen würde.«
»Irgendwann scheint es jeden mal zu treffen.«
»Aber er will es nicht wahrhaben. Ich habe das schon einige Male erlebt und eigentlich war es bei ihm nur eine Frage der Zeit.«
Nitze schaute etwas besorgt drein. »Hoffentlich bekommt er die Kurve.«
Doch der Mediziner schien davon nicht überzeugt und sah ihn mit ernster Miene an. »Wenn er keine Hilfe annimmt, wird es schwer. Wir lernen ihn nun von einer ganz anderen Seite aus kennen. Er ist nicht mehr der harte Hund, der alles mühelos wegsteckt. Vielleicht war er es auch nie und konnte es bisher immer nur gut verbergen. Aber nun zeigt er sich selbst seine Grenzen auf.« Der Ermittler von der Spurensicherung hörte aufmerksam zu und meinte dann, dass es nach den Ereignissen in der Vergangenheit ja auch kein Wunder sei.
Dr. Miguel fuhr fort: »Erst der Korruptionsfall des Kollegen Schneider, dann der Freitod von Kommissar Sander, vor seinen Augen. Dazu die drei toten Kinder im Gelpetal aus dem letzten Fall und der Selbstmord dieser Frau in seinem Büro, erneut vor seinen Augen.«
»Ja, schreckliche Geschichte, da würde ich wohl auch die Segel streichen«, räumte Nitze ein.
Doch der Mediziner machte noch auf ein weiteres Problem aufmerksam: die Schwangerschaft seiner Frau während des letzten Falles.
»Sie meinen, die Schwangerschaft war für ihn ein Problem?«
»Nicht die Schwangerschaft selbst. Nein. Aber auf der einen Seite fanden wir die drei toten Kinder, die keine Chance hatten, ihr Leben zu leben. Auf der anderen Seite kündigt sich neues Leben an, nämlich das seines Kindes. Inzwischen ist es ja schon lange auf der Welt.«
Nitze glaubte zu wissen, was er damit ausdrücken wollte. »Er empfindet Ungerechtigkeit?«
Der Dok nickte. »Im Grunde genommen ja, aber so ist nun einmal der Lauf des Lebens.«
»Ja, ist wohl so. Aber er versucht, dem aus dem Weg zu gehen …«
»… indem er sich dem Tod nicht mehr nähert, genau«, beendete der Mediziner dessen Satz.
»Kurzum, Hartmann kann im Moment keine Toten mehr sehen.« Nitze kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, nun wurde ihm auch klar, warum der Kollege vorhin immer so zurückgewichen war. »Und nun haben wir diesen neuen Fall und er, Entschuldigung, funktioniert nicht so, wie er es eigentlich müsste.«
Dr. Miguel zog die Augenbrauen hoch und stimmte dem zu. »Wir müssen sehen, dass wir ihn so weit unterstützen, dass die Ermittlungsarbeiten nicht gefährdet werden.«
Während Hartmann auf dem Weg ins Präsidium war, konnte er kaum einen klaren Gedanken fassen. Unweigerlich musste er an die Worte von Dr. Miguel denken, der ihn eindringlich vor den Gefahren gewarnt hatte. Weiter allein nach einem Ausweg aus der Situation zu suchen schien demnach sinnlos und so griff er schließlich zum Handy. Bevor er jedoch wählte, musste er plötzlich an Frau Jurman denken, eine ältere Dame, die er damals an der Schwebebahnhaltestelle traf. Was hatte sie noch gesagt? Er habe Angst, seine gewohnte Umgebung zu verlassen, im Fall, dass er seinen Job mal aufgeben sollte. Dann fragte sie noch, warum er sich den Ärger antue und zu welchen Preis. Und diese zweite Frage fiel ihm jetzt ein. Er hatte zwar nie seinen Ärger an seiner Familie ausgelassen, doch er hatte sich so weit von ihr entfernt, dass er kaum noch den Weg zurück kannte. Wie hielt es seine Frau bloß mit ihm aus? Hatte er sie das jemals gefragt? Nein, hatte er nicht.
»Hartmann hier. Ich brauche einen Termin.«
Dr. Pinkwart am anderen Ende der Leitung schien überrascht über seinen Anruf, wusste aber um die Dringlichkeit und schlug daher einen Termin für den nächsten Tag um 17 Uhr vor, obwohl er sich nicht viel davon versprach. Schon in den ersten Sitzungen konnte er erkennen, dass Hartmann eine Mauer um sich aufgebaut hatte, die undurchdringlich erschien. Dennoch musste Dr. Pinkwart versuchen, diese zu durchbrechen, wenn er Kommissar Hartmann helfen wollte.
Was der Arzt hasste, war Hartmanns Überheblichkeit. Dieser saß ihm immer gelangweilt gegenüber, und beim ersten Mal legte er sogar seine Füße auf den Tisch. Obwohl Hartmanns Ruf ihm natürlich schon vorausgeeilt war – an diese Respektlosigkeit erinnerte sich Dr. Pinkwart immer noch.
»Okay, danke. Bis morgen dann.« Nachdenklich hielt er das Handy noch eine Weile fest und fühlte sich plötzlich ein wenig erleichtert, als neben ihm wie aus dem Nichts ein Streifenwagen auftauchte. Heruntergelassene Seitenscheibe, winkende Kelle. Hartmann sollte folgen. »Verflucht«, schimpfte er und legte das Handy auf den Beifahrersitz. Die Streife setzte sich vor seinen Wagen und nach 100 Metern kamen sie an einer Bushaltestelle, nahe dem Cinemaxx-Kino, zu stehen. Zwei Beamte stiegen aus und näherten sich seinem Fahrzeug. Der Kommissar betätigte den Schalter für den elektrischen Fensterheber und die Seitenscheibe fuhr herunter.
»Fahrzeugschein und Führerschein bitte«, sagte der jüngere der beiden Beamten, während der andere ein wenig abseits stehen blieb. »Einen Augenblick.« Hartmann beugte sich zum Handschuhfach, öffnete es und suchte die gewünschten Papiere heraus. Er reichte sie heraus, der Polizist nahm sie entgegen. Während dieser den Fahrzeugschein auseinanderfaltete, sah sich Hartmann den anderen Beamten etwas genauer an. Beinahe unauffällig nickte der ältere Polizist ihm zu und Hartmann erkannte ihn. Reflexartig deutete er mit dem Zeigefinger auf seinen Lippen an, dass der andere nicht verraten möge, wer er sei.
»Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?«
Der Kommissar überlegte kurz. Er war nicht zu schnell gefahren, hatte keine rote Ampel übersehen und auch sonst fiel ihm augenblicklich nichts ein – »nein, weiß ich nicht« – er merkte in dem Moment aber, dass er nicht angeschnallt war.
»Sie haben während der Fahrt telefoniert.«
»Ja, natürlich«, Hartmann lachte kurz, » das mache ich schon mal.«
»Soso«, erwiderte der Polizist triumphierend.
»Warum auch nicht? Mit der …«, er sah auf seinem Beifahrersitz, »… Freisprechanlage, verdammt«, fluchte er.
»Dann sollten Sie Ihr Handy auch entsprechend anschließen«, sagte der Beamte.
»Da haben Sie natürlich recht.«
»Macht dann 40 Euro und einen Punkt in Flensburg.«
Hartmann hatte gar nicht so viel dabei.
»Ist okay, folgen Sie mir bitte zum Streifenwagen, damit ich Ihre Personalien aufnehmen kann.«
Hartmann stieg aus und sie begaben sich zur Beifahrerseite des Einsatzfahrzeuges. Der Polizist nahm seinen Ausweis und fing an, die Daten aufzunehmen. Nach einigen Minuten des Wartens gab der junge Polizist den Ausweis zurück. »Sie bekommen dann einen Bescheid der Bußgeldstelle, der auch eine Befragung enthält, die Sie bitte ausfüllen mögen. Und dann noch eins, denken Sie beim nächsten Mal auch daran, sich anzuschnallen.«
Der andere Beamte kam dazu, und der Kommissar steckte alles in die Jackentasche. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«, meinte er zum jungen Beamten. Dieser wunderte sich zwar sagte aber ohne lang zu zögern: »Polizeiobermeister Hubert.«
»Welches Revier?«
»Wuppertal-Barmen, am Rathaus. Sie können sich gerne beschweren, aber um die Strafe kommen Sie nicht herum.«
Der Kommissar wandte sich dem anderen Beamten zu und reichte ihm zur Begrüßung die Hand.
»Na, Niemeyer, alles klar?« Er kannte Niemeyer noch, als dieser in der Wache Vohwinkel tätig war. Mittlerweile war auch er in die Jahre gekommen und musste nun mit diesem jungen Burschen Streife fahren.
»Muss, Herr Hauptkommissar Hartmann, es muss.«
»Na, dann einen schönen Tag noch, meine Herren. Übrigens ein sehr fähiger Mann«, Hartmann deutete lächelnd auf den jungen Polizisten, »bisschen zu übereifrig, aber sonst …«. Er winkte zum Abschied und ging zu seinem Wagen zurück. Unterwegs hörte er den jungen Polizisten noch fragen, warum sein Kollege ihm denn nicht gesagt hätte, dass dies Hauptkommissar Hartmann sei. Noch mal huschte ein kurzes, zufriedenes Lächeln über seine Lippen, als er die Fahrertür zu seinem Wagen öffnete. Er stieg ein, schloss die Tür, suchte seine Zigaretten und lehnte sich zurück. Während er sich eine ansteckte, fiel sein Blick in den Rückspiegel. Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Foto aus der Tasche des Toten. Er atmete den Rauch tief ein. In dem Moment fiel es ihm urplötzlich auf, und er verschluckte sich, was sofort einen schlimmen Hustenanfall auslöste. Erst nach einer Minute beruhigte sich sein lärmender Rachenbereich wieder und Hartmann sah erneut in den Rückspiegel. »Der Baum, verdammt noch mal«, schimpfte er und startete den Motor. Mit Vollgas und durchdrehenden Reifen wendete er den Wagen und raste den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Eilig griff er zum Handy und rief Nitze an. »Bist du noch am Tatort?«
»Ja, warum?«
»Das erklär ich dir gleich, bleib da.«
Kurz darauf lenkte er seinen Wagen die Stichstraße hinauf zum Parkplatz. Er stieg aus, schnappte sich seine Jacke und lief los. Unterwegs rempelte er einen Mann mittleren Alters in einem dunklen Mantel an, wofür er sich sofort entschuldigte. »Da nicht für, Herr Kommissar.« Hartmann wunderte sich, woher der Unbekannte wissen konnte, dass er der Kommissar war, dachte aber nicht weiter darüber nach, da Nitze bereits auf ihn wartete.
»Was ist denn los?«
»Wo ist das Bild?«
Nitze wusste erst nicht, welches Bild er meinte. »Meinst du das Foto aus der Tasche des Opfers, dieses alte Polaroid-Ding?«
»Ja, ja, her damit!« Eilig öffnete Nitze seinen Koffer, suchte das Bild heraus und gab es Hartmann, der sich schnell umdrehte: »So, nun mitkommen.« Entschiedenen Schrittes folgten sie dem Weg bis zum Ende der Hecke und liefen dann über die Wiese bis hin zum Baum. Der Kommissar hielt das Foto auf Augenhöhe und suchte nach der richtigen Position.
»Hier, komm, sieh es dir an«, forderte er seinen Kollegen schließlich auf. »Erkennst du, was ich meine?« Doch dieser schien sich nicht ganz sicher zu sein, wusste auch nicht, worauf der Kommissar hinauswollte.
»Verdammt, Nitze, sieh genauer hin!« Wie wild fuchtelte er mit der anderen Hand herum. »Da, die Hauswand und das Geländer, nun sieh hier auf dem Foto.«
Nitze konnte kaum glauben, was er da sah. »Gibt es ja nicht. Der Junge von dem Foto, das wir bei dem Opfer fanden, scheint sich genau hier erhängt zu haben. Derselbe Baum, dieselbe Umgebung.«
Hartmann atmete tief durch und fühlte sich bestätigt. »Aber was bedeutet das?«, fragte Nitze.
»Das müssen wir herausfinden. Es wird ja irgendwelche Aufzeichnungen über diese Tragödie geben.« Der Ermittler von der Spurensicherung glaubte auch, dass es noch Unterlagen geben müsse.
»Am besten treffen wir uns morgen um zehn Uhr in meinem Büro. Vielleicht stellen wir auch noch ein Team zusammen. Krause wird ja dann auch wieder anwesend sein«, sagte Hartmann und sah auf seine Uhr. »Scheiße, so spät schon. Ich muss los, wir sehen uns morgen.« Er gab seinem Kollegen das Bild zurück und eilte davon. Nitze verglich noch einmal die Details und legte schließlich kopfschüttelnd das Bild zurück in seinen Koffer. Warum war ihm das nicht aufgefallen?