Читать книгу You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson - Jermaine Jackson - Страница 5

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Der Badezimmerspiegel des kleinen Hotels im kalifornischen Santa Maria ist beschlagen, und von meiner morgendlichen Dusche hängt so viel Dunst im Raum, dass mein Spiegelbild nicht zu erkennen ist. Wie ich so vor dem Waschbecken stehe, tropfnass in ein Handtuch gehüllt, mutet die opake Glasoberfläche wie eine Leinwand an, die dazu einlädt, einen Gedanken festzuhalten, den ich in meinem Kopf ständig wiederholt habe.

Mit einem Finger schreibe ich aufs Glas: „MICHAEL JACKSON, ZU 1.000 % UNSCHULDIG.“ Aus dem Punkt am Ende mache ich einen lachenden Smiley. Man muss daran glauben, dass alles ein gutes Ende nehmen wird.

Nun starre ich diese Botschaft an und konzentriere mich auf den möglichen Ausgang: Sieg, Gerechtigkeit und Rehabilitation. Wir schreiben den 10. März 2005, und heute ist der elfte Tag dieses Schauprozesses, in dem sich mein Bruder wegen sexueller Belästigung von Kindern verantworten muss.

„MICHAEL JACKSON, ZU 1.000 % UNSCHULDIG“, lese ich erneut. Immer wieder gleitet mein Blick zur linken oberen Ecke des Spiegels, und ich sehe dem Smiley dabei zu, wie er langsam verläuft. Wie versteinert erinnere ich mich plötzlich an eine ganz ähnliche Szene in Michaels Badezimmer, in Hayvenhurst bei Encino vor den Toren von Los Angeles, wo er vor seinem Umzug nach Neverland wohnte, und ich merke, dass ich jetzt genau das Gleiche tue wie er 1982. Damals nahm er einen schwarzen Edding, damit die Schrift zum schwarzen Marmor passte, und kritzelte in die linke obere Ecke seines Spiegels: „Thriller! 100 Millionen Exemplare verkauft … Stadion-Tournee ausverkauft.“

So geht das: einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn umsetzen. Mit aller Kraft daran arbeiten, dass er wahr wird, so wie unsere Mutter Katherine und unser Vater Joseph uns das beibrachten, als wir noch Kinder waren. „Ihr schafft das … und das hier schafft ihr auch“, pflegte Joseph bei den frühen, noch recht holprigen Proben der Jackson 5 immer zu sagen. „Wir werden es noch einmal und noch einmal probieren, bis ihr alles richtig hinbekommt. Denkt daran, sprecht es aus, stellt euch vor, wie ihr es tut, stellt euch vor, dass es geschieht … und dann geschieht es auch.“ Und unsere Mutter setzte etwas sanfter hinzu: „Fokussiert eure Gedanken und konzentriert euch mit ganzem Herzen darauf.“ All das wurde uns eingetrichtert, schon lange, bevor positives Denken groß in Mode kam. Unsere Köpfe sind so programmiert, dass sie keine Zweifel oder Halbherzigkeiten zulassen.

Michael war sich völlig im Klaren darüber, welche Dimensionen der große Durchbruch, die Innovation und der Erfolg haben sollten, die er als Solokünstler mit seinem Album Thriller anstrebte, und dass er diesen einen Gedanken auf den Spiegel schrieb, war für ihn ein Mittel der Visualisierung. Jahre später, als er schon längst in Neverland wohnte, war der Schriftzug verblasst und eigentlich gar nicht mehr zu sehen, aber dennoch hatte er seine Spuren auf dem Glas hinterlassen, denn jedes Mal, wenn der Spiegel beschlug, tauchte ein Schatten der Worte wieder auf, wie eine Geheimschrift, die man mit einem Zauberstift angebracht hat. Und so werden mich beschlagene Spiegel immer an Michaels visualisierten Ehrgeiz erinnern.

Seit den Achtzigern ließ er sich beim kreativen Prozess nicht mehr in die Karten schauen, und neue Werke wurden erst vorgestellt, wenn die Zeit dafür reif war; er pflegte Ideen und Konzepte jedoch stets irgendwo aufzuschreiben, wo er sie jeden Tag sehen konnte, oder aber er sprach sie in ein Diktiergerät, um sie gelegentlich abzuspielen und sie sich so wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er teilte seine Ideen niemandem mit, weil er keine Einmischung von außen wollte; er verließ sich ganz auf seine eigene mentale Stärke. In der Zeit zwischen November 2003, als er festgenommen und angeklagt wurde, und dem heutigen Tag im März 2005 hat er diese große innere Kraft dann wirklich gebraucht.

Er steht an jedem Verhandlungstag um 4:30 Uhr auf, bereitet sich emotional vor und macht sich innerlich stark, um einen weiteren Tag ritualisierter Erniedrigung zu überstehen.

Gestern, am 9. März, machte Gavin Arvizo, der Fünfzehnjährige, der als „das Opfer“ präsentiert wird, seine fragwürdige Zeugenaussage und ging dabei bis in die kleinsten Einzelheiten. Ich saß, wie schon seit Prozessbeginn, die ganze Zeit über hinter Michael.

Nach außen zeigt mein Bruder eine harte Schale: distanziert, ausdruckslos, beinahe kalt. Innerlich aber knirschen die Eisenklammern, die ihn zusammenhalten, und eine nach der anderen gibt unter dem Druck mit einem Krachen nach.

Frische Luft strömt ins Bad, und ich betrachte mein Spiegelbild, das der Dunst nun langsam wieder freigibt. Meine Gedanken sind fest auf das Eine gerichtet: Michael wird für unschuldig befunden werden. Ich würde es in den Grabstein meiner Großmutter eingravieren, wenn ich es könnte. Einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn wahr werden lassen.

Aber sosehr ich mich auch konzentriere, es gelingt mir nicht, den Schmerz und die Besorgnis auszuschalten, die unsere ganze Familie ergriffen haben. Ständig merke ich, dass ich mich in die Zeit zurückversetze, in der wir noch glaubten, Hollywood sei ein zauberhafter, ein magischer Ort.

In meinem Zimmer sehe ich mir die Lokalnachrichten im Fernsehen an und warte auf den Verhandlungstag Nummer 11. Ich denke an Michael in Neverland. Die Autos fahren jetzt vermutlich vor der Tür vor. Er wird schon seit vier Stunden auf sein, das Frühstück in seinem Zimmer auf einem Silbertablett serviert bekommen haben, allein. Diese wenigen Minuten zwackt er sich für sich selbst ab. Dann geht er nach unten; für die Fahrt zum Gericht ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sein Tag ist minutiös durchgeplant, wie der Ablauf einer aufwändigen Show.

Ich muss an all das denken, was er erreicht hat, und an all das, was er nun durchmachen muss.

Wie ist aus einer so wunderschönen Geschichte etwas so Hässliches und Verzerrtes geworden? Lag das am Ruhm? Ist dies der Entscheidungskampf, wie er einem Schwarzen bevorsteht, wenn er am amerikanischen Traum festhält und sich erdreistet, in diesem Ausmaß Erfolg zu haben? Oder ist es das, was passiert, wenn ein Musiker größer wird als seine Plattenfirma? Geht es hier um Verlagsrechte? So nach dem Motto, wir machen den Menschen dahinter fertig, lassen aber die „Cash cow“ unangetastet?

All diese Fragen gehen mir durch den Kopf.

Halten sich seine Hollywood-Freunde und früheren Anwälte, seine Verbündeten und Produzenten jetzt fern von ihm, weil sie glauben, dass er sie gefährdet, und weil Freundschaft für sie eigentlich nur ein anderes Wort für einen Sponsoring-Deal ist? Was ist mit diesen Leuten, die früher so viel Zwietracht säten und gerne darauf hinwiesen, dass man uns, seine Familie, auf Abstand halten sollte, weil uns nicht zu trauen sei? Wieso sind die jetzt nicht an seiner Seite und flüstern ihm aufmunternde Worte der Unterstützung ins Ohr?

Michael erkennt jetzt, wer sein Freund ist und wer nicht, und er merkt, was Familie bedeutet. Aber in diesen Tagen steht seine Freiheit auf dem Spiel, und alles, was er sich je aufgebaut hat, läuft Gefahr, in sich zusammenzustürzen. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen: die Nadel von der Platte heben und wieder mit dem ersten Track der Jackson 5 anfangen, mit einer Zeit der Gemeinschaft, der Einheit und des brüderlichen Zusammenhalts. „Einer für alle, alle für einen“, wie Mutter immer sagte.

Während ich dieses „Was wäre wenn“ immer wieder von Neuem in meinem Kopf durchspiele, kann ich mich der Überlegung nicht verschließen, dass wir die Dinge hätten anders handhaben sollen, ja sogar müssen, vor allem, was Michael betraf. Wir zogen uns viel zu sehr zurück, als er seinen Freiraum verlangte, und das ermöglichte es den Geiern, dieses Vakuum zu besetzen. Wir ließen Außenstehende hinein. Ich hätte mehr tun sollen. Mich mehr durchsetzen müssen, die Tore von Neverland aufbrechen, als mich die Leute um ihn herum nicht hereinlassen wollten. Ich hätte das alles kommen sehen und da sein müssen, um ihn zu beschützen. Jetzt scheint es mir, dass ich das Versprechen des brüderlichen Zusammenhalts nicht eingehalten habe, das früher zwischen uns bestand.

Das Mobiltelefon klingelt. Es ist Mutter, und sie klingt ganz durchein­ander. „Michael ist im Krankenhaus … Wir sind hier bei ihm … Er ist ausgerutscht und gestürzt. Er hat sich am Rücken verletzt.“

„Ich komme“, sage ich und bin schon aus der Tür.

Mein Hotel liegt auf halber Strecke zwischen dem Gerichtsgebäude in Santa Monica und der Neverland-Ranch, und zum Krankenhaus ist es ebenfalls nicht weit. Ein Krankenhausangestellter lässt mich durch einen Seiteneingang hinein, damit es vorn an der Tür keinen Auflauf gibt.

Auf der Station im zweiten Stock bemerke ich eine ungewöhnlich große Zahl von Schwestern und Patienten, die im Flur stehen, und bei meinem Eintreffen verstummt das aufgeregte Gerede sofort. Eine Phalanx von vertrauten Bodyguards in schwarzen Anzügen, die einem Präsidenten zur Ehre gereichen würde, bewacht die geschlossene Tür zu einem Privatzimmer. Die Männer treten beiseite, um mich durchzulassen.

Drinnen sind die Vorhänge zugezogen.

Im Dämmerlicht steht Michael in einer gemusterten blauen Schlafanzughose und schwarzer Jacke da. „Hi, Erms“, sagt er beinahe flüsternd.

„Geht’s dir einigermaßen gut?“, frage ich.

„Ich habe mir nur den Rücken verletzt.“ Er ringt sich ein Lächeln ab.

Wie ich nun erfahre, ist er gestürzt, als er in Neverland aus der Dusche trat, und er hat heftige Schmerzen – es ist wie ein weiterer, letzter Nackenschlag in dieser Zeit, da ohnehin alle auf ihn einprügeln. Aber er ist doch ein Kinderschänder, oder nicht? Er verdient es doch nicht anders? Die Polizei muss doch irgendwelche Beweise gegen ihn haben, sonst stünde er doch nicht vor Gericht? Die Leute haben ja keine Ahnung, wie völlig hanebüchen dieser ganze Prozess ist.

Außer mir sind nur Mutter und Joseph hier, sie sitzen rechts von mir an der Wand; genau wie ich wissen sie nicht, was sie tun können, außer da zu sein und Stärke zu vermitteln. Michael verzieht das Gesicht, weil ihm die Rippen und die untere Wirbelsäule wehtun, aber ich spüre: Der mentale Schmerz setzt ihm viel mehr zu.

Während der letzten Woche habe ich mit angesehen, wie er körperlich geradezu auseinanderfällt. Er ist jetzt 46, aber sein gestählter Tänzerkörper ist gebrechlich geworden und wirkt, als wäre er geschrumpft, sein einst so federnder Gang ist heute nur noch ein schmerzvolles, zaghaftes Humpeln, und sein strahlendes Lächeln ist diesem gezwungenen Gesichtsausdruck gewichen; er sieht ausgemergelt und hager aus.

Es ist schrecklich, was ihm diese ganze Situation antut; ich will, dass es aufhört. Ich möchte den Schrei ausstoßen, den mein Bruder nie in sich gehabt hat.

Michael bleibt stehen und redet über die Zeugenaussage von gestern. „Sie muten mir all das zu, um mich fertigzumachen … um alle gegen mich einzunehmen. Das ist ihr Plan … es ist ein Plan“, sagt er.

Unser Vater ist nie der Typ für tiefe Gefühlsbekundungen gewesen, und während Michael spricht, ist ihm anzumerken, dass er das Gespräch am liebsten schnell wieder auf andere Themen bringen würde, beispielsweise auf einen Auftritt in China.

„Du hast kein gutes Gespür für den richtigen Augenblick, Joe“, tadelt ihn meine Mutter.

„Wann wäre denn ein besserer Zeitpunkt als jetzt?“, fragt Joseph. So ist er. Sehr direkt. Für ihn ist diese Zeit, in der wir einmal nicht bei Gericht sitzen, ein kleines Fenster, in dem auch einmal über etwas anderes gesprochen werden kann als über den Prozess. „Das lenkt ihn doch zumindest ab“, sagt er.

Michael überrascht das nicht, und es lenkt ihn auch nicht ab. Wie wir anderen ist auch er diese Haltung gewöhnt, und er weiß, dass das nun einmal Josephs Art ist. Ich interpretiere es als väterlichen Trick: Es hilft ihm dabei, nicht an die eigenen Ängste denken zu müssen, die ihm eine solche unkontrollierbare Situation zweifelsohne einflößt. Deswegen versucht er, sich auf die Zeit nach dem Prozess zu konzentrieren, wenn Michael wieder frei ist und auftreten kann. Er will daran erinnern, dass es ein Licht am Ende des Tunnels gibt. Aber das wirkt jetzt nicht wie eine willkommene Ablenkung, sondern erscheint einfach nur unpassend. Mein Bruder spricht deshalb auch einfach weiter. „Ich habe doch immer nur Gutes getan! Ich verstehe das nicht …“

Ich weiß, was er denkt: Er hat nichts anderes getan, als Musik zu schaffen, um Menschen zu unterhalten und die Botschaft von Hoffnung, Liebe und Menschlichkeit zu verbreiten, um für ein verständnisvolles Miteinander zu werben, vor allem im Umgang mit Kindern. Und nun wirft man ihm vor, sich an einem Kind vergangen zu haben. Das ist, als wollte man den Weihnachtsmann anklagen, weil er sich über den Kamin unerlaubten Zutritt zu Kinderzimmern verschafft.

Es gibt keinen einzigen stichhaltigen Beweis, der diesen Prozess rechtfertigt. Das FBI weiß das. Die Polizei weiß das. Die Leute bei Sony wissen das. (Diese unwiderlegbare Tatsache wurde 2009 in einer Presseerklärung des FBI bestätigt, in der nach dem Tod meines Bruders klar dargelegt wurde, dass es niemals genug Beweise gab, um auch nur einen der Vorwürfe zu untermauern, die man in sechzehn Jahren gegen ihn vorgebracht hat.) Die Behörden basteln sich 2005 einfach nur ein Konstrukt zusammen, das aus ihrer Sicht passt. Einen Gedanken in Worte fassen, daran glauben, ihn wahr werden lassen. In der Negativversion.

Michael sieht vom Boden auf. Noch nie habe ich ihn so traurig dreinblicken sehen, aber ich merke, dass er jetzt einfach nur reden will. Bis dato hat er seinen Gefühlen in unserer Gegenwart kaum jemals freien Lauf gelassen. Er war sehr beherrscht und gefasst, sprach über seinen Glauben, dass er dem Urteil Gottes vertraue und nicht dem Urteil eines Richters. Aber seine Selbstbeherrschung hat jetzt Risse bekommen, die zweifelsohne durch die gestrige Zeugenaussage entstanden sind, und die Rückenverletzung verstärkt seine Frustration.

Es wird allmählich alles zu viel.

„Nichts von dem, was über mich gesagt wird, ist wahr. Wieso sagen die Leute solche Sachen?“

„Oh, mein Junge“, beginnt Mutter, aber Michael hebt die Hand. Noch spricht er.

„Sie sagen schreckliche Dinge über mich. Ich bin dies. Ich bin das. Ich bleiche mir die Haut. Ich vergehe mich an Kindern. Ich würde nie … es ist nicht wahr, es ist alles nicht wahr“, sagt er mit leiser, brüchiger Stimme.

Seine Hände zupfen an seiner Jacke, er mutet wie ein verzweifeltes Kind an, das sich ein Kostüm abstreifen will, und er tritt von einem Fuß auf den anderen, trotz seiner Rückenschmerzen.

„Michael“, beginnt meine Mutter wieder.

Aber jetzt kommen die Tränen. „Sie können mich anklagen und die Welt dazu bringen, dass sie ihnen Recht gibt, aber sie sind so falsch … sie sind so falsch.“

Joseph lähmt dieser Gefühlsausbruch. Mutter hat die Hände vor den Mund geschlagen. Michael zerrt an den Knöpfen der Jacke und versucht sich aus den Ärmeln herauszuwinden. Das Kleidungsstück rutscht ihm von den Schultern und hängt von den Oberarmen, so dass die nackte Brust zu sehen ist.

Er schluchzt. „Seht mich an! … Seht mich an! Niemand auf der Welt wird so sehr missverstanden wie ich!“ Er bricht zusammen.

Mit gesenktem Kopf steht er vor uns, als ob er sich schämte. Zum ersten Mal sehe ich das Ausmaß seiner Hauterkrankung, und es schockiert mich. Es ist ihm so peinlich gewesen, dass er seinen Körper bisher selbst vor seiner Familie verborgen hat. Sein Oberkörper ist hellbraun, aber über den Rippen und dem Bauch sind große Bereiche richtiggehend weiß, ebenso wie ein weiterer, ausufernder Fleck an der Hüfte, und eine Reihe kleinerer Tupfen zieht sich über eine Schulter und den Oberarm. Insgesamt ist ein größerer Teil seiner Haut jetzt weiß und nicht mehr braun: Er sieht aus wie ein Weißer, der mit Kaffee übergossen wurde. So macht sich die Hautkrankheit Vitiligo bemerkbar, von der die zynische Welt behauptet, dass er sie gar nicht habe, weil sie offenbar lieber glauben will, dass er sich die Haut bleicht.

„Ich habe versucht, andere zu inspirieren … Dinge weiterzugeben …“ Seine Stimme verstummt, als Mutter zu ihm tritt, um ihn zu trösten.

„Gott kennt die Wahrheit. Gott kennt die Wahrheit“, wiederholt sie ein ums andere Mal.

Wir alle stehen um ihn herum, trauen uns nicht, ihn zu umarmen, weil sein Rücken so schmerzt, aber unsere Nähe bedeutet dennoch Trost. Ich ziehe ihm die Jacke wieder hoch. „Sei stark, Michael“, sage ich. „Es wird alles in Ordnung kommen.“

Es dauert nicht lange, dann hat er sich wieder im Griff, und er entschuldigt sich. „Ich bin stark. Es ist alles okay“, sagt er.

Ich lasse ihn mit unseren Eltern allein und verspreche ihm, dass ich den Prozess weiter begleiten werde, sobald ich von einer Reise nach Übersee zurück bin. Wir Brüder übernehmen es abwechselnd, ihn zu unterstützen. In einigen Tagen werde ich wieder da sein.

Nachdem ich gegangen bin, erhalten die Bodyguards eine Nachricht seines Anwalts Tom Mesereau aus dem Gericht. Der Richter ist nicht begeistert, dass Michael sich verspätet, und wenn er nicht binnen einer Stunde im Gerichtssaal eintrifft, wird die Freilassung auf Kaution wieder aufgehoben. Dass er wirklich Schmerzen hat, darauf nimmt man keine Rücksicht, oder man glaubt es ihm nicht.

Im Hotel packe ich meine Sachen und sehe im Fernsehen, wie mein Bruder schließlich bei Gericht erscheint. Er schützt seine Haut mit einem Schirm vor der Sonne, als er zum Eingang schlurft, und er trägt noch dieselbe Kleidung wie vorhin, als ich bei ihm war, die Schlafanzughosen und die schwarze Jacke, ergänzt lediglich um ein weißes Unterhemd. Joseph und ein Leibwächter stützen ihn.

Michael hatte stets viel Wert darauf gelegt, wie aus dem Ei gepellt und mit viel Würde vor Gericht zu erscheinen, und er hat seine Kleidung stets sorgfältig ausgewählt. Dieser Auftritt jetzt im Schlafanzug muss für ihn schwer erträglich sein. Der ganze Zirkus gerät allmählich völlig außer Kontrolle … dabei haben wir erst zehn Tage hinter uns.

Über das Hoteltelefon tätige ich einen Anruf. Am anderen Ende bestätigt man mir, was ich noch einmal hören wollte: Ja, der Privatjet ist noch verfügbar. Ja, er kann vom Flughafen Van Nuys abheben. Ja, wir können abfliegen, wann immer wir wollen. Nur ein Tag Vorlaufzeit ist nötig, dann könnte diese DC-8 mit Michael an Bord gen Osten fliegen, nach Bahrain, wo er ein neues Leben beginnen und ihn die amerikanische Justiz mit ihren falschen Vorwürfen nicht belangen könnte. Nach dieser Scharade wäre ich bereit, meine Staatsbürgerschaft aufzugeben und Michael samt seiner Familie an einen Ort zu bringen, wo man ihm nichts anhaben kann. Es gibt jemanden, der uns unterstützt, einen guten Freund. Wir haben einen Piloten. Alles ist vorbereitet. Auf keinen Fall würde mein Bruder, ein unschuldiger Mann, wegen dieser Sache ins Gefängnis gehen. Das würde er nicht überleben, und ich kann deshalb nicht einfach dasitzen und den Gedanken an diese Möglichkeit ­hinnehmen.

Diesen „Plan B“ haben wir ohne sein Wissen arrangiert, aber da ich ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, ahnt er wahrscheinlich etwas, will es aber offenbar nicht genauer wissen. Muss er auch nicht. Noch nicht.

Mit mir selbst habe ich abgemacht, dass ich dann, wenn Tom Mesereau andeutet, dass sich die Waagschalen der Justiz zu unseren Ungunsten neigen, alles vorbereite und Michael zum Flughafen im San Fernando Valley vor den Toren von L.A. bringe. Wir werden ihn nachts, unter einer Decke versteckt, aus Neverland herausschmuggeln. Oder etwas in dieser Art unternehmen. In der Zwischenzeit versuche ich, Ruhe zu bewahren, denn bisher hat Tom nichts weiter gesagt als: „Ja, das war ein guter Tag für uns“, auch wenn die Zeugenaussagen allesamt schrecklich klangen. Er kennt sich mit den Nuancen aus, die für die Beweisführung von Bedeutung sind, und er weiß, wann die Staatsanwaltschaft mit den schweren Geschützen danebenschießt. Wir haben schnell gelernt, den Prozess nicht nach der Medienberichterstattung zu beurteilen. Also warte ich ab, aber dieses Vertrauen kostet mich meine ganze Kraft und bringt mich dazu, Botschaften auf Badezimmerspiegel zu schreiben.

Als ich später ins Auto steige und wie mit eingeschaltetem Autopiloten nach Süden fahre, frage ich mich, woher Michael die Kraft und den Glauben nimmt, um all das durchzustehen. Ich spüre, dass enorm viel Stolz in ihm steckt, und das zu einer Zeit, in der man sich aufgrund der unausgewogenen Presseberichte darauf eingeschossen hat, ihn für schuldig zu halten, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Man suhlt sich im angenehmen Kitzel des vermuteten Verbrechens, während entlastende Punkte allenfalls in Fußnoten vermerkt werden. Wieder kommt mir in den Sinn, was Michael 2003 einmal zu mir sagte, als der ganze Irrsinn begann: „Lügen sind gute Sprinter, aber die Wahrheit ist ein Marathonläufer … und die Wahrheit wird gewinnen.“ Ein wahres Wort.

Ich versuche mir vorzustellen, dass er als freier Mann aus dem Gericht kommt. Wie eine Szene aus einem Film. Wenn diese ganze Geschichte vorüber ist, dann werde ich alles tun, um seinen guten Namen in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Es wird nichts mehr geben, was man ihm sonst noch vorwerfen kann. Und ich werde ihn verteidigen, weil ich weiß, was ihn antreibt – ich kenne sein Herz, seinen Geist, seine Seele, seinen Ehrgeiz. Ich kenne den Jungen in dem Superstar-Kostüm. Ich kenne den Bruder aus der Jackson Street 2300. Seit unserer Kindheit sind wir eng miteinander verbunden, haben alles gemeinsam erlebt: den Traum, die Jackson 5, den Ruhm, die Trennung, die Streitereien, die Sorgen, die Skandale, den wahnsinnigen Druck. Er hat vor mir geweint. Ich habe ihn angeschrien. Er hat sich geweigert, mich zu sehen. Er hat mich angefleht, bei ihm zu bleiben. Wir wissen um unsere gegenseitige Loyalität und auch um den unbeabsichtigten Verrat. Und wegen all der Dinge, die dahinterstecken, wegen unseres brüderlichen Zusammenhalts, kenne ich seinen Charakter und seinen Verstand so gut, wie man es als Blutsverwandter nur kann.

Eines Tages, sage ich mir, wenn 2005 hinter uns liegt, dann werden ihn die Leute in Ruhe lassen und versuchen, ihn zu verstehen, anstatt über ihn zu richten. Sie werden ihn so sanft und mitfühlend behandeln, wie er selbst anderen gegenüber ist. Sie werden ihre vorgefertigten Meinungen vergessen und ihn nicht nur durch seine Musik wahrnehmen, sondern als Menschen sehen: unperfekt, komplex, fehlbar. Jemand, der ganz anders ist als das Image, das er besitzt.

Eines Tages wird die Wahrheit den Marathon gewinnen.

You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson

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