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Sonntag, 08. Mai 2016, 4:15 Uhr Wohnung von Anna Henkes Karlsruhe, Hirschstraße

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Es ging Esther um das erste Gefühl, das ein Ort in ihr auslöste — darum, was der Ort mit ihr machte, wohin er sie mitnahm. Sie wusste, dass sich das total seltsam anhörte, aber es war ja eben so: Sie studierte den Negativabdruck einer Person und zog daraus ihre Schlüsse. Auf ihrer persönlichen Ordentlichkeitsskala erhielten die Räume eine mittlere Punktzahl: nicht wirklich ordentlich, aber auch nicht wirklich unordentlich. Die Besitzerin hatte es geschafft, mit offensichtlich wenigen Mitteln eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen.

Irgendwie, fand zumindest Esther.

So eine Mischung aus abgedreht-stylish und liebenswert-schrullig mit einem Quäntchen Glitzertrash. Auf jeden Fall interessant.

Die Einrichtung bildete eine wilde Mischung aus schwedischem Möbelhaus, Trödel, Sperrmüll und Einfallsreichtum. Die offenen Regale im Wohnzimmer waren voller Nippes. Esther erkannte unter anderem eine faustgroße bunte Murano-Glaskugel, eine kleine lasierte Tonschale voller Murmeln und eine Schneekugel, in der ein Foto zweier lachender junger Mädchen steckte. Als Tisch diente ein altes auf die Seite gedrehtes Aquarium, auf dem sich neben einer roten Friedhofskerze, einem überquellenden Aschenbecher und einer halbvollen Schachtel Zigaretten auch ein Tischfeuerzeug in Form einer auf einem Felsen sitzenden Meerjungfrau befand. Esther musste unwillkürlich grinsen. Sie warf einen kurzen Blick in die angrenzende Küche, einen gemütlichen Raum von vielleicht fünfzehn Quadratmetern Größe. Obwohl auch diese nicht aussah, als würde ihre Besitzerin übermäßig großen Wert auf Ordnung legen, bemerkte die Ermittlerin auf den ersten Blick, dass sich hier etwas Ungewöhnliches zugetragen haben musste. Zwei der drei Stühle waren umgekippt und lagen inmitten einer Wasserlache voller Scherben und Zigarettenkippen auf dem steinernen Fußboden. Eine leere Weinflasche war zwar unversehrt geblieben, befand sich aber ebenfalls zu ihren Füßen in einer teilweise bereits angetrockneten roten Pfütze. Als sie glaubte, genug gesehen zu haben, begab sie sich langsam in Richtung des Schlafzimmers, in dem sich, wie sie bereits wusste, die Tote befand. Der Raum war der einzige unbeleuchtete in der Wohnung und lediglich der spärliche Schein einer Straßenlaterne, der durch ein kleines Fenster fiel, ermöglichte es Esther, sich hier zu orientieren. Gerade dieses Detail aber machte einen Großteil der Atmosphäre des Tatortes aus. Auf der Schwelle atmete Esther noch einmal tief durch, um sich zu sammeln. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, machte sie einen beherzten Schritt vorwärts, hielt aber sofort wieder inne. Sie hatte von ihren Kollegen von der Streife erfahren, dass die Tote auf dem Bett lag. Die beiden hatten die Vermutung geäußert, dass die Leiche von jemand anderem so arrangiert worden war, doch hatten sie dies nicht begründet.

Jetzt wusste Esther, was sie zu dieser Einschätzung gebracht hatte: Anna Henkes war regelrecht aufgebahrt worden. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, über das sich ihr langes schwarzes Haar in einem perfekten Fächer ergoss. Die Hände lagen auf ihrem Bauch, und jemand hatte versucht diese zu falten, was ihm aber nur leidlich gelungen war. Sie trug ein leichtes fliederfarbenes Sommerkleid, und ihre nackten Füße steckten in offenen hochhackigen Schuhen - beides nicht unbedingt die ideale Kleidung für diesen momentan noch recht kühlen Mai. Auf ihrem Hals lagen mehrere bunte Ketten aus Glasperlen.

Vielleicht war es zu schwierig, ihr die post mortem anzulegen.

Sowohl auf dem Bett als auch auf dem Fußboden waren ungefähr ein dutzend Rosen verstreut worden.

Schneewittchen, schoss es Esther durch den Kopf.

Sie trat näher an das Bett heran und beugte sich über das Gesicht der Toten.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr unwillkürlich. Hastig wich sie zurück.

Warum hat mir das keiner gesagt?

„Matthias“, rief sie mit fester Stimme nach dem einen ihrer beiden uniformierten Kollegen, „bitte geh so schnell wie möglich runter auf die Straße und schau, ob du da unten eine größere Blutlache findest! Ich glaube nicht, dass die Frau noch einen einzigen heilen Knochen im Leib hat. Ihr Körper ist völlig verschoben, und ihr Gesicht sieht aus, als hätte sie einen ICE geknutscht.“

Immer wenn es regnet

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