Читать книгу Immer wenn es regnet - Jessica Braun - Страница 13

Sonntag, 08. Mai 2016, 11:50 Uhr Waldstück in der Nähe von Landau/Pfalz

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Sunny war mittlerweile recht gut trainiert und lief die 10 km in deutlich weniger als einer Stunde. Darum – und weil sie die Übelkeit eigentlich schon zuhause in sich hatte aufsteigen spüren – erhöhte sie ihr Tempo weiter. Sie lief gegen die Übelkeit und den Brechreiz an, die sie seit beinahe anderthalb Stunden quälten.

Ich werde nicht auf meine Laufrunde kotzen,

dachte sie verbissen. Doch in ihrem Kopf dröhnte es.

Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma, Po-ly-trau-ma.

Sie kannte das schon. Ab einem gewissen Grad der Anstrengung schaffte sie es nicht mehr, ihre Gedanken willentlich zu steuern. Ihr Gehirn nahm sie dann mit auf eine Reise durch ihre eigenen Assoziationen. Trotzdem startete sie einen Versuch.

Hör auf, hör auf, hör auf. Na bitte.

Es funktionierte. Aber Sunny wusste, dass sie all ihre Konzentration darauf würde verwenden müssen, dass ihre Gedanken nicht wieder dahin abglitten, wo es dunkel und fürchterlich war. Sie durfte sich jetzt noch keinen Triumph gönnen. Das schlechte Gefühl ließ zwar langsam nach, war aber noch immer da und lauerte aufs Neue hinter jedem Stein und jeder Unebenheit. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte im Takt ihrer Schritte auf und ab, sodass ihre Haarspitzen im immer gleichen Rhythmus auf ihren verschwitzten Nacken tippten, was sie normalerweise ganz wahnsinnig machte, ihr heute aber, genau wie ihre Atmung und ihre Schritte, half, ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie wusste, dass der direkte Heimweg von hier aus noch über zwei Kilometer betrug, bog sie nach links ab und verlängerte ihre gewohnte Runde so um dieselbe Strecke. Sie lief und lief und lief vor den Bildern davon, die sie verfolgten, um sich in ihr Gehirn einzubrennen, seit die beiden Polizisten am Morgen bei ihr gewesen waren.

Kurz nach 9 Uhr hatte das Telefon geklingelt, und eine Frau, die sich ihr als Kriminaloberkommissarin Esther Marquart vorstellte, hatte ihr erklärt, dass sie sich zusammen mit einem Kollegen auf dem Weg zu ihr befände und einige Fragen an sie habe. Soweit Sunny sich erinnern konnte, hatte die Frau sie nicht gefragt, ob sie Zeit habe oder zu einem Gespräch bereit sei. Sie hatte sie lediglich auf polternd-autoritäre Art darüber informiert, dass ein solches in weniger als einer halben Stunde stattfinden würde, ohne dabei Anstalten zu machen, ihr den Grund hierfür zu nennen. Wenn sie ihre kleine Tochter Felicitas, die in genau diesem Moment bereits im Auto ihrer Mutter saß, nicht noch durch das Fenster hätte sehen können, wäre sie wahrscheinlich auf der Stelle vor Schreck und Sorge um ihr Kind tot umgefallen. Aber was kümmerte das Kriminaloberkommissarin Esther Marquart, deren Beamtengehalt jeden Monat pünktlich überwiesen wurde? Sunny hatte den Telefonapparat beiseite gelegt und verächtlich das Gesicht verzogen.

Es braucht die Bullen nicht zu wundern, dass keiner sie mag.

Weil ihr ja aber nun nichts anderes übrig geblieben war, als ihren geplanten Waldlauf zu verschieben, hatte sie sich eine Tasse Kaffee genommen und sich an den Küchentisch gesetzt, um zu warten. Sie wäre in diesem Moment wirklich gerne gelaufen, denn ihr Schädel hatte noch vom vielen Rotwein gebrummt.

Unweigerlich waren ihre Gedanken zu Thomas gewandert, der ihr gestern Abend mal wieder über den Weg gelaufen war. Seit sie vor etwas über einem halben Jahr mit Fee zurück zu ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Bianca gezogen war, baggerte er sie ständig an. Immer vorausgesetzt natürlich, seine Alte war nicht in der Nähe. Vor Jahren hatte er sie wegen der Tussi sitzen lassen und jetzt dachte er wohl, sie hätte die ganze Zeit nur darauf gewartet, als Zweitfrau wieder in seine Arme sinken zu dürfen. Gut, sie war tatsächlich wieder mit ihm ins Bett gegangen, aber nur zweimal und nur aufgrund einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Rachlust. Zwischenzeitlich bereute sie das wirklich, denn das Gefühl, ihn jederzeit haben zu können, das sie anfangs genossen hatte, hatte sich heimlich und schleichend in das genaue Gegenteil verkehrt: in die Gewissheit, dass er sie hatte haben können.

Gestern auf der Geburtstagsfeier hatte er sie mit verstohlenem Blick in Richtung der Tür, durch die seine Tussi gerade entschwebt war, gefragt ob sie mit dem Auto da sei und dabei dreckig gegrinst. Was er damit gemeint hatte, hatte Sunny nur zu genau gewusst. Sie war innerhalb einer Sekunde rasend wütend geworden und hatte ihm zugezischt, er solle verschwinden. Er aber hatte sich mit diesem verständnislos-beleidigten Blick getrollt, den sie noch von früher kannte, und der ihr, zumindest im Nachhinein, deutlich machte, dass ihre Wut auf ihn nach so langer Zeit vielleicht doch etwas unverhältnismäßig war. „Verdammte Ausbildung“, murmelte Sunny vor sich hin und nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee, den sie kurz im Mund behielt, um seinen Geschmack voll auszukosten. Sie hatte sich im Zuge der Psychotherapeutenausbildung, die sie nach ihrem Psychologiestudium absolviert hatte, stundenlang eingehend mit sich selbst beschäftigen müssen:

Sunny als Kind und als Heranwachsende, Sunnys zu dicker Hintern, Sunny von oben, von unten und von der Seite, Sunny mit und ohne Kirschen und blablabla.

Sie hatte ihre Ausbildung nicht gemocht und letztlich nur aufgrund äußerer Zwänge absolviert. Noch immer konnte sie die beschwörende Stimme ihrer Mutter hören: „Kind, ohne Approbation, um Himmels Willen, Kind da bist du doch gar nicht konkurrenzfähig!“

Die Langeweile, die sie in jedem einzelnen der Seminare, die sie hatte besuchen müssen, verspürt hatte, hatte ihr recht gegeben. Das Ende vom Lied war nun aber jedenfalls, dass sie sich selbst viel besser kannte, als sie es jemals gewollt hatte. Sie konnte es meist recht schnell und zuverlässig erkennen, wenn ihre eigenen Reaktionen mehr mit ihr selbst als mit der aktuellen Situation zu tun hatten. Aber die Freiheitsgrade, die ihr dieses Wissen hätte verschaffen sollen, blieben reine Theorie, denn es war nun einmal nicht Sunnys größtes Talent nachzudenken, bevor sie handelte. Und so musste sie sich meist damit abfinden, dass sie den gleichen Mist machte wie alle anderen und hinterher noch nicht einmal die Verantwortung auf die äußeren Umstände schieben konnte, sondern sie zähneknirschend selbst übernehmen musste.

Wenigstens kann ich mich verstehen,

versuchte sie sich manchmal zu trösten. Was Thomas betraf, war die Lektion relativ einfach. Sunny wusste genau, warum sie ihn hasste. Doch noch ehe es ihren Gedanken möglich war, zum tausendsten Mal in Richtung dieses Themas zu wandern, was ihr den Morgen mit Sicherheit endgültig vermiest hätte, nahm sie schnell einen weiteren Schluck Kaffee und zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart bereits zehn Minuten überfällig war, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ihre Laune war dank Thomas ohnehin schon im Keller.

Was also soll jetzt noch kommen, das es noch schlimmer machen könnte?

Doch noch im selben Moment klingelte die Antwort auf diese Frage an der Tür mit dem selbst gemachten, hölzernen „Herzlich willkommen bei Familie Decker“- Schild, das von einem hart erarbeiteten Idyll zeugte, welches eben jetzt wieder einmal auf eine ernste Probe gestellt werden sollte.

Sunny bat die Marquart und ihren Kollegen in die Küche, wo sie sich an den massiven Tisch setzten, an dem sich ein Großteil ihres Familienlebens abspielte. Sie schenkte Kaffee ein und ließ sich den Beamten gegenüber nieder, die sie ebenso forschend musterten, wie sie die beiden. In Situationen wie dieser, wenn sie weder wusste, wie ihr Gegenüber zu ihr stand, noch was auf sie zukam, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, heimlich psychopathologische Befunde ihrer Gesprächspartner zu erstellen, wie sie es zu Beginn jeder Therapie routinemäßig bei ihren Patienten tat. Vordergründig machte ihr das Spaß und verlieh ihr eine gewisse Befriedigung und Macht. Aber eigentlich, so wusste sie, half es ihr vor allem dabei, nicht vor lauter Verunsicherung schreiend davonzulaufen.

Frau mit gepflegtem, jugendlich-sportlichem Äußeren,

begann es in Sunnys Kopf zu arbeiten.

Freundlich und kooperativ, dabei aber etwas burschikos und dominant. Spricht laut. Wach und orientiert. Kein Anhalt auf Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Antrieb und Psychomotorik weitestgehend unauffällig, leichte Tendenz zur Ungeduld, leichte Agitiertheit. Affekt weitestgehend unauffällig, stellenweise etwas gereizt. Punktuell umständliches Denken und Vorbeireden. Kein Anhalt auf Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, jedoch thematische Einengung auf das Thema Verbrechen. Kein Anhalt auf Eigen- oder Fremdgefährdung.

Sunny musste zugeben, dass sie streng sein musste, um überhaupt etwas zu finden, das sie in den Befund der Marquart packen konnte. Die Frau machte leider einen geistig völlig gesunden Eindruck. Irgendwie war ihr die Polizistin sogar fast sympathisch. Sie war in ihrem Alter und hatte eine schlanke Figur. Ihr langes dunkles Haar fiel glatt über die Schultern und den Rücken. Sie trug wenig, gezielt angebrachtes Make-Up. Tatsächlich fand Sunny, dass die Marquart mit ihrem hübschen runden Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gitarristin der Muppet-Show hatte. Dabei war sie etwas größer als Sunny selbst, die ihrerseits immerhin 1,73 m maß. Sie trug eine zerknitterte Jeanshose, wie man sie auch in Sunnys Schrank hätte finden können, und eine speckige schwarze Lederjacke, die ihre besten Tage vermutlich irgendwann in den frühen Achtzigern gefeiert hatte. Sie hatte eine für eine Frau ungewöhnlich tiefe, rauchige Stimme. Außerdem erinnerten ihre kantigen Bewegungen sie angenehm an ihre Schwester Bianca. Sunny glaubte deutlich zu erkennen, wie sehr die andere um ein sicheres, Vertrauen erzeugendes Auftreten bemüht war und vermutete, dass hinter diesem Verhalten eine gehörige Portion Unsicherheit steckte.

Warum eigentlich?,

fragte sie sich, doch dann kam ihr der Gedanke, dass der Kollege wahrscheinlich kein echter Kollege, sondern ein Vorgesetzter war. Diese Vermutung lag nahe, denn obwohl Sunny sich nicht mehr an den Dienstgrad erinnern konnte, den er ihr genannt hatte, war er doch mindestens zwanzig Jahre älter als sie und die Marquart. Außerdem strahlte er im Gegensatz zu dieser echte Sicherheit und Ruhe aus. Die Marquart wollte wahrscheinlich nicht nur vor ihr, sondern vor allem vor ihm eine gute Figur machen. Gerade als Sunny ansetzen wollte, um seinen Befund zu erheben, ergriff die Marquart das Wort.

„Okay, Ihr Name ist also Sandra Decker, wohnhaft hier in der Schillerstraße 14 in Offenbach. Ihr Geburtsdatum ist der 20.07.1981. Sie sind 34 Jahre alt, und Sie sind verheiratet mit Herrn Sven Kugler.“ Die Polizistin sah sie forschend an.

„Mhm“, Sunny presste die Lippen aufeinander, „nett, dass Sie mich an einem Sonntagmorgen daran erinnern.“

Im gleichen Moment bereute sie ihre Bemerkung.

Was, wenn Sven etwas zugestoßen ist? Was, wenn die Polizisten wegen ihm hier sind? Sven ist zwar unbestritten ein Arschloch, aber das müssen die ja nicht unbedingt von mir erfahren.

Zu ihrer Erleichterung sah Sunny dann aber, dass die Polizistin breit grinste.

„Sie haben eine gemeinsame Tochter: Felicitas, zwei Jahre alt. Von Beruf sind Sie Psychotherapeutin. Stimmt das soweit?“

Während Sunny nickte, fröstelte es sie leicht. Es war unglaublich, was diese Polizisten scheinbar mühelos über sie in Erfahrung hatten bringen können. Gut, nichts von alledem war geheim, und als sie darüber nachdachte, wurde ihr schnell klar, dass fast all diese Informationen in irgendwelchen offiziellen Datenbanken hinterlegt waren.

Aber trotzdem.

Sunny fand das gruselig. Sie war froh, als Esther Marquart sie anlächelte.

„Keine Sorge, Frau Decker, wir sind die Guten.“

Sunny musste unwillkürlich ebenfalls lächeln.

„Okay. Nachdem die Formalitäten geklärt sind, kommen wir nun zu dem eigentlichen Grund unseres Besuches.“

Die Polizistin hielt kurz inne und sah Sunny ernst an.

„Es geht um eine junge Frau namens Anna Henkes, die Ihnen nach unserem Wissen gut bekannt ist?“

Die Frage musste, ebenso wie alle zuvor, rhetorischer Natur gewesen sein, denn allein dass Sunnys Mimik bei der Erwähnung von Annas Namen sofort einfror, genügte offenbar als Antwort. Esther Marquart berichtete ihr in groben Zügen, was vorgefallen war. Anna war am frühen Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Die Situation vor Ort und die Leichenschau hatten aber deutliche Hinweise darauf ergeben, dass es sich bei der Todesursache um ein Polytrauma handelte, also eine Kombination schwerster, gleichzeitig entstandener Verletzungen, verursacht durch einen Sturz aus großer Höhe, vermutlich aus einem Fenster ihrer eigenen Wohnung im dritten Obergeschoss eines Karlsruher Altbaus. Diese widersprüchliche Sachlage warf natürlich viele Fragen auf.

Sunny war es, als würden die Worte der Polizistin sie ohne Vorwarnung unsanft irgendwohin katapultiert, wo sie ganz allein inmitten eines dichten Nebels zurückblieb. Sie fühlte sich augenblicklich völlig verwirrt und hilflos. Verwirrung und Hilflosigkeit umhüllten sie. Sie war Verwirrung und Hilflosigkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie sogar, sich selbst inmitten dieses Nebels umherirren zu sehen, zu sehen wie sie sich hektisch immer wieder nach rechts und links drehte und doch nichts erkennen konnte, als eben diesen weißen undurchdringlichen Nebel. Sie meinte spüren zu können, wie die Räder, die ihren Verstand hätten antreiben sollen, immer wieder ins Leere griffen oder an etwas abglitten oder wie von unsichtbaren Fäden gehalten wurden oder was auch immer. Es war eigentlich vollkommen egal. Ihr Verstand arbeitete zu langsam, als dass sie vernünftige Fragen hätte stellen können, die ihr geholfen hätten, die Schwaden, die ihr die Sicht nahmen, zu vertreiben. Immer noch keines klaren Gedankens fähig, gelang es Sunny endlich, abwehrend die Hände zu heben. Diese Geste wiederum schien einigen Worten den Weg zu bahnen, die wie von selbst aus ihrem Mund kamen.

„Was? Halt. Langsam. Ich … langsam, bitte“, stotterte sie.

Sie kam nun Wort für Wort wieder zu sich, als könnte sie sich entlang eines Seils aus Silben in die Realität zurück hangeln. Esther Marquart war in der Zwischenzeit hektisch aufgestanden und hatte ein Glas Wasser vor sie auf den Tisch gestellt, während sie irgendetwas von „Schock“ und „gut tun“ murmelte. Sunny, die mittlerweile nur noch von einigen wenigen Nebelschwaden umgeben war, sich aber noch unangenehm benommen fühlte, wurde jetzt mit einem Schlag hellwach.

„Ich hab keinen Schock, aber wenn ich einen hätte, dann wäre das mit Sicherheit Ihre Schuld. Wissen Sie überhaupt, was das ist, ein Schock?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe.

„Aber ich hab keinen Schock. Ich will einfach nur, dass Sie mir das Ganze in einem normalen Tempo erzählen und mich nicht so überrollen. Und wenn ich dann einen Moment brauche, dann wird mir gleich ein Schock angehängt. Am besten, ich nehme noch irgendwas zur Beruhigung, damit ich nicht merke, wie scheiße das hier alles ist.“

Sie klang ungewohnt schrill, und Sunny erschrak ein wenig über sich selbst. Normalerweise hatte sie sich besser im Griff. Es war nicht ihre Art, ausfallend zu werden und eigentlich war sie darauf bisher auch stolz gewesen.

„‘Tschuldigung“, murmelte sie daher nun etwas kleinlaut. „Ich bin auf einmal echt müde. Was ist also passiert? Anna ist tot. Und was … warum … ich meine, wie kann ich Ihnen denn jetzt helfen? Wir hatten nämlich wirklich schon lange keinen Kontakt mehr. Ich habe Anna kurz vor meiner Hochzeit das letzte Mal gesehen, und das war quasi in einem anderen Leben.“

Je mehr sie sprach, desto mehr fand Sunny zu ihrer gewohnten Form zurück. Die Müdigkeit verflogen langsam.

„Frau Decker, es tut uns sehr leid, dass die Nachricht von Frau Henkes‘ Tod Sie so hart trifft. Wenn Sie möchten, können wir dieses Gespräch gerne zu einem anderen Zeitpunkt …“, die Polizistin hielt mitten im Satz inne, als sie sah, dass Sunny heftig den Kopf schüttelte.

„Nein, nein. Ich weiß zwar jetzt, warum es üblich ist, dass man die Leute, denen man so eine Nachricht überbringt, immer erst bittet, sich zu setzen, aber es geht schon wieder. Ich möchte schon wissen, warum Sie hier sind, sonst plagen mich nur den ganzen Tag die schlimmsten Horrorvisionen … Entschuldigung, meine Ausdrucksweise … Ich meine …“, nun war es Sunny, die mitten im Satz abbrach, weil sie die andere verständnisvoll lächeln sah. Die beiden Frauen sahen sich kurz in die Augen, die Polizistin nickte langsam und fuhr dann fort.

Sie berichtete Sunny, dass man in einem Schuhkarton in Annas Wohnung dutzende Fotos und Briefe von ihr gefunden habe, die sie der Freundin zwischen 1991 und 2013 geschrieben hatte. Sunny stiegen bei den Worten der Polizistin Tränen in die Augen. Anna hatte all diese Briefe tatsächlich aufbewahrt: Briefe auf rosafarbenem Briefpapier in passenden Umschlägen, die von der langsam näher rückenden Pubertät zeugten, Briefe auf herausgerissenen Matheheftseiten, die ihre Freundschaft in flammenden Reden beschworen, zwischen zwei Vorlesungen geschriebene Briefe, die um Orientierung und Sinn flehten und zuletzt ihre und Svens Hochzeitseinladung. So ernüchternd konnte Romantik sein.

Sunny kannte diese Schachtel und sah sie vor sich: ein großer Schuhkarton, in dem sich ursprünglich Annas erstes Paar Doc Marten‘s, damals ihr wertvollster Besitz, befunden hatte, beklebt mit den Seiten eines 90er-Jahre-Oilily-Katalogs, von dessen Inhalt die Mädchen nur hatten träumen können, verziert mit Glitzersteinchen, die Anna in ihrem gemeinsamen Urlaub nach dem Abitur in Spanien auf einem Markt erstanden hatte. Dieser Karton enthielt Zeugnisse all dessen, was ihre Freundschaft je gewesen war. Denn außer den Fotografien und Briefen, das wusste Sunny, beherbergte er auch heimlich im Schulunterricht geschriebene Zettelchen, kleine Geschenke, alte Fahrkarten, die Konzertkarten für das Freundeskreis-Konzert, das Anna und sie heimlich besucht hatten, und ein Queen-Tape in miserabler Qualität, das die Mädchen damals Annas älterer Schwester geklaut hatten. Ein bitteres Lächeln umspielte Sunnys Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie mit klopfendem Herzen auf dem Flur Schmiere gestanden hatte, während Anna die Schubladen ihrer Schwester auf der Suche nach Schätzen durchwühlte. Mit einem triumphierenden Grinsen war die kleine Anna damals mit der Kassette, einer Packung Fritt mit Kirschgeschmack und zwei Gauloises wieder aus dem Raum geschlüpft, und sie hatten einen wunderbar glücklichen Nachmittag in Annas Baumhaus verbracht, an dessen Ende es ihnen beiden allerdings leider fürchterlich übel gewesen war.

Friends will be friends,

When you’re in need of love, they give you care and attention,

Friends will be friends,

When you’re through with life and all hope is lost,

Hold out your hands ‘cause right till the end, friends will be friends.

Gerade die verbotenen Dinge waren es auch Jahre später noch gewesen, die Anna und Sunny am meisten gereizt hatten.

Sunnys Gedanken wanderten unwillkürlich zum April 1997.

Mit fünfzehn Jahren war es der sehnlichste Wunsch der Mädchen gewesen, ein Konzert ihrer Lieblingsgruppe Freundeskreis zu besuchen. Dass sie hierbei keinerlei Wert auf irgendwelche Aufpasser gelegt hatten, verstand sich natürlich von selbst. Man stelle sich nur vor, es hätte sich eine Gelegenheit ergeben, dem Leadsänger Max näher zu kommen. Ihren Eltern hatten sie daher beide erzählt, sie würden bei der jeweils anderen übernachten. In Wirklichkeit waren sie aber bereits am Nachmittag mit dem Zug nach Karlsruhe gefahren und hatten sich stundenlang in der Stadt herumgetrieben. Sie hatten sich in einer Umkleidekabine im Woolworth umgezogen und sich richtig aufgedonnert. Dann waren sie noch einmal mehrere Stunden auf einer Parkbank vor dem Subway gesessen (damals war die Welt, was das betraf, noch in Ordnung gewesen) und hatten sich eine Flasche Sekt geteilt, bis sie endlich eingelassen worden waren. Während die Band gespielt hatte, waren sie sich in den Armen gelegen und als die ersten Töne ihres Liedes erklangen, hätte die Welt nicht vollkommener sein können.

„Immer, wenn es regnet, muss ich an dich denken,

Wie wir uns begegnen, kann mich nicht ablenken …“

Nachdem sie weit nach 1 Uhr wieder hoch in die Welt gekommen waren, waren sie zum Schloss spaziert und hatten sich eng umschlungen auf eine Parkbank gesetzt.

… Die Kleidung ganz durchnässt, klebte an ihr fest

Die Tasche in der Hand stand sie an der Wand

Die dunkeln Augen funkelten wie ’ne Nacht in Asien

Strähnen im Gesicht nehmen ihr die Sicht …

Dort hatten sie immerhin bis etwa 3 Uhr morgens ausgeharrt. Dann war es ihnen aber doch ein wenig kalt geworden. Sie hatten sich schlichtweg keinen sonderlich guten Plan dahingehend zurechtgelegt gehabt, wie das Ende ihres kleinen Abenteuers aussehen sollte. Ihre Eltern hatten sie erst am Nachmittag zurück erwartet, und in ihrer Naivität hatten sie geglaubt, sie könnten einfach so lange umherstromern. In der wirklichen, echten Welt war es aber im April noch etwas zu frisch gewesen, um eine Nacht im Freien zu verbringen. Also hatten sie ihr letztes Kleingeld zusammengekratzt, waren zum Europaplatz gelaufen und hatten Bianca angerufen, die sie im Morgengrauen mit ihrem alten Golf aufgesammelt und in ihrem Zimmer versteckt hatte, bis ihre Mutter um 7 Uhr zur Arbeit gegangen war.

… Manchmal lach‘ ich drüber, doch dann merk ich wieder wie‘s mich trifft,

Komik ist Tragik in Spiegelschrift …

Sunny konnte nicht verhindern, dass ihr in Gegenwart der Polizisten Ströme von Tränen über die Wangen liefen. Sie wollte später weinen, hysterisch schluchzend, schreiend, Haare raufend, aber vor allem alleine und in Ruhe. Und wenn sie genug geweint hatte, wollte sie sich von Bianca trösten lassen. Komischerweise war der erste klarere Gedanke, zu dem Sunny schließlich wieder fähig war der, dass es doch eigentlich etwas seltsam war, dass sie in jener Nacht nicht von der Polizei aufgegriffen worden waren.

Zwei minderjährige Herumtreiberinnen, fünfzig Meter entfernt vom Bundesverfassungsgericht.

Esther Marquart fuhr fort und riss Sunny so aus ihren Gedanken. Kurz ging dieser durch den Kopf, wie gut die andere doch ihre Arbeit machte. Sie ließ ihr genug Raum für die Gedanken, die nötig waren, holte sie dann aber rechtzeitig in die Gegenwart zurück, bevor das Gewesene, das Nichtgewesene und der Schmerz über beides vollständig Besitz von ihr ergreifen konnten. Außerdem, so sagte sie nun, gäbe es auf Annas Rechner eine Datei mit dem Titel ‚Briefe an S.‘, die ebenfalls mehrere Dutzend Dokumente enthalte, die offensichtlich an Sunny gerichtet seien. Der älteste Text, den Anna hier abgelegt habe, sei von 2013, der jüngste von der vergangenen Woche. Augenblicklich spürte Sunny ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, und ihr Herz schien plötzlich schneller zu schlagen. Anna hatte ihr geschrieben, immer geschrieben. Sie konnte sich die Inhalte dieser Briefe vorstellen. Ihre Freundschaft war zu Ende gegangen.

Was gab es da wohl zu sagen?

Anna hatte ihre Wahrnehmungen und Gefühle formuliert. Sunny war froh darüber, diese Briefe nie erhalten zu haben. So viel Kritik, berechtigte und unberechtigte, spiegelvorhaltende und realitätsverzerrende, mit Sicherheit messerscharfe, pfeilspitze, schmerzende Kritik, die sie jetzt mit der Wucht der Endgültigkeit mitten ins Herz treffen würde. Allein ihre Vorstellung der Inhalte schmerzte Sunny und machte ihr Angst vor einer möglichen Konfrontation, die jetzt keine Konfrontation mehr mit Anna selbst, die eine Aussöhnung zumindest theoretisch möglich gemacht hätte, wohl aber eine mit ihren eigenen Fehlern gewesen wäre. Fehlern, die sie in Annas Augen gemacht hatte, und ganz anderen Fehlern, die sie ihrer eigenen Meinung nach begangen hatte, die sie gelebt hatte, die sie gewesen war. Doch wenn sie sich auch sicher war, dass das, was Anna ihr vorzuwerfen gehabt hatte, andere Dinge gewesen waren als die, die sie sich selbst vorwarf, so war sie sich doch auch sicher, dass das keine große Rolle spielte. Ein Vernichtungsschlag war ein Vernichtungsschlag. Vernichtend. So war Anna gewesen, zumindest später, das glaubte Sunny zu wissen. Und was sie definitiv nicht leugnen konnte war, dass sie, wann und warum auch immer, aufgehört hatte für Anna da zu sein. Dies war bereits zu einem Zeitpunkt geschehen, als das offizielle Ende ihrer Freundschaft noch in weiter Ferne gelegen hatte.

Wieder hielt die Polizistin kurz inne, um Sunny Zeit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten.

„Was wir uns von Ihnen erhoffen“, fuhr sie dann fort, „sind zunächst ein paar Informationen.“

Sunny nickte.

„Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Frau Henkes?“

„Wie bereits gesagt, das war kurz vor meiner Hochzeit, also im Frühsommer 2013.“

Sunny glaubte, einen Anflug von Enttäuschung bei der Polizistin wahrzunehmen, war sich ihrer Sache jedoch nicht sicher.

„Seither war da kein Kontakt mehr? Auch keine Briefe oder E-Mails oder irgendwelche anderen Nachrichten?“

Sunny schüttelte den Kopf.

„Haben sie denn etwas über Frau Henkes gehört? Ich meine, gab es mittelbaren Kontakt über Dritte?“

Sunny blies nachdenklich gegen ihre Finger.

„Naja, bestimmt, aber ich erinnere mich an nichts Konkretes. Wir haben, äh, wir hatten ja viele gemeinsame Bekannte. Sicher hat da mal jemand was erwähnt, aber ich erinnere mich weder an bestimmte Situationen noch an Inhalte.“

„Und trotzdem waren Sie ihr auf diese besondere Art eine Ansprechpartnerin.“

„Ja. So war Anna.“ Sunny zog die Brauen nach oben. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Rätselhaft bis zum Schluss.“

Die Polizistin, der die Bitterkeit dieser Worte nicht entgangen war, sah sie fragend an.

„Ach nichts“, wehrte Sunny ab.

„Sehen Sie“, hakte die Marquart nach, „unsere Aufgabe besteht im Moment zunächst einmal darin festzustellen, ob ein Verbrechen vorliegt, ob wir es mit einem Unfall zu tun haben oder ob Frau Henkes sich suizidiert hat. Sollte ersteres zutreffen, werden wir dann den Täter und die Tatumstände ermitteln“, erklärte Sie geduldig weiter. „Im zweiten Fall klären wir ebenfalls die näheren Umstände und prüfen, ob und inwieweit Fremdverschulden vorliegt. Trifft letzteres zu, ist unsere Arbeit hier beendet. Natürlich sind diese inhaltliche Trennung und die Festlegung einer zeitlichen Abfolge der Arbeitsschritte aber eher theoretischer Natur.“ Die Polizistin holte an dieser Stelle vernehmlich Luft. „ Auf jeden Fall benötigen wir aber zur Beantwortung all dieser Fragen jegliche verfügbare Information. Und gerade solche Informationen, die uns Einblicke in die Persönlichkeit der Verstorbenen gewähren, sind besonders wertvoll. Wir müssen wissen, wer Anna Henkes war, um die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können.“

Die Marquart sah Sunny fest in die Augen.

„Okay. Und jetzt?“

Sunny war irritiert.

„Natürlich möchte ich Ihnen helfen, das steht außer Frage. Aber ich kann Ihnen nichts über Anna sagen, das wirklich aktuell wäre.“

„Frau Decker“, die Polizistin atmete erneut tief ein und Sunny glaubte zu merken, dass sie die Geduld der anderen im Moment etwas strapazierte, „natürlich muss ich zugeben, dass wir uns etwas anderes erhofft hatten. Aber wir müssen eben nehmen, was wir kriegen können.“

Sie lächelte, bevor sie einen kurzen Blick mit ihrem Kollegen wechselte, sprach dann aber sofort weiter.

„Sie als Psychologin wissen doch hundertmal besser als ich, dass sich die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen ohnehin nicht binnen zwei oder drei Jahren von Grund auf ändert. Wenn Sie uns ein Bild der Person Anna Henkes, die Sie kannten, zeichnen könnten, dann könnten wir dieses anhand der Informationen, die wir noch sammeln werden, ergänzen. Sie können uns da wirklich vertrauen.“

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie also einfach nur, dass ich Ihnen von Anna erzähle?“

„Ja, im Grunde genommen schon. Wir möchten Sie allerdings bitten, uns dazu noch heute auf dem Präsidium in Karlsruhe aufzusuchen, damit wir Ihre Aussage gleich zu Protokoll nehmen können. Bis heute Nachmittag werden wir es auch geschafft haben, die Dinge in Frau Henkes‘ Wohnung zu sichten. Es ist gut möglich, dass sich hieraus dann wieder neue Fragen an Sie ergeben.“

Sunny zuckte kurz zusammen. Es war ihr bis jetzt noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Polizisten ja auch all ihre Briefe lesen würden.

Na, das ist dann wohl mal so.

Was sollte sie auch machen?

„Werde ich die Briefe von Anna an mich lesen müssen?“, wollte sie nun wissen.

Die Marquart war sichtlich verwundert über diese Frage und Sunnys plötzlich so abwehrende Haltung.

„Es ist möglich, dass wir Sie bitten werden, sich das ein oder andere Schriftstück anzusehen.“

Sunny presste die Zähne aufeinander und nickte stumm.

Als das Gespräch mit den Polizeibeamten endlich beendet gewesen war, hatte Sunny eine Visitenkarte von Frau Kriminaloberkommissarin Esther Marquart in der Hand gehalten, auf deren Rückseite die Worte „heute 17 Uhr“ vermerkt waren. Doch an den Rändern ihres Gesichtsfeldes hatten immer noch Nebelschwaden gewabert.

Und auch als sie jetzt von einer Horde ihrer schlimmsten Dämonen, wiedererweckten und neu erworbenen, durch den Wald gejagt wurde, wollte ihre Sicht nicht wieder völlig aufklaren.

Vielleicht ist das aber auch gar kein Nebel. Vielleicht ist das Schwefeldampf, der durch irgendwelche Ritzen im Boden aufsteigt, weil die Hölle kurz davor ist, sich aufzutun.


Immer wenn es regnet

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