Читать книгу Immer wenn es regnet - Jessica Braun - Страница 20
Montag, 09. Mai 2016, 9:00 Uhr Dienstwagen von Esther Marquart, A 65, Fahrtrichtung Karlsruhe
ОглавлениеSunny war nervös. Vielleicht war sie sogar ängstlich, aber das würde sie mit Sicherheit nicht zugeben, nicht vor sich selbst und gleich dreimal nicht vor der Marquart oder vor sonst irgendjemandem. Sie hatte sich dazu bereit erklärt mit Annas Freund zu sprechen, und genau das würde sie jetzt auch tun.
Annas Freund.
Vor 24 Stunden hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass es ihn gab, und jetzt war sie auf dem Weg zu ihm, weil er mit ihr sprechen wollte, weil er anscheinend angedeutet hatte, ihr gegenüber ein Geständnis ablegen zu wollen. Sunny hätte wirklich gerne gewusst, was Anna ihm über sie erzählt hatte.
Esther Marquart, die neben ihr am Steuer saß, gab sich alle Mühe, zuversichtlich zu wirken, aber Sunny war sich ziemlich sicher, dass die andere noch unruhiger war, als sie selbst. Es war offenkundig, wie wichtig das bevorstehende Gespräch für die Polizei war, wie viel sie sich davon erhoffte. Und letztlich war es doch so, dass sie sie, Sunny, nicht wirklich kannten und sich somit blind darauf verlassen mussten, dass sie das hinbekam.
„Frau Marquart“, begann Sunny nun, „ich weiß, ich habe mich spontan zu diesem Gespräch bereit erklärt, aber ehrlich gesagt wüsste ich vorab doch gerne noch ein paar Dinge. Bisher haben Sie mir außer dem Namen des Mannes nur verraten, dass er Annas Freund war und dass Sie ihn gestern verhaftet haben, weil Sie glauben, er habe Anna aus diesem Fenster gestoßen.“
Die Marquart warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
„Naja, also ich persönlich glaube gar nichts. Aber auf jeden Fall spricht einiges für ihn als Täter.“
„Das heißt, Sie haben ihn verhaftet, obwohl sie nicht glauben, dass er Anna gestoßen hat?“
Esther Marquart verzog das Gesicht.
„Leider interessiert es den Staatsanwalt nicht, was ich glaube. Die Sachlage ist, wie sie ist, und uns ist nichts anderes übrig geblieben, als ihn festzunehmen. Er wird beschuldigt, weil die Spuren am Tatort und in seiner Wohnung auf ihn als Täter hinweisen und er sich bei seinen Aussagen in Widersprüche verstrickt hat. Außerdem hat er nicht nur kein Alibi, sondern wurde in der Nacht sogar in dem Haus, in dem Frau Henkes gewohnt hat, gesehen. Und er hat ein Motiv – Mittel, Motiv und Gelegenheit, Sie verstehen?“
Nun war es an Sunny das Gesicht zu verziehen, denn sie wurde langsam ungeduldig. Sie mochte die Marquart, keine Frage, aber sie merkte sofort, wenn ihr jemand auswich.
„Na, das wüsste ich aber gerne etwas genauer. Sie können doch nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich dieses Gespräch führe und Sie mir im Vorfeld nichts verraten. Ich meine, der will doch nicht mit mir reden, weil er mich auf den Fotos in Annas Wohnung so hübsch fand. Der Verdächtige kriegt die Decker, wir kriegen das Geständnis. Oder wie?“
Bereits zum zweiten Mal innerhalb der letzten beiden Tage erschrak Sunny über sich selbst. Sie hatte Esther Marquart eigentlich gar nicht so hart angehen wollen, doch seit sie von Annas Tod erfahren hatte, war sie fix und fertig. Und die Marquart hatte so eine herrische, bevormundende Art, mit der sie sie innerhalb weniger Sekunden von Null auf 100 brachte.
Verdammt.
„Entschuldigung. Ich bin im Moment einfach nicht besonders ausgeglichen.“ Sunny versuchte zu lächeln. „Aber auch wenn ich mich gerade im Ton vergriffen habe, möchte ich doch trotzdem genauer wissen, wie der Stand der Dinge ist. Sie haben mir bis jetzt so gut wie gar nichts verraten. Was Sie von sich geben, sind vage Andeutungen. Ich komme mir vor wie ein Bauernopfer. Ich habe eine Ausbildung in Gesprächsführung, und ich kann das gut machen, wenn Sie mich da nicht völlig unvorbereitet rein schicken.“
Sunny sah die Polizistin beschwörend an.
„Und außerdem – eine Hand wäscht die andere. Wenn Sie meine Hilfe wollen, will ich gefälligst auch wissen, was hier los ist“, schloss sie trotzig.
Esther Marquart zögerte kurz.
„Also gut, ich denke, das ist nur fair. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar, dass Sie die Informationen, die ich Ihnen jetzt gebe, nicht offen verwenden dürfen. Mein Chef reißt mir den Kopf ab und geht damit kegeln, wenn er rauskriegt, dass ich Ihnen das erzählt habe.“
Sunny nickte.
„Wie Sie bereits wissen, haben wir Jan Liebig heute kurz nach Mitternacht festgenommen. Auf die Gründe hierfür werde ich gleich noch eingehen. Im Moment bedeutet diese Festnahme aber vor allem, dass wir ihn spätestens am morgigen Dienstagabend, mit Ablauf des auf die Verhaftung folgenden Tages, dem Haftrichter vorführen müssen. So wie es im Moment aussieht, könnte das aber eine wackelige Angelegenheit werden. Es wäre möglich, dass wir ihn danach wieder laufen lassen müssen. Und dann wird es umso schwerer, einen erneuten Haftbefehl gegen ihn zu erwirken. Das heißt, wir stehen im Moment wirklich unter Zeitdruck und brauchen alle Informationen, die wir kriegen können. Die Gründe, die zu seiner Festnahme geführt haben, verständlich darzulegen, ist ehrlich gesagt gar nicht so einfach, weil es noch viel zu viele Unklarheiten gibt. Nicht zuletzt darum erhoffen wir uns ja auch so viel von dem Gespräch, um das wir Sie gebeten haben.“
Die Polizistin machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.
„Bei einem nicht natürlichen Todesfall ist es zunächst einmal so, dass wir alle möglichen Hypothesen aufstellen. Bei einem Tötungsdelikt ist eine der ersten Fragen die, ob es sich um einen Fremd- oder um einen Beziehungstäter handelt, das heißt um jemanden, mit dem das Opfer bekannt war. Wobei tatsächlich 80% der Tötungsdelikte Beziehungstaten sind.“
„Heißt das, Sie wissen jetzt, dass Anna umgebracht wurde? Das wussten Sie gestern noch nicht.“
Die Polizistin wiegte ihren Kopf hin und her, während sie ihr Fahrzeug gleichzeitig auf die linke Spur lenkte, um einige Lastwagen zu überholen.
„Sagen wir einfach, es spricht vieles dafür.“
Esther Marquart räusperte sich, bevor sie weitersprach.
„Jan Liebig ist als Frau Henkes‘ Partner natürlich besonders interessant für uns. Sie wissen schon, die Statistik. Daher haben wir ihn mehrmals befragt. Wir wollten sehen, ob er sich in Widersprüche verstrickt.“
Die Polizistin berichtete, dass Annas Freund am Sonntagmorgen ausgesagt hatte, er habe den Vorabend mit Freunden in einer Kneipe verbracht und sei dann zwischen 0:30 Uhr und 1 Uhr zu Annas Wohnung aufgebrochen. Seine Begleiter hatten dies bestätigt. Von der Kneipe aus hatte er nur wenige Minuten gehen müssen, und zunächst hatte er angegeben, wie verabredet bei seiner Freundin geklingelt zu haben.
„Nachdem diese ihm nicht geöffnet hat, will er nach Hause gegangen sein und den Rest der Nacht allein und schlafend verbracht haben.“
Die Kommissarin holte vernehmlich Luft.
„Die Sache ist aber die, dass der Kerl laut meinen Kollegen morgens gestunken hat wie ein Iltis. Und siehe da: Er hatte um 9 Uhr früh noch 0,8 Promille. So was wirft natürlich Fragen auf“, dozierte sie weiter.
„In einer zweiten Befragung sonntagnachmittags auf dem Präsidium hat mein Chef Jan Liebig dann mitgeteilt, dass wir DNA-Spuren an der Leiche gefunden haben, die auf einen anderen Ablauf der Ereignisse hindeuten. Dass die Ergebnisse der Analyse noch ausstanden, hat er dabei natürlich nicht erwähnt. Jan Liebig hat seine Aussage jedenfalls sofort geändert und behauptet, er habe Anna Henkes tot auf ihrem Bett liegend vorgefunden, aber zunächst gedacht, sie würde nur schlafen. Also habe er sie wecken wollen und daher berührt. Dass er das eingeräumt hat, heißt für uns, dass er sich vorstellen kann, dass wir seine DNA an der Leiche gefunden haben. Als ihm klar wurde, dass Frau Henkes tot war, will er einen Schock erlitten haben und weggerannt sein. Er gab an, sich zu Hause noch eine Flasche Wodka hinter die Binde gekippt und dann geschlafen zu haben, bis die Kollegen ihn rausgeklingelt haben. Spätestens nach dieser Aussage ist der Liebig also tatverdächtig. Die Geschichte war aber schon einfach deshalb unglaubwürdig, weil, …wie soll ich das beschreiben, …weil sie eben einfach irgendwie holprig war.“
Esther Marquarts Blick war nach wie vor konzentriert auf die vor ihnen liegende Autobahn geheftet, während sie erklärte, dass Jan Liebig auf Nachfrage sehr eilig versichert hatte, dass er keinen Schlüssel zu Annas Wohnung besäße. Da das Türschloss beim Eintreffen der Streifenpolizisten jedoch unversehrt gewesen war, hatte man nachgehakt und Annas Freund hatte angegeben, die Tür habe bei seinem Eintreffen offen gestanden und er habe sie auch beim Gehen offen gelassen. Natürlich war es laut Esther Marquart nicht undenkbar, dass es sich genau so abgespielt hatte, aber die Art und Weise wie er das alles berichtet hatte, so erklärte sie Sunny nun, hatte sie und ihre Kollegen misstrauisch werden lassen.
„Zum Beispiel, dass wir ihm die Erklärungen für Details immer wieder aus der Nase ziehen mussten, hat nicht gepasst. Wenn jemand die Wahrheit erzählt, handelt es sich dabei in der Regel um eine schlüssige runde Geschichte, in die sich alle Fakten glatt einfügen. Wenn jemand lügt, dann wird es dagegen oft holprig. Eine Lüge macht oft riesige Konstrukte nötig, um Kleinigkeiten noch irgendwie passend zu machen. Sie verstehen?“
Sunny nickte beflissen.
„Als wir ihn fragten, warum er uns nicht sofort verständigt hat, bestand er erneut darauf, schließlich einen Schock gehabt zu haben. Auf die Frage, warum er sonntagmorgens nicht gleich die Wahrheit gesagt hat, meinte er, er habe ‚in nichts reinkommen‘ wollen. So eine dünne und abgegriffene Fernsehkrimi-Ausrede ist wirklich nicht sonderlich überzeugend. Abgesehen von alledem hat aber natürlich auch seine Schilderung davon, wie er versucht haben will Frau Henkes zu wecken, vorne und hinten nicht zu dem Szenario und den Spuren gepasst, die sich uns in der Wohnung geboten haben.“
Die Polizistin zögerte kurz, ehe sie weitersprach. „Frau Henkes wurde in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett regelrecht aufgebahrt. Sie wurde hergerichtet. Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. Wir haben also die Daumenschrauben etwas angezogen und ihn gefragt, wie denn sein Schock ausgesehen haben soll, und da ist er so richtig ins Schwafeln geraten. Hätte er uns einfach gesagt, er wisse auch nicht, er sei einfach nur nicht er selbst gewesen oder irgend so etwas, das hätten wir ihm vielleicht abgenommen. Aber er hat uns eine richtige Story erzählt. Es klang, als hätte er versucht, Wikipedia auswendig zu lernen, dabei aber die Hälfte verwechselt. Da kamen solche Dinger wie, sein Herz habe so schnell geschlagen, dass ihm ganz schwarz vor Augen geworden sei und so ein Blödsinn.“
„Naja“, unterbrach Sunny den Redeschwall der Polizistin, „sollte er tatsächlich unter Schock gestanden haben, wäre es doch durchaus plausibel, dass er diesen Zustand im Nachgang nicht angemessen beschreiben konnte.“
„Vielleicht“, lenkte diese ein, „aber er klang wirklich wie ein schlecht informierter Schauspieler. Der eigentliche Knackpunkt bei der ganzen Geschichte ist aber sowieso die Aussage einer Nachbarin, die gegen 2 Uhr erst ein krachendes Geräusch im Haus gehört und ihn dann durch ihren Türspion im Treppenhaus gesehen haben will. Obwohl die Frau im gleichen Haus wie Anna Henkes wohnt, wurde sie erst parallel zur Vernehmung von Jan Liebig und nicht schon früher befragt. Ich habe keine Ahnung, was da schief gelaufen ist.
Jedenfalls ist er laut ihr die Treppe runtergepoltert, als sei der Teufel selbst hinter ihm her. War wohl völlig aufgelöst. Und das würde dann bedeuten, dass der gute Herr Liebig anderthalb Stunden gebraucht hat um festzustellen, dass seine Freundin nicht mehr lebt, um dann mit viel Getöse davonzulaufen. Er ist sicherlich keiner von der schnellen Truppe, aber anderthalb Stunden? Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als ihn zum Beschuldigten zu erklären. Natürlich haben wir ihn damit konfrontiert, dass der zeitliche Ablauf, den er uns berichtet hat, nicht stimmen kann und dass das Spurenbild eindeutig darauf hinweist, dass mit dem Leichnam von Frau Henkes mehr geschehen sein muss, als nur ein vergeblicher Versuch sie aufzuwecken. Aber er ist bei seiner Geschichte geblieben.“
Esther Marquart berichtete weiter, dass die Polizisten parallel zu seiner Befragung Jan Liebigs Wohnung durchsucht und dabei einen Satz blutiger Männerkleidung gefunden hatten, zusammengeknüllt und in eine Plastiktüte gestopft. Hiermit konfrontiert hatte Jan Liebig aber nur angefangen, wild herumzuschreien und sich schlussendlich geweigert auch nur ein einziges weiteres Wort mit den Beamten zu sprechen.
„Damit war das Verhör beendet, nach über acht Stunden um 0:20 Uhr. Mein Chef hat den Liebig festgenommen, und heute Morgen hat er sein Schweigen gebrochen, um uns mitzuteilen, dass er mit Ihnen sprechen will.“
„Wenn ich Sie also richtig verstehe, heißt das, die Aussage, die dieser Liebig gemacht hat, kann so nicht stimmen?“
„Nein … doch … das ist ja im Moment das Problem. In unseren Augen ist seine Aussage vollkommen unglaubwürdig und unrealistisch. Aber wenn man es genau nimmt, können wir auch nicht zu 100% ausschließen, dass er die Wahrheit sagt. Rein theoretisch wäre es schon möglich, dass jemand anderes Anna aus dem Fenster gestoßen und wieder hoch getragen hat, und dass dann nach dem Liebig jemand in Annas Wohnung war und sie aufgebahrt hat. Das würde dann eben bedeuten, dass die Nachbarin sich geirrt hat, entweder in der Zeit oder in der Person“, knurrte die Marquart unzufrieden.
„Und dass er Anna gestoßen hat, nur um sie danach wieder hochzutragen und aufzubahren ist nicht unrealistisch?“, fragte Sunny vorsichtig.
„Nein, eigentlich gar nicht. Dieses Verhalten stellt so etwas wie eine Wiedergutmachung dar, den Versuch, die Tötung emotional zurückzunehmen. Man nennt das Undoing. So etwas sieht man immer wieder. Gerade wenn Täter und Opfer sich gut gekannt haben, kann es sein, dass der Täter im Nachhinein Schuldgefühle bekommt und seine Tat bereut. Er deckt dann zum Beispiel die Verletzungen des Opfers ab oder faltet dessen Hände. Sein Ziel ist es, so ein friedliches Bild zu schaffen.“
„Und die DNA, die Sie gefunden haben, von der Sie aber noch nicht wissen, wem sie gehört, die ist doch in dem Fall sicherlich sehr wichtig? Ich meine, wenn man weiß, von wem die stammt, weiß man dann nicht auch, wer dieses Undoing mit Anna veranstaltet hat und sie somit auch höchstwahrscheinlich umgebracht hat?“
„So sieht‘s aus. Das ist auch der Grund, warum mein Chef so sehr darauf bedacht war, den Liebig erst montags festzunehmen. So bekommt er nämlich noch vor der ersten Haftprüfung das Ergebnis der DNA-Analyse. Wenn das dann zeigt, dass wir es mit Liebigs DNA zu tun haben, wird es natürlich eng für den Kerl. Wenn es aber nicht seine DNA ist, werden wir ihn wohl laufen lassen müssen. Außer natürlich, er würde heute ein Geständnis vor Ihnen ablegen. Dann wären die Karten allerdings trotz allem völlig neu gemischt, denn es stünde ja immer noch die Frage im Raum, wer der oder die unbekannte Dritte ist.“
„Was ich bei all dem überhaupt nicht verstehe ist, hat der Kerl denn keinen Anwalt, der ihn davor bewahrt sich um Kopf und Kragen zu reden? Ich dachte immer, jeder Verdächtige hätte das Recht auf einen Anwalt?“
Esther Marquart schmunzelte.
„Sicher hat er das Recht auf einen Anwalt, aber Sie wären überrascht, wie viele Leute auf diese Unterstützung verzichten. Das Witzige dabei ist, dass es oft die Schuldigen sind, die dieses Angebot ausschlagen. Die glauben dann, sie würden sich verdächtig machen, wenn sie einen Anwalt wollen und ihr Verzicht wäre ein Beweis für ihr reines Gewissen.“
„Das würde dann also im Umkehrschluss bedeuten, dass die Tatsache, dass er auf einen Anwalt verzichtet hat, den Liebig nur umso verdächtiger macht?“
Esther Marquart nickte zwar, zuckte aber gleichzeitig mit den Schultern, was Sunny stutzig machte.
„Was ist los?“, fragte sie die andere daher geradeheraus.
„Der Liebig ist ein ätzender Typ, unverschämt, aggressiv. Am meisten ärgert mich an ihm, dass er sich tatsächlich einbildet, er könnte uns für dumm verkaufen. Alles in allem ist er einer, den dranzukriegen auf jeden Fall Spaß machen würde. Aber so wenig ich ihn auch leiden kann, ich glaube ihm, dass er sie nicht gestoßen hat. Nicht, dass ich es ihm nicht zutrauen würde. Um Himmels Willen, ich traue jedem alles zu. Aber ich habe ihm einfach geglaubt, als er uns das so entgegen gebrüllt hat. Ich fand ihn da einfach“, sie stockte kurz und suchte nach den richtigen Worten, „sehr authentisch. Blöd, was?“
„Nein, das finde ich jetzt gar nicht.“
„Ich habe versucht, das mit meinem Chef zu besprechen. Der hat mich fast ausgelacht.“
„Aber was glauben Sie denn dann?“
„Ich glaube, dass der KSC bald wieder in der ersten Liga spielt.“ Esther Marquart grinste. „Ganz ehrlich? Im Moment möchte ich lieber noch gar nichts glauben. Denn trotz meines Bauchgefühls muss ich natürlich zugeben, dass der Liebig sich nicht wie jemand verhält, der unschuldig ist. Damit meine ich nicht nur, dass er uns angelogen hat, und seine Geschichte dünn ist. Es sind auch die kleinen Dinge. Zum Beispiel hat er nur sehr wenige Fragen gestellt. Sehen Sie, ein Unschuldiger stellt in der Regel recht viele Fragen, weil er ja eben keine Ahnung hat, was passiert ist und er unter Umständen sogar vollkommen von uns überrascht wird. Er fragt nach, wenn wir vage Andeutungen machen, oder er will wissen, warum er von einem Streifenwagen abgeholt und nicht telefonisch auf das Revier bestellt wird.“
„Oh!“ Sunny runzelte die Stirn.
„Und warum werde ich von Ihnen persönlich abgeholt?“
Die Polizistin grinste erneut.
„Weil wir Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten wie irgend möglich bereiten wollten, weil es so am schnellsten geht, denn ich kann Sie während der Fahrt über die wichtigsten Dinge in Kenntnis setzen, und weil ich ohne Sie ohnehin nicht hätte weiterarbeiten können.“
„Und warum soll er es getan haben?“, fragte Sunny nun abrupt. „Sie sprachen vorhin von einem Motiv.“
„Eifersucht. Einige Personen aus Anna Henkes‘ Umfeld haben berichtet, er habe regelrecht versucht sie zu kontrollieren, und es sei wegen seiner Eifersucht immer wieder zum Streit gekommen. Scheinbar war er sogar schon eifersüchtig, wenn sie sich für seinen Geschmack zu oft mit ihren Freundinnen traf, oder wenn sie mal allein shoppen war. Anna Henkes war nicht unbedingt der Typ Frau, der sich gerne Vorschriften machen ließ. Es muss bei den beiden regelmäßig gekracht haben.“
Sunny konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken. Wenn er wirklich versucht hatte Anna vorzuschreiben, mit wem sie sich wie oft treffen durfte, hatte es bei den beiden mit Sicherheit gekracht. Allerdings verstand sie beim besten Willen nicht, warum Anna überhaupt mit jemandem wie diesem Jan Liebig zusammen gewesen war.
Aber gut, das ist ja nun auch nicht das erste Mal.