Читать книгу Immer wenn es regnet - Jessica Braun - Страница 14
Sonntag, 08. Mai 2016, 17:00 Uhr Kripo Karlsruhe, Hertzstraße
ОглавлениеSunny hatte Glück gehabt und auf Anhieb einen Parkplatz gefunden, sodass sie das Polizeigebäude in der Hertzstraße pünktlich betreten und an die Tür klopfen konnte, neben der das Schild mit Esther Marquarts Namen und Dienstgrad angebracht war. Die Polizistin öffnete ihr prompt, bat sie aber noch einen Moment auf dem Gang Platz zu nehmen. Da sie sich das Büro mit zwei ihrer Kollegen teilte, mussten sie sich in einem anderen Raum unterhalten. Hier hatten sie weder den Platz noch die nötige Ruhe.
Als Sunny vom Laufen nach Hause gekommen war, hatte Bianca sie in der Küche mit einem zweiten Frühstück erwartet. Ihre Schwester hatte ihr sofort angesehen, dass etwas Schlimmes vorgefallen war und ihr einen fragenden Blick zugeworfen. Allein das hatte ausgereicht, um Sunny auf der Stelle in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie hatte Bianca schluchzend berichtet, was vorgefallen war. Die beiden hatten dann den restlichen Tag miteinander verbracht. Sie hatten geredet und Kaffee getrunken, bis es für Sunny schließlich an der Zeit gewesen war, aufzubrechen. Biancas Angebot sie zu begleiten, hatte Sunny dankend abgelehnt. Aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig gewesen, allein nach Karlsruhe zu fahren, vielleicht, um ihre Gedanken noch ein wenig zu sortieren, vielleicht aber auch um sich zu beweisen, dass sie das allein konnte. Sie wusste es selbst nicht genau.
Fee hatte von all dem zum Glück nichts mitbekommen, denn ihre Mutter hatte ihren Ausflug mit dem Kind kurzerhand bis in die Abendstunden verlängert. Bei dem Gedanken an ihre Mutter musste Sunny unwillkürlich lächeln. Maria Decker war für ihre Töchter von jeher der sprichwörtliche Fels in der Brandung gewesen. Als Sunny im vergangenen Jahr von Svens Affäre erfahren und sich Hals über Kopf von ihm getrennt hatte, war es daher überhaupt keine Frage gewesen, dass sie mit Fee in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte.
Sunny wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Esther Marquart die Tür neben ihr aufriss und schwungvoll auf den Flur hinaustrat. Die Frau war wirklich erstaunlich. Sie strahlte eine Energie aus, die Sunny richtiggehend neidisch machte. Jetzt nickte sie ihr lächelnd zu, und Sunny folgte ihr den Gang entlang und ein Stockwerk nach oben in einen Konferenzraum von circa 30 qm Größe, in dessen Mitte mehrere Tische zu einer großen Arbeitsfläche zusammengeschoben worden waren. An der Wand gegenüber der Fensterfront hingen vier große Whiteboards. Außerdem gab es zwei Flipcharts, einen Beamer und einen alten Overheadprojektor.
Wie an der Uni oder wie an der Schule oder wie überall.
Auf den Tischen lagen bereits mehrere Aktenordner. In diesem Moment klopfte es kurz an der Tür und jemand, dessen Gesicht Sunny nicht erkennen konnte, reichte Annas Schachtel herein. Die Marquart, die nun viel weniger unsicher wirkte als am Vormittag, bat Sunny freundlich, sich zu setzen und versorgte sie mit Kaffee.
„Wir haben unsere eigene Maschine. Den von unten kann man nämlich nicht trinken“, bemerkte sie trocken. Wieder musste Sunny beinahe erstaunt feststellen, dass die Marquart ihr tatsächlich sympathisch war.
„Frau Decker“, begann diese nun abrupt, „ich muss Sie bitten, mir zu gestatten, Ihren Bericht auf Tonband aufzuzeichnen, denn ich brauche das für die Akte.“
Sunny nickte, und die Marquart startete ein Aufnahmegerät, dessen Existenz Sunny bislang entgangen war, obwohl es mitten auf dem Tisch stand.
„Okay, dann jetzt zum hochoffiziellen Teil.“ Die Polizistin lächelte wieder ihr gewinnendes Lächeln. „Frau Decker, Sie stehen nicht unter Verdacht, etwas mit Frau Henkes Tod zu tun zu haben. Das heißt also, dass ich Sie hier als Zeugin vernehme. Als Zeugin ist es Ihre Pflicht, wahrheitsgemäße Angaben zu machen und uns nichts zu verschweigen, sonst könnten Sie sich strafbar machen. Ich weise Sie aber ausdrücklich darauf hin, dass Sie weder sich selbst noch Angehörige belasten müssen und auf entsprechende Fragen die Aussage verweigern dürfen. Haben Sie das verstanden und sind Sie bereit, wahrheitsgemäß auszusagen?“
Die Marquart sah Sunny jetzt fest in die Augen und obwohl diese nicht wusste, was sie von den letzten Worten halten sollte, antwortete sie brav mit „Ja“.
Gesetz war Gesetz, das war das eine, aber die partnerschaftliche Atmosphäre, die eben noch geherrscht hatte, hatte sich augenblicklich in etwas anderes verwandelt.
Abwärtskommunikation.
Sunny merkte, dass sie bockig wurde.
„Ich weiß, das klingt alles nicht so richtig nett. Aber ich muss Sie an dieser Stelle als Zeugin belehren, sonst darf ich Ihre Aussage später nicht verwerten.“
Offenbar hatte die Marquart bemerkt, was in Sunny vorging, was diese augenblicklich wieder versöhnlich stimmte.
„Es ist Ihnen sicherlich klar, dass ich Ihnen nicht alle Informationen geben darf, die uns derzeit zur Verfügung stehen. Was ich aber sagen kann ist, dass wir immer noch nicht wissen, ob ein Verbrechen vorliegt, oder ob es sich bei Frau Henkes‘ Tod um einen Suizid handelt. Ein Unfall ist nach unserem derzeitigen Kenntnisstand zwar unwahrscheinlich, wir können diese Möglichkeit jedoch auch noch nicht mit Sicherheit ausschließen.“
Sie blickte kurz auf die Tischplatte und holte tief Luft, als müsse sie sich sammeln. „Auch die Obduktion hat uns hier keine eindeutige Antwort geliefert. Was wir wissen ist, dass Frau Henkes durch einen Sprung oder Sturz aus ihrem Wohnzimmerfenster ums Leben gekommen ist. Es handelt sich hierbei um ein knietiefes Erkerfenster. Für eine Selbsttötung spricht unter anderem, dass wir an Frau Henkes‘ Körper keine eindeutigen Abwehrverletzungen gefunden haben. Für ein Verbrechen spricht wiederum die Tatsache, dass es keinen Abschiedsbrief zu geben scheint. Da Frau Henkes dieses Medium oft und gerne genutzt hat, wiegt dieser Sachverhalt schwer. Außerdem, und das ist der eigentliche Knackpunkt, wurde ihr Leichnam, wie Sie wissen, in ihrer Wohnung gefunden. Das heißt also, dass jemand ihn dorthin gebracht haben muss. Nach dem Sturz, Sie verstehen? Selbstverständlich gehen wir derzeit noch etlichen Hinweisen nach. Zum Beispiel ist die Befragung der Nachbarschaft noch nicht ganz abgeschlossen und wir sprechen natürlich auch mit allen anderen Freunden und Bekannten und der Familie von Frau Henkes. Worum ich Sie nun bitte, ist mir zu helfen, eine Vorstellung von der Persönlichkeit der Toten zu bekommen. Bitte berichten Sie mir von Frau Henkes. Erzählen Sie mir von Ihrer Freundin und zwar der Reihe nach und von Anfang an.“
Sunny nickte beinahe automatisch, denn sie glaubte inzwischen wirklich, dass die Marquart eine gute Polizistin war und wusste, welches das beste Vorgehen war. Ganz offensichtlich wollte sie sich Anna langsam annähern um verstehen zu können, was vorgefallen war. Sunny hatte nicht gewusst, dass ihre Berufe sich in diesem Punkt so sehr ähnelten. Beiden ging es darum, eine Beziehung zu einem Menschen aufzunehmen, um ihn zu verstehen, und in diesem speziellen Fall, bei Anna, war es Sunny ein Herzenswunsch zu verstehen. Sie und die Polizistin spielten also definitiv im selben Team.
„Ich lernte Anna in der fünften Klasse kennen“, begann sie daher ihren Bericht, und ihr Blick wanderte zunächst zum Fenster und dann an einen Punkt weit außerhalb des Raumes.