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Kapitel 1

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Jonas

Der Mann tat es schon wieder. Es war das vierte Mal innerhalb der letzten anderthalb Stunden. Jonas wusste das so genau, weil sein Bad direkt unter dem seines Nachbarn lag und dieses Haus verdammt hellhörig war.

»Meine Güte«, murmelte er, denn es klang schrecklich gequält. Als es im nächsten Moment laut schepperte, war Jonas schneller im Hausflur und drückte auf den Klingelknopf seines Nachbarn, als er darüber nachdenken konnte, was er da überhaupt tat.

»Herr Zając?«, rief er durch die Tür, wobei er sich nicht sicher war, ob er den Namen richtig aussprach, und klopfte laut. Als sich drinnen nichts regte, klingelte er erneut und ließ den Finger diesmal länger auf dem Knopf.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und sein Nachbar stand vor ihm. Er sah furchtbar aus. Sie waren einander bisher nur gelegentlich im Hausflur begegnet, aber da war er stets ordentlich frisiert gewesen, hatte Jeans und T-Shirt getragen und nett gelächelt. Im Moment jedoch war von all dem nichts zu sehen, denn seine Haare waren zerzaust und glänzten fettig und unter dem schmuddeligen Bademantel trug er augenscheinlich Schlafzeug. »Was?«

»Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte mich nur vergewissern, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist«, begann Jonas und versuchte, den muffigen Geruch zu ignorieren, der aus der Wohnung kam. »Ich konnte Sie im Bad hören und auch das laute Scheppern.«

Schwerfällig sackte sein Nachbar gegen die Flurwand und lehnte die Stirn an die Tapete. »War nur 'n Glas«, brummte er und Jonas fiel auf, wie blass der Mann war.

»Sind Sie krank?«

Herr Zając drehte langsam den Kopf, sodass er ihn ansehen konnte, und rang sich ein müdes Lächeln ab. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er sah echt elend aus. »So krank wie noch nie in meinem Leben.«

»Kann ich irgendwas tun? Brauchen Sie Medizin?«, bot Jonas an.

Sein Nachbar schüttelte den Kopf und zog wenig elegant die Nase hoch. »Ich sterb hier einfach vor mich hin.«

Da er das ganz sicher nicht ernst meinte, schmunzelte Jonas. »Darf ich reinkommen?« Auf ein schwerfälliges Nicken hin, wagte er sich in die fremde Wohnung, denn sie konnten nicht länger an der offenen Tür rumstehen. Außerdem hatte er wirklich Bedenken, dass sein Nachbar umkippte, so schwach wie er auf den Beinen war, und allein könnte er den muskulösen Mann nicht wieder aufrichten, daher bedeutete er ihm, von der Tür wegzugehen, damit er sie hinter sich schließen konnte. »So schnell stirbt es sich nicht.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, murmelte Herr Zając und schleppte sich vor ihm her den Flur entlang und ins Schlafzimmer.

Auf dem Weg dorthin warf Jonas einen Blick ins Bad, dessen Fußboden von Scherben übersät war. »Ich bin Zahnarzt«, meinte er schulterzuckend, als sein Nachbar endlich auf dem Bett saß. »Mir erzählen die Menschen regelmäßig, dass sie vor Angst oder Schmerzen sterben, aber dann verlassen sie die Praxis doch aus eigener Kraft und auf zwei Beinen.«

Hier musste dringend gelüftet werden, daher ging er zum Fenster und nachdem er es geöffnet hatte, sah er sich genauer um. Auf dem Fußboden herrschte ein ziemliches Klamottenchaos und dem Berg benutzter Taschentücher neben dem Bett nach zu urteilen, war sein Nachbar im Moment nicht in der Lage, für Ordnung und Hygiene zu sorgen.

»Zahnarzt? Sadist, also?«

Lachend schüttelte Jonas den Kopf, denn Herr Zając hätte nicht weiter danebenliegen können. »Nicht wirklich. Ich mag es lieber, Leute von ihren Schmerzen zu befreien oder davor zu bewahren, als ihnen welche zuzufügen.«

Sein Nachbar murmelte etwas vor sich hin, während er sich unter seiner Decke verkroch, obwohl es Ende August und somit warm war.

»Waren Sie schon beim Arzt?«

»Gestern«, bekam er leise zur Antwort, bevor ein Seufzen ertönte, gefolgt von einem offensichtlichen Fluchen, dessen Übersetzung er jedoch nicht kannte. Vermutlich war sein Nachbar Russe oder Pole, denn obwohl er fließend Deutsch sprach, hatte er einen leichten Akzent. Leider beherrschte Jonas keine der osteuropäischen Sprachen. Trotzdem war es bestimmt kein nettes Wort gewesen.

»Wie bitte?«

Herr Zając seufzte erneut und schlug die Decke zurück. »Ich muss meiner Chefin den Krankenschein noch schicken.«

»Bleiben Sie liegen!«, bat Jonas eilig. »Wenn Sie mir die Adresse geben, stecke ich den Zettel in einen Umschlag und werfe ihn in den Briefkasten. Ist ja gleich unten an der Ecke.«

»Ich hab keine Briefmarke hier.«

»Ich kann ihn auch am Montag mit in die Praxispost geben«, entgegnete er, denn er war sich sicher, dass sein Nachbar weder jetzt noch in zwei Tagen in der Lage wäre, selbst zur Post zu laufen.

Der Mann musterte ihn einen Moment, doch es fiel ihm sichtlich schwer, die Augen offen zu halten. Sie wirkten glasig und die Wangen waren nun gerötet, wohingegen der Rest seines Gesichts weiterhin blass und eingefallen wirkte. Vermutlich hatte er Fieber und sicherlich auch zu wenig getrunken.

»Ich werde Ihnen etwas zu trinken bringen, ja?«, bot Jonas an, als Herr Zając sich wieder hinlegte und damit kämpfte, wach zu bleiben. »Sie sehen wirklich nicht gut aus.«

»Vielen Dank auch«, kam es matt zurück, aber es schwang ein Lachen mit.

Schmunzelnd verließ Jonas das Schlafzimmer und ging in die Küche, die jeder Apotheke hätte Konkurrenz machen können. Zwischen diversen Erkältungsmitteln lag der gelbe AU-Schein und Jonas konnte sich nicht davon abhalten, einen Blick darauf zu werfen. Sein Nachbar hieß mit Vornamen Marek, war erst zweiunddreißig – also elf Jahre jünger als Jonas – und für die nächsten zehn Tage krankgeschrieben. Ihm fiel auf, dass sein Hausarzt im gleichen Ärztehaus praktizierte, in dem Jonas seine Praxis hatte, was aber wohl nicht verwunderlich war, da es die einzige Allgemeinarztpraxis in diesem Viertel war.

»Herr Nachbar? Sind Sie noch da?«

»Ja!«, rief Jonas zurück, nahm ein Glas von der Ablage, um es an der Spüle zu füllen, und trug es ins Schlafzimmer. »Hier, bitte. Sie haben sich ziemlich oft übergeben, da sollten Sie viel trinken.«

»Haben Sie mich gehört?« Herr Zając wirkte eindeutig unbehaglich, während er ihm das Glas abnahm.

Jonas zuckte nur mit den Schultern, denn es musste seinem Nachbarn nun wirklich nicht peinlich sein. »Das Haus ist ziemlich hellhörig.«

»Können Sie das Fenster wieder zumachen?«

Jonas eilte zum Fenster und nachdem er es geschlossen hatte, zog er den Vorhang zu. »Soll ich Ihnen eines der Medikamente bringen, die Sie in der Küche horten? Ein Schmerz- und Fieber-mittel vielleicht?«

»Das zögert das Unvermeidbare nur hinaus«, murmelte sein Nachbar und schenkte ihm ein müdes Lächeln, während er die Decke bis zum Kinn hochzog. »Es geht schon ohne. Danke für Ihre Sorge, aber ich werd's überleben. Der Arzt meint, es ist die Grippe, also halten Sie sich lieber nicht länger als nötig in meiner Gegenwart auf.«

Jonas musste schmunzeln. »Okay, wenn Sie meinen. Aber ich werde Ihr Badezimmer fegen, da liegt überall Glas. Ich bin geimpft, also werde ich mich nicht gleich anstecken.«

»Stimmt, das Glas wollte ich noch zusammenkehren.« Das auf diese Worte folgende resignierte Seufzen artete in einen Hustenanfall aus, den Jonas besorgt beobachtete. Schließlich beruhigte sich sein Nachbar und ließ sich völlig fertig ins Kissen sinken.

Als Jonas sich sicher war, dass Herr Zając nicht erstickt, sondern lediglich weggenickt war, machte er sich auf die Suche nach Besen und Kehrblech.

Unbändig berührt

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