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Kapitel 3
ОглавлениеJonas
Nachdem er den Suppentopf sowie den Brötchenkorb in die Küche seines Nachbarn balanciert hatte, sah er durch die angrenzende Tür zur Couch. »Darf ich Teller von Ihnen nehmen?«
»Im Schrank neben dem Herd«, krächzte Herr Zając. Seine Stimme klang wie ein Reibeisen und er sah immer noch elend aus. »Besteck ist in der Schublade darüber.«
»Alles klar.«
Die Suppe war noch lauwarm, daher brauchte sie nur ein paar Minuten auf dem Herd. »So. Ich hoffe, Sie mögen Hühnersuppe.« Mit einem abwartenden Lächeln stellte Jonas wenig später einen vollen Teller auf den Couchtisch und eilte in die Küche zurück, um sich ebenfalls etwas zu holen.
Als er schließlich sein Essen ins Wohnzimmer trug, blickte Herr Zając ihn dermaßen erwartungsvoll an, dass Jonas auffordernd auf den Teller deutete. Im gleichen Moment knurrte der Magen seines Nachbarn unüberhörbar.
»Das war deutlich«, bemerkte Jonas schmunzelnd.
Sein Nachbar wartete noch, bis er saß, und wünschte ihm guten Appetit, doch dann machte er sich über das Essen her. Sein Enthusiasmus räumte Jonas' Bedenken aus, dass die heiße Suppe im Hals brennen könnte, aber er hatte sie auch extra nicht zu stark gewürzt. Als er ihm ein Brötchen anbot, griff sein Nachbar ebenfalls beherzt zu. Er hoffte, dass sein Magen das Essen drin behalten konnte, aber etwas Warmes im Bauch half bestimmt bei der Genesung.
Außerdem fand Jonas es nett, mal nicht allein essen zu müssen. Auch wenn seinem Gegenüber wegen der heißen Suppe die Nase lief und er ständig schniefen musste. Als Jonas ihm eine Packung Taschentücher aus der Küche holte, nahm Herr Zając sie verlegen an.
»Danke. Das Essen ist wirklich lecker«, murmelte er, nachdem sie ein paar Minuten schweigend gegessen hatten. Sein Blick fiel auf den Brötchenkorb und er stutzte. »Sind die Brötchen etwa auch selbst gebacken?«
Jonas nickte. »War kein Problem. Ich koche und backe gern, aber für mich allein lohnt es sich nicht so richtig. Und meine Tochter steht eher auf Pizza als auf gesunde Suppe.« Betont lässig zuckte er mit den Schultern und hoffte, dass sein Nachbar ihn dank der persönlichen Infos nicht mehr so argwöhnisch musterte, auch wenn er verstand, warum er ihn im Auge behielt. Immerhin hatte er sich schon zweimal quasi selbst eingeladen. Besser gesagt aufgedrängt. Eigentlich war das Fremden gegenüber überhaupt nicht seine Art und er konnte es sich nur mit seinem Medizinerherz erklären, das einen offensichtlich Leidenden nicht sich selbst überlassen konnte.
»Wie alt ist sie denn?«, wollte Herr Zając wissen.
»Sechzehn.« Er konnte ein leises Seufzen nicht verhindern, was seinen Nachbarn zum ersten Mal überhaupt die Mundwinkel heben ließ.
»Ein Teenager. Mein Beileid.«
Jonas musste lachen. »Danke. Ich habe Thea nur jedes zweite Wochenende bei mir, daher muss ich zugeben, dass ich sie mehr verwöhne, als ich sollte.«
»Verstehe.«
Er glaubte ihm kein Wort, denn Herr Zając hatte sicherlich keine Kinder. Zwar war Jonas nicht in den Raum gegangen, der direkt über Theas Zimmer lag, aber wenn sein Nachbar eine Familie hätte, würde er hier sicher nicht allein vor sich hin vegetieren.
»Solange sie gern bei Ihnen ist, können Sie an zwei Tagen nicht so viel falsch machen, oder?«
Er hatte definitiv keine Kinder. »Meine Ex würde Ihnen da wohl widersprechen.«
»Scheidung?«, wollte Herr Zając wissen und als Jonas nickte, verzog er das Gesicht. »Tut mir leid.«
»Eigentlich ist es schon okay«, sagte er abwinkend und mittlerweile meinte er das auch so. Er hatte ein paar Wochen gebraucht, um sich an den neuen Alltag zu gewöhnen, aber so war es besser. Auf jeden Fall besser, als eine Ehe zu führen, die keinen mehr glücklich machte. »Zwar ist es ungewohnt, allein zu wohnen. Außer, wenn Thea da ist, natürlich. Aber die Scheidung kam nicht wirklich überraschend. Wir haben uns einvernehmlich getrennt.«
»Deswegen der Umzug hierher?«
»Ja, genau. Anja behält das Haus, weil wir Thea nicht komplett aus ihrer gewohnten Umgebung reißen wollten, und ich habe einen kürzeren Arbeitsweg.« Er zuckte mit den Schultern. Es war eine logische Entscheidung, auch wenn er das Haus hin und wieder vermisste und die Wohnung ihn einengte. Dafür hatte er hier im Mietshaus seine Nachbarn sehr viel schneller kennengelernt als in der Vorstadt, wo kaum einer mal über seinen Gartenzaun guckte und wenn, dann höchstens, um über anderer Leute seltsamen Lebensstil zu lästern. Dabei fiel ihm etwas ein. »Ich hoffe, ich habe Ihren Nachnamen heute Mittag richtig ausgesprochen. Falls nicht, tut mir das sehr leid.«
»Hm... Ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, meinte sein Nachbar und zog die Augenbrauen zusammen. Er musterte ihn ziemlich intensiv und Jonas spürte, dass er rot wurde, daher richtete er seinen Blick auf den Teller. »Wie haben Sie ihn denn ausgesprochen?«
»Oh nein«, entgegnete Jonas mit einem peinlich berührten Lachen. »Darauf lasse ich mich gar nicht erst ein. Immerhin kann ich dabei nur danebenliegen.«
Sein Nachbar grinste. »Okay, das stimmt wohl.« Er hatte ein schönes Lächeln und die kleinen Fältchen um seine Augen zeigten, dass er es oft tat. »Mein Nachname wird Sajontz ausgesprochen. Mit stimmhaftem S.«
»Ist das Russisch?«, fragte Jonas und hoffte, nicht zu neugierig zu wirken.
»Polnisch. Wir können uns aber gern duzen.«
Er nickte sofort, denn er war sich nicht sicher, ob er die Aussprache des Nachnamens richtig hinkriegen würde. »Sehr gern. Ich bin Jonas.«
»Marek«, sagte sein Nachbar und deutete auf die leeren Teller. »Vielen Dank fürs Essen. Es war großartig.«
»War wirklich nicht der Rede wert«, versicherte Jonas ehrlich. Marek sah schon wieder ziemlich müde aus, aber so krank, wie er war, brauchte er auch viel Ruhe. »Okay, dann lasse ich dich mal wieder allein. Darf ich was von der restlichen Suppe hierlassen? Sonst muss ich noch drei Tage davon essen.«
Marek lächelte. »Da sage ich nicht Nein.«
Zufrieden sammelte Jonas ihre Teller ein und brachte sie in die Küche. Zum Glück hatte sein Nachbar einen Geschirrspüler. Einen Topf fand er auch schnell und füllte Marek ein paar Kellen ab. Die Brötchen ließ Jonas ihm auch da, denn er konnte sich ja jederzeit neue backen.
»Wenn ich wieder fit genug bin, revanchiere ich mich.«
Er sah über seine Schulter zu Marek, der am Türrahmen lehnte und kaum noch die Augen aufhalten konnte. »Ist doch keine große Sache. Ich hätte nicht ruhig schlafen können, ohne zu wissen, ob du in Ordnung bist.«
»Du kennst mich doch gar nicht.«
Er zuckte mit den Schultern, denn er hätte für so ziemlich jeden anderen das Gleiche getan. Ganz der verweichlichte Samariter, der er laut seiner Ex schon immer war und immer sein würde. Früher hatte sie es zuvorkommend genannt und vor ihren Freundinnen damit geprahlt, wie aufmerksam er war. Achtzehn Jahre später störte es sie plötzlich so sehr, dass sie es nicht mehr ertrug, mit einem übersensiblen Klammeraffen verheiratet zu sein, sondern ihre Freiheit brauchte.
»Hey, alles klar?«
Jonas zuckte zusammen, denn er hatte nicht erwartet, dass sein Nachbar ihn so genau beobachten würde, und angesichts des besorgten und dennoch irgendwie unnachgiebigen Tonfalls musste er schlucken. »Ja. Sicher.« Er rang sich ein Lächeln ab und griff nach den Topfhenkeln, um sich irgendwo festzuhalten. »Ruh dich gut aus. Ich hatte dir meine Handynummer aufgeschrieben. Ruf gern an, wenn ich noch irgendwas für dich tun kann. Was vom Einkaufen mitbringen oder Nachschub aus der Apotheke holen.«
»Mein bester Freund kommt morgen vorbei, aber danke.«
»Okay. Na, mein Angebot steht. Falls deinem Freund was dazwischenkommt.« Er war sich nicht sicher, warum er gerade irritiert war, denn es sollte ihn eigentlich beruhigen, dass Marek schließlich doch jemanden hatte, der sich um ihn kümmern konnte.
Sein Nachbar lächelte und das seltsame Gefühl in Jonas' Bauch war wie weggeblasen. Als Marek im nächsten Moment gähnte und den Kopf gegen den Türrahmen lehnte, schaltete er sofort.
»Dann mal ab ins Bett mit dir. Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«
»Ja«, seufzte er. »Aber ich glaub, ich wechsle auf die Couch rüber. Mir tut schon alles weh vom Liegen.«
»Gute Idee. Viel trinken, nicht vergessen«, empfahl Jonas, bevor ihm einfiel, dass er wohl wieder zu aufdringlich war. Marek war erwachsen und brauchte keinen überfürsorglichen Nachbarn mit Helfersyndrom, der sich ständig selbst einlud und dann auch noch ungefragt Ratschläge erteilte. »Okay, ich bin dann mal weg.«
»Danke für deine Hilfe, Jonas.« In Mareks Stimme schwang ehrliche Dankbarkeit mit, die Jonas das Gefühl gab, vielleicht doch nicht ganz so unwillkommen zu sein.
»Gern geschehen.« Er ging lieber, solange sein Nachbar noch einen positiven Eindruck von ihm hatte. »Gute Besserung noch.«
»Danke schön. Die Suppe hilft garantiert dabei.«
Jonas erwiderte Mareks aufrichtiges Lächeln. »Wir sehen uns.«
Sein Nachbar hielt die Wohnungstür auf und nickte ihm noch mal freundlich zu, als Jonas im Hausflur stand. »Bis dann.«
»Bis bald.«
Als er in seine Wohnung kam, war es wie so oft viel zu still, aber heute fühlte es sich nicht so beklemmend an, allein zu sein, sondern mehr nach... Freiheit.
Anja und er waren ein tolles Team gewesen – zumindest bis sie es nicht mehr gewesen waren. Sie hatten gut zueinander gepasst und zusammen eine wundervolle Tochter großgezogen, aber irgendwann hatten sie sich wohl in der Routine des Alltags verloren. Sie hatten die Wünsche und Harmonie als Familie zu lange über ihre individuellen Bedürfnisse gestellt und waren zwangsläufig enttäuscht worden. Daraus konnte er Anja genauso wenig einen Vorwurf machen wie sie ihm. Sie hatte es nur eher erkannt als er und den Mut gehabt, die Konsequenzen zu ziehen.
Aber so langsam fing Jonas an, wieder zu spüren, wer er war. Was er brauchte und was ihn glücklich machte. Früher hatte er es gewusst und gedacht, es von Anja zu bekommen. Nur hatte er es ihr nicht gesagt, daher hatte wiederum sie es nicht gewusst und es ihm auch nicht geben können. Obwohl er sich nicht sicher war, ob sie eine solche Beziehung gewollt hätte.
Dennoch bereute er die Ehe nicht. Sie hatten so viele schöne Jahre zusammen gehabt und natürlich hatten sie Thea. Seine Tochter war sein Ein und Alles und kam für ihn an absolut erster Stelle, auch wenn sie in ein paar Jahren selbst erwachsen sein würde.
Vermutlich war genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um ab und an ein wenig egoistisch zu sein und sich selbst wiederzufinden.