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Kapitel 5
ОглавлениеJonas
Er liebte seine Tochter und mochte ihre Freundinnen, aber Teenager waren verdammt anstrengend. Vor einer Stunde hatten sie zu dritt das Wohnzimmer in Beschlag genommen, um die Präsentation für ihre Gruppenarbeit zu basteln. Statt sie am Computer zu erstellen, wie Jonas vorgeschlagen hatte – immerhin hingen sie sonst auch ständig an den Handys oder chatteten an ihren Laptops –, wollten sie lieber eine altmodische Präsentation mit einem Plakat und Anschauungsmaterial. Was sie noch nicht hatten, aber zumindest ein Stück Seife war ja schnell besorgt.
Offenbar war ihnen jedoch nicht klar gewesen, dass man zur Plakaterstellung mindestens Schere, Kleber und Papier, im Idealfall noch Texte und Bilder zum Präsentationsthema brauchte. Daher verbrachten sie eine gefühlte Ewigkeit damit, das Material zusammenzusuchen, was Jonas kopfschüttelnd und ungeduldig beobachtete. Er hasste es, untätig rumzusitzen, aber solange die Mädels noch zum Inhalt ihres Vortrags recherchierten, blieb ihm nichts anderes übrig.
Mit dem Biologiebuch und einer Liste mit Seitenzahlen fuhr er schließlich noch mal in seine Praxis und kopierte gefühlt das halbe Buch. Er hatte keine Ahnung, ob er sich damit strafbar machte, aber seine Mitarbeiterinnen waren schon gegangen und die Ruhe war gerade sehr angenehm.
Als er sich auf den Heimweg machte, kam er im Treppenhaus an der Praxis von Mareks Hausarzt vorbei und warf unweigerlich einen Blick auf die Tür. Es wäre natürlich ein zu großer Zufall gewesen, aber er hatte seit anderthalb Wochen lediglich Schritte und das Plärren des Fernsehers von oben gehört, seinen Nachbarn aber nicht getroffen. Marek bewegte sich allerdings wieder mehr, daher brauchte er sicher keine Hilfe und Jonas wollte sich auch nicht aufdrängen, nur weil es ihn auf seltsame Weise in die fremde Wohnung zog.
Er wusste nicht mal, wieso der Mann ihn dermaßen faszinierte und er immerzu an ihn denken musste, schließlich hatte Jonas ihn nicht gerade in seinem besten Zustand kennengelernt. Aber vielleicht war es genau das, was ihn noch umtrieb. Sicher wäre seine Neugierde befriedigt, wenn er ein paar Worte mit Marek gewechselt hatte, ohne dass der dabei drei Taschentücher vollschnodderte.
Auch wenn Jonas nur wenige gute Freunde hatte – wovon die meisten, um nicht zu sagen alle, im Moment zu Anja hielten, weil sie offenbar der bescheuerten Ansicht waren, dass man nur noch mit einem von ihnen befreundet sein konnte –, lernte er gern neue Leute kennen. An seinem Arbeitsplatz kam es leider meist nur zu eher einseitigen Unterhaltungen, denn mit offenem Mund sprach es sich so schlecht.
Als er die Haustür hinter sich schloss und die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, ertönte Theas Stimme: »Soll ich ihm sagen, dass Sie hier waren?«
»Schon gut. Ich schreibe ihm einfach.«
»Okay. Sagen Sie mir trotzdem, wer Sie sind? Mein Vater wird das wissen wollen.«
Jonas war die Treppe hochgeeilt, bevor Marek antworten konnte. »Hey!«
Sein Nachbar drehte sich zu ihm um und lächelte. »Hallo.« Er sah schon viel besser aus, nicht mehr so verrotzt, und seine Augen strahlten viel mehr. Außerdem umgab ihn eine ganz andere Aura. Ohne Fieberwangen und schmuddeligen Bademantel strahlte Marek Autorität aus.
»Oh, gut. Hast du die Kopien?«
Theas Frage unterbrach ihren Blickkontakt. Jonas händigte ihr die Zettel samt ihrem Biobuch aus und als sie ins Wohnzimmer verschwunden war, bedeutete er Marek, ihm in die Küche zu folgen.
»Darf ich dir was anbieten?«
»Ich wollte mich für deine Hilfe bedanken.«
»Oh, das hast du doch schon«, entgegnete Jonas, als Marek ihm eine Flasche reichte, in der Wein, Met oder auch einfach nur Apfelsaft hätte sein können, denn er verstand die Worte auf dem Etikett nicht. »Danke schön.«
Marek blickte über seine Schulter, doch was auch immer er hatte sagen wollen, verkniff er sich und sah sich stattdessen neugierig um. Ihre Wohnungen waren identisch geschnitten, nur dass Jonas eine offene Küche hatte und bei Marek eine Wand eingezogen worden war.
»Was treiben die drei da?«
Er folgte Mareks Blick zum Esstisch im Wohnzimmer. »Sie basteln ein Plakat für die Schule.«
»Scheiße, der Kleber hält nicht. Wie alt ist der denn?«, wollte Maria prompt wissen.
Thea zuckte mit den Schultern und drehte sich zu Jonas um. »Hast du noch Kleber?«
»Ich schaue gleich mal.«
»Kannst du jetzt nachsehen?«
Da er wusste, dass sie das Plakat am nächsten Tag brauchten, sah er Marek entschuldigend an. »Tut mir leid, ich mache uns gleich Kaffee, ja?«
Lächelnd nickte dieser und folgte ihm ins Wohnzimmer. Die Mädels berieten energisch, fast schon hysterisch, wo sie Text und Bilder platzieren sollten, während Jonas zum Schrank ging und in der Schublade wühlte, aber außer Briefumschlägen, Kulis und Büroklammern fand er nichts Brauchbares.
»Ist das ein Provisorium oder schon euer richtiges Plakat?«
Überrascht sah Jonas zum Tisch hinüber. Thea und ihre Freundinnen starrten Marek an, als hätte er sie gerade persönlich beleidigt, während dieser abschätzig die Collage aus sechs weißen Blättern betrachtete.
Thea fasste sich als Erste und stemmte auch gleich die Hände in die Hüften. »Was haben Sie gegen unser Plakat?«
»Es sieht unmöglich aus.« Ohne auf das empörte Keuchen der Teenager zu achten, deutete sein Nachbar auf das Papier. »Die Blätter sind krumm und schief zusammengeklebt und man sieht überall lose Ecken. Damit blamiert ihr euch doch, egal, was ihr noch drüberpappt.«
»Wir hatten nicht mehr genug Klebestreifen«, verteidigte Maria ihr... Werk.
Marek nickte verständnisvoll. »Ich habe Packpapier oben.« Er blickte zu Jonas rüber und schmunzelte. »Kleber auch.«
»Echt? Klasse!«
»Oh, das ist nicht nötig«, versicherte Jonas im gleichen Moment, doch Marek winkte nur ab.
»Ist kein Problem.« Mit diesen Worten verließ er das Wohnzimmer und kurz darauf wurde die Wohnungstür geöffnet.
Da er sie anscheinend offen ließ, ging Jonas in den Flur und musste schmunzeln, als sein Nachbar keine zwei Minuten später mit einer Rolle Packpapier zurückkam und grinsend zusätzlich zwei Klebestifte schwenkte.
»Du bist meine Rettung«, sagte er nun doch eher erleichtert, dass er nicht noch ins Schreibwarengeschäft musste.
»Nicht der Rede wert. Schon gar nicht so wertvoll wie Suppe zur Genesung.« Marek zwinkerte und für einen Moment verschlug es Jonas die Sprache, sodass er lediglich blinzeln konnte, während sein Nachbar an ihm vorbei ins Wohnzimmer ging. Hat der gerade... geflirtet?
»Perfekt!«, jubelten die Mädels, was ihn aus seiner Starre holte.
Eilig schloss er die Tür und folgte Marek.
»Wieso haben Sie so was parat? Sind Sie Künstler?«
»Künstler? Weil ich Packpapier und Kleber besitze?« Mareks Lachen war ansteckend, sodass Jonas unweigerlich lächelte, während er zu ihnen an den Tisch trat. »Nein, ich brauche das Papier, um die Pakete an meine Eltern einzuschlagen.«
»Aha.« Thea blickte ihn argwöhnisch an. »Wer sind Sie überhaupt?« Ihr Blick zuckte zu ihrem Vater. »Woher kennst du ihn?«
»Oh, tut mir leid, Schatz. Das ist Herr Zając.« Jonas sah unsicher zu Marek rüber, weil er seinen Namen sicherlich nicht richtig ausgesprochen hatte, woraufhin dieser grinste.
»So ähnlich.«
Mist. »Tut mir leid.«
Marek winkte ab und wandte sich wieder Thea und ihren Freundinnen zu. »Sagt einfach Marek.«
Sie musterte ihn irritiert, denn es kam nicht so oft vor, dass Erwachsene ihr kurz nach dem Kennenlernen erlaubten, sie beim Vornamen zu nennen. Ihre Freundinnen hingegen starrten Marek wenig verhohlen und viel zu verträumt an.
»Er wohnt in der Wohnung über uns«, erklärte Jonas, woraufhin Thea sich entspannte, nickte und sich dann daran machte, ein ausreichend großes Plakat von der Rolle zu schneiden. »Danke für das Material«, sagte Jonas an seinen Nachbarn gewandt. »Was bekommst du dafür?«
»Den versprochenen Kaffee«, antwortete er grinsend und Jonas musste erneut unweigerlich lachen.
Wenn das so weiterging, verwandelte er sich noch in einen ständig kichernden Teenie. Bevor er sich noch mehr blamieren konnte, ging er in die Küche und setzte Kaffee auf. Marek folgte ihm und beobachtete ihn, wobei er sich gegen den Schrank lehnte.
»Was ist das? Wein?«, fragte Jonas und deutete auf die Flasche, die sein Nachbar ihm mitgebracht hatte.
»Wodka. Polnischer Wodka. Der beste, den du kriegen kannst.«
Beeindruckt betrachtete er die Flasche, deren gewöhnliches Etikett offenbar täuschte. Er war nicht der größte Trinker, aber hin und wieder wusste er einen guten Tropfen zu schätzen. »Etwas für den besonderen Moment also. Danke schön.« Lächelnd sah er Marek an, der zufrieden nickte.
Während Jonas Kaffeetassen und Milch rausholte, wurden die Stimmen der Mädels lauter und er befürchtete, dass die Plakatklebeaktion heute noch in Streit ausarten würde.
Marek schien es auch mitzubekommen, denn er beugte sich vor und warf einen Blick zum Esstisch. »Sieht so aus, als würdest du den Wodka früher brauchen als erwartet, hm?«
Jonas musste lachen. »Kann durchaus so kommen.«
Sein Nachbar grinste. »Wieso ist sie denn hier? Hattest du nicht gesagt, sie kommt immer nur am Wochenende?«
»Jedes zweite, ja. Aber da sie den Vortrag zu dritt halten müssen und die anderen hier in der Innenstadt wohnen, wäre es heute Abend ziemlich spät geworden bis nach Unterbach raus. Deswegen hat sie gefragt, ob sie mit ihren Freundinnen herkommen und dann über Nacht bleiben kann. Ich hab mittwochs nur vormittags Sprechstunde, daher war es kein Problem.«
»Ah, verstehe.«
Der Kaffee war mittlerweile durchgelaufen, sodass Jonas ihn in Tassen füllte und auf Mareks deutete. »Milch oder Zucker?«
»Schwarz, bitte.«
Er reichte ihm eine Tasse, kippte Milch in seine eigene und überlegte, ob sie es sich antun sollten, sich ins Wohnzimmer zu setzen, oder ihren Kaffee lieber im Stehen tranken. Beides war nicht gerade prickelnd, aber in der Küche hatte er keine Sitzgelegenheit und das Schlafzimmer wäre wohl auch kein passender Ort.
»Papa?«
»Ja?« Erwartungsvoll drehte er sich zu Thea um, die tief durchatmete. »Braucht ihr noch was fürs Plakat?«
»Nein, aber wir werden uns bei der Aufteilung nicht einig. Kannst du mal gucken?«
»Oh, klar.« Er hatte keine Ahnung von Plakaten, aber er fühlte sich geehrt, dass sie es überhaupt in Erwägung zog, ihn zu fragen. Zusammen mit Marek folgte er ihr zum Tisch. »Wo liegt das Problem?«
Minutenlang ließ er sich sämtliche infrage kommenden Positionen für Text und Bilder zeigen, aber letztlich war es nur eine optische Entscheidung. Den fachlichen Teil hatten die Mädels gut gelöst.
Bevor er sich für eine der Möglichkeiten entscheiden musste, stellte Marek seine Tasse auf dem Tisch ab und verschob ein paar der Zettel. Seine Idee wirkte systematischer und damit übersichtlicher, daher sprach Jonas sich dafür aus, aber das war offenbar nicht das, was die Mädels sich vorgestellt hatten.
»Wir machen es doch lieber selbst«, beschloss seine Tochter, lächelte dabei aber wenigstens höflich.
Marek schien nicht böse zu sein, nahm kopfschüttelnd und sichtlich amüsiert seine Tasse und zuckte mit den Schultern, bevor sie sich aufs Sofa setzten.
»Bist du eigentlich wieder fit genug für die Arbeit?«, wollte Jonas wissen, auch wenn Marek völlig gesund wirkte.
»Ja, morgen geht es wieder los. Mir ging es am Montag schon wieder ganz gut, aber da ich in einer Kita arbeite, meinte der Arzt, ich soll sicherheitshalber bis heute zu Hause bleiben, um kein Kind anzustecken.«
Ziemlich überrascht sah Jonas zu ihm rüber. »Du bist Erzieher?«
»Oh, Gott bewahre, nein!«, entgegnete Marek sofort gespielt erschrocken, bevor er grinste. »Ich bin Haustechniker. Ich mag die Kleinen. Sie sind süß und freuen sich immer so drollig, wenn sie mir helfen dürfen, aber ich würde mich nicht den ganzen Tag um sie kümmern wollen.«
Jonas sah zu Thea und ihren Freundinnen rüber, die immer noch über die endgültige Gestaltung ihrer Präsentation diskutierten, und nickte. »Kann ich verstehen.«
Marek lachte leise, trank seinen Kaffee aus und stand auf. In der Hoffnung, dass er sich eine zweite Tasse holte, blickte Jonas ihm nach, aber sein Nachbar stellte die Tasse in die Spüle und kam zurück.
»Ich verabschiede mich dann mal«, verkündete er und machte einen Schritt auf die Mädels zu. »Viel Erfolg bei eurer Präsentation über... Seife?«
Thea nickte. »Zusammensetzung und Herstellung.«
»Ah, cooles Thema«, meinte Marek und lächelte sie an. »Ihr rockt das schon. Sieht auf jeden Fall echt gut aus.«
Die Mädels strahlten um die Wette. Seine freundliche, fast schon kumpelhafte Art faszinierte Jonas zutiefst. Die meisten seiner Freunde konnten schon mit ihren eigenen Teenagern kaum was anfangen, geschweige denn mit fremden. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass viele Leute zwar kleine Kinder mochten und kein Problem damit hatten, zu deren Vergnügen mal ein paar Bausteine übereinanderzustapeln oder einen Buntstift in die Hand zu nehmen, sie aber blockierten, sobald jemand mit Pubertätshormonen vor ihnen stand.
Marek hatte definitiv keine Berührungsängste. Er zwinkerte ihnen noch mal zu, was bei allen dreien für rote Wangen und verlegenes Lächeln sorgte, dann begleitete Jonas ihn zur Wohnungstür.
»Danke für den Kaffee.«
»Danke für Papier und Kleber«, entgegnete er, woraufhin sein Nachbar schmunzelte. »Ich bringe dir die Klebestifte zurück, sobald die Mädels damit fertig sind.«
Marek nickte und zog die Tür auf. »Also, ich schätze, wir sehen uns.«
»Ja, ganz bestimmt«, antwortete Jonas eilig nickend und war überrascht davon, wie sehr er sich bereits jetzt auf das nächste Treffen freute, denn er fand es sehr schade, dass Marek schon ging. »Zur Not hast du ja meine Nummer. Falls du einen Rückfall oder so erleidest und dein Kumpel nicht gleich kommen kann. Oder was anderes ist.« Halt die Klappe, Jonas, du plapperst.
Marek lächelte jedoch. »Stimmt. Soll ich dir noch meine geben, falls bei dir mal was ist?«
»Ja!«, platzte es viel zu schnell aus Jonas raus und er zerrte eilig das Handy aus der Hosentasche. Er wurde nervös und da er die Funktion zum Erstellen eines neuen Kontakts nicht gleich fand, nahm Marek ihm das Smartphone aus der Hand, tippte seine Nummer auf dem Hauptbildschirm ein und drückte auf Zu Kontakten hinzufügen. Er speicherte die Nummer unter seinem Namen ab und gab Jonas dann das Handy zurück.
»Einfach anrufen oder per WhatsApp schreiben. Kein Badezimmerstalking mehr.«
Mareks strenge Stimme und die beschämende Rüge schickten ein Kribbeln durch Jonas' Bauch. Seine Wangen wurden kochend heiß und er heftete seinen Blick auf den Fußboden. Kurz klang es, als würde Marek nach Luft schnappen, doch als er zaghaft in dessen Gesicht sah, lächelte sein Nachbar.
»Bis bald, Jonas.«
»Bis bald. Und danke für den Wodka und das Papier und den Kleber. Noch mal.«
Marek schmunzelte. »Kein Problem. Schönen Abend noch.«
»Dir auch!« Er wartete noch, bis sein Nachbar den Treppenabsatz verlassen hatte, dann schloss er die Tür und lehnte sich tief durchatmend dagegen.
Wow. Er hatte keine Ahnung, was gerade passiert war, aber... heilige Scheiße, wow.