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EIN HELLES LICHT
ОглавлениеMatilda Wilson stand auf einer Schotterstraße. Ein paar Dutzend Menschen bildeten an diesem Junitag 2012 einen Kreis um sie, während die Sonne hoch am Himmel stand. Die Menge hatte die Plakate, die sie ein paar Kilometer den Highway 16 entlang bis zum Anfang der Yellich Road getragen hatten, abgestellt, Pappschilder mit der Aufschrift „Erobert den Highway zurück“ und „Killer auf freiem Fuß!“ Schweigend beobachteten sie Matilda, wie sie gesenkten Hauptes dastand, während Autos, Lastwagen und Sattelschlepper vorbeidröhnten. Matildas ältestes Kind, Brenda, hielt eine Hand auf dem Rücken, während der Rauch von schwelendem Sweet Grass, Salbei und anderer traditioneller Medizin sich über ihr Gesicht legte und dann weiter westwärts Richtung Pazifik wehte. Schließlich hob Matilda den Blick und erklärte mit müden, tränenfeuchten Augen, dass sie sich glücklich schätzen könne, glücklich, dass die Ungewissheit ein Ende habe.
Sie wusste nun, dass ihr jüngstes Kind nie wieder nach Hause kommen würde.
Ramona Lisa Wilson10 kam im Bezirkskrankenhaus von Bulkley Valley in Smithers, British Columbia, auf die Welt. Die Stadt mit etwa 5.000 Einwohnern liegt auf halbem Weg zwischen Prince George und Prince Rupert. Es war ein trüber, kalter Wintertag; Nebel hüllte das weite Tal ein, in dem die Stadt liegt. Noch trostloser war das Krankenhaus, ein Betonklotz auf einer sanften Anhöhe zwischen dem Geschäftsviertel in der Innenstadt und dem Bulkley River. Aber Ramona war wie ein strahlendes Licht, noch bevor sie am 15. Februar 1978 auf die Welt kam.
Nachdem Matilda sieben Jahre zuvor ihr fünftes Kind zur Welt gebracht hatte, sagten die Ärzte ihr, sie könne nie wieder ein weiteres Kind bekommen. Das war eine Enttäuschung für Matildas Älteste, Brenda, gewesen, die sich als einziges Mädchen in der Familie verzweifelt eine kleine Schwester wünschte. Aber Matilda akzeptierte es. Im Sommer 1977 jedoch, als sie zum Arzt ging, weil sie dachte, sie hätte sich eine Grippe eingefangen, erfuhr sie, dass sie im zweiten Monat schwanger war. Matilda war fassungslos. „Vielleicht ist es ein Geschenk“, sagte sie zu Ramonas ebenso überraschtem Vater. Brenda sagte sie, sie solle für die kleine Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte, beten.
Am 14. Februar 1978 setzten die ersten Wehen ein und Matilda lächelte bei dem Gedanken, dass ihr Baby am Valentinstag zur Welt kommen würde, doch es sollte noch bis fünf Uhr am nächsten Morgen dauern, bevor Matilda ins Krankenhaus fahren musste. Kurz darauf wurde Ramona geboren. Als die Krankenschwestern Matilda ihr Neugeborenes überreichten, streichelte sie ihr welliges Haar, küsste die winzigen Finger und die winzige Nase ihres Babys und bewunderte ihre Augen, die so hell waren, dass sie fast blau schienen, obwohl sie bald eine haselnussbraune Farbe annahmen. Matilda sagte zu Ramonas Vater: „Du solltest besser Brenda informieren. Geh ans Telefon und sag ihr, dass sie nun eine kleine Schwester hat.“ Es dauerte nicht lange, da stürzte schon die ganze Familie ins Zimmer, vorneweg Brenda.
Zu Hause kümmerte sich die Familie abwechselnd um Ramona, nahm sie in den Arm, fütterte und hegte sie. Mit Ramonas Ankunft veränderte sich das Leben im Haus, es wurde lauter und fröhlicher. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag wurde eine große Party gefeiert. Während sie heranwuchs, vergötterten ihre Brüder sie, trugen sie, wohin sie wollte, und behandelten sie wie eine kleine Prinzessin. Brenda war inzwischen ausgezogen und dabei, ihre eigene Familie zu gründen. So waren es ihre Brüder, die Ramona zu ihren Partys mitnahmen und sich sogar die Haare von ihr schneiden ließen. Ramona war ein Wirbelwind. „Pass auf deinen Kopf auf!“, rief sie, bevor ihr Fuß am Ohr eines ihrer Brüder vorbeischnellte, als sie ihre Beweglichkeit unter Beweis stellen wollte. Sie hatte den ganzen Tag ein Lied auf den Lippen und sang es mit einer lieblichen, trällernden Stimme. Ausgelassenheit, Freude und Lachen folgten ihr auf Schritt und Tritt.
Vor Jahrtausenden errichteten die Gitxsan am Xsan,11 was sich mit „Fluss der Nebel“ übersetzen lässt, eine Siedlung unterhalb einer steilen, zerklüfteten Felssäule, die 1.700 Meter über dem Tal aufragte. Sie nannten den Ort Temlaham, was „Prärie-Stadt“ bedeutet, der sich zu einer großen Siedlung entwickelte. Vor vielleicht 4.500 Jahren löste sich ein Teil des Berges und es kam zu einem gewaltigen Erdrutsch. Die Lawine begrub Temlaham unter sich und blockierte den Flusslauf, wodurch der Pazifische Lachs, auf den viele als Nahrungsquelle angewiesen waren, nicht mehr zu den Laichplätzen stromaufwärts wandern konnte. Die Menschen waren gezwungen, sich auf der Suche nach Nahrung einen neuen Lebensraum in der Region zu suchen. Einige derjenigen, die durch den Erdrutsch vertrieben worden waren, siedelten sich in Gitanmaax an. Der Ort liegt auf einer tief gelegenen Landzunge an der Stelle, an der der Bulkley River – Wet’sinkwa in der Sprache der dortigen Wit‘suwit’en – in den Xsan fließt. Aufgrund der günstigen Lage mit seinen Flüssen und Landwegen entwickelte sich das Dorf zu einem Handelsknotenpunkt, der Gemeinden im Landesinneren mit den Tsimshian an der Küste verband.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Pelzhändler und Goldsucher, bald gefolgt von einem Erkundungsteam der Western Union Telegraph Company, die eine Telegrafenleitung legen wollte, um Nordamerika mit Russland zu verbinden. 1866 eröffnete die Hudson‘s Bay Company einen Posten in der Nähe des Zusammenflusses von Bulkey River und Xsan. Obwohl die Hudson’s Bay Company ihren Handelsposten bald wieder aufgab und die Pläne für die Telegrafenlinie verworfen wurden, blieb Hazelton,12 wie die Siedler den Ort nannten, eine geschäftige Versorgungsstation für Landvermesser, Händler und hoffnungsvolle Goldsucher. Als immer mehr Europäer in die Region vordrangen, verließen die Menschen von Gitanmaax ihr Dorf und zogen einen Steilhang hinauf, von dem aus sie die Siedlerstadt und die Flüsse überblicken konnten. 1880 wurde der Handelsposten der Hudson‘s Bay Company wiedereröffnet und während des nächsten Jahrzehnts schlängelte sich der erste Schaufelraddampfer den Xsan-Fluss hinauf, den die Siedler in Skeena umbenannten. Die Dampfer brachten eine neue Welle von Europäern mit sich und Hazelton entwickelte sich zu einer der größten Städte im Nordwesten – mit drei Hotels, den Lagerhäusern der Hudson‘s Bay Company, einem Krankenhaus, einer Bank und Geschäften, darunter ein Juwelier und ein Uhrmacher.
Arthur Sampson,13 Matildas Vater, wuchs Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Gitanmaax auf. Als junger Mann hielt er einige Brabanter, belgische Arbeitspferde, die er in der Landwirtschaft und für Holztransporte einsetzte. Manchmal heuerte die Hudson‘s Bay Company ihn an, um Waren von ihren Lagerhäusern in Hazelton zu anderen Siedlungen entlang der alten Routen, den so genannten „Grease Trails“14 (Fettpfade), zu transportieren. Der Name stammt vom öligen Kerzenfisch, den die Ureinwohner seit Tausenden von Jahren entlang dieser Pfade von der Küste ins Landesinnere brachten, um mit den dortigen Völkern Handel zu treiben.
Später erweiterten die Siedler die schmalen Pfade zu breiten Transportwegen für den Ansturm auf die Goldfelder. Bear Lake, 120 Kilometer Luftlinie nördlich gelegen, war ein traditioneller Treffpunkt der Gitxsan, Dakelh und Sekani. Dort wurde auch Fort Connolly errichtet, das in den 1820er Jahren ein Handelsposten der Hudson‘s Bay Company war, aber auch nach dessen Schließung Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin ein blühender Handelsplatz blieb. Die Reise von Hazelton nach Bear Lake war lang und beschwerlich. Selbst bei guten Reisebedingungen, was meist nicht der Fall war, dauerte es Tage, das Ziel zu erreichen. Während einer dieser Reisen begegneten sich Arthur und Mary.
Die beiden heirateten bald und ließen sich in Bear Lake, einem kleinen, abgelegenen Ort, nieder und lebten von dem, was Arthur bei der Jagd und dem Fischfang erbeuten konnte. Arthur half auch zusammen mit anderen Familienmitgliedern bei den Geburten seiner ersten sechs Kinder. Für die Geburt hielten sie einen Behälter aus rostfreiem Stahl mit sauberen weißen Laken und Watte bereit, die vom Priester gesegnet wurden und die niemand anfassen durfte, bis das neue Baby kam.
Einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erkrankten alle Kinder. Arthur und Mary gelang es, das Fieber der Kinder zu senken – mit Ausnahme ihrer Jüngsten. Louise, die noch ein Kleinkind war, wurde immer kränker und kränker, und es gab nichts, was sie tun konnten. Es gab keine Ärzte, keine Medikamente, und so starb Louise an einer Lungenentzündung. Ihre Eltern waren am Boden zerstört. Sie packten ihre Sachen zusammen und zogen mit den überlebenden Kindern zurück nach Gitanmaax. In Hazelton gab es ein Krankenhaus, und 1950 war Matilda das erste ihrer Kinder, das von Ärzten statt von Familienmitgliedern auf die Welt gebracht wurde. Außerdem gab es hier Schulen und eine Polizeistation der RCMP. Nachdem es in Bear Lake einen Mord gegeben hatte, fürchteten Arthur und Mary um die Sicherheit ihrer Familie, Gitanmaax würde ein sicherer Ort für ihre Kinder sein.
Zuerst nahm die Regierung Matildas ältere Geschwister mit, dann ließ sie auch Matilda abholen. Arthur und Mary versuchten, die Behörden aufzuhalten, aber es gab nichts, was sie tun konnten – die RCMP machte deutlich, dass jeder Widerstand mit Verhaftung geahndet würde. Sie verloren alle ihre Kinder an die Internate, die Residential Schools.15
Als Matilda fünf Jahr alt war, wurde sie in Hazelton in einen Zug gesetzt. Nachdem sie nicht aufhören konnte zu weinen, versuchte der Schaffner, ein freundlicher Mann, sie zu trösten und sagte, dass alles gut werden würde. Doch nichts war gut. Die Lejac Residential School16 war ein einschüchternder dreistöckiger Backsteinbau mit einigen versprengten Nebengebäuden, der zwischen dem Highway 16 und dem Ufer des Fraser Lake lag. Nachdem die Kinder beim Internat angekommen waren, nahm man ihnen die Kleider weg, rasierte ihnen die Köpfe kahl und schickte sie unter die kalte Dusche. Matilda wurde anstelle ihres Geburtsnamens eine Nummer zugeteilt. Sie waren in Lejac, um die Lebensweise des Weißen Mannes zu lernen und den „Wilden“ in ihnen auszulöschen. Schnell lernten sie die englische Sprache – wenn sie dabei ertappt wurden, ihre eigene Sprache zu sprechen, wurden sie mit Riemen geschlagen oder verprügelt. Die Kinder waren sexuellem Missbrauch, Schlägen, Hunger und Vernachlässigung ausgesetzt. Manche versuchten zu fliehen. Eines Winters wurden vier Jungen17 tot aufgefunden. Sie hatten es fast bis nach Hause zurück geschafft, bevor sie nur wenige Kilometer entfernt auf dem vereisten See erfroren. In Lejac musste Matilda erfahren, was Hunger, Einsamkeit und Angst bedeuteten.
Zuhause in Gitanmaax zerbrachen Arthur und Mary innerlich an dem Verlust ihrer Kinder. Alkohol füllte den Abgrund, den der Zug in Richtung Osten hinterlassen hatte. Als Matilda sieben Jahre später nach Hause zurückkehrte, versuchten ihre Eltern, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, aber es war nie mehr dasselbe. „Es hat meine Eltern zerstört“, sagte Matilda, „sie suchten Zuflucht im Alkohol, weil sie uns so sehr vermissten. Es hat auch uns gezeichnet. Es ging einfach weiter – von einer Generation auf die nächste. Den meisten von uns war es lange Zeit einfach egal, was mit uns geschah.“ Mary starb an einem Herzinfarkt, als Matilda vierundzwanzig war. Fünf Jahre später setzte ein Taxi ihren Vater nachts am Straßenrand in Richtung Gitanmaax ab. Ein Betrunkener überfuhr und tötete ihn.
Matilda heiratete, als sie mit fünfzehn Jahren erstmals schwanger wurde. Mit 21 Jahren hatte sie fünf Kinder – Brenda, die Älteste, und vier Jungen. Ein paar Jahre später war sie verwitwet und zog nach Smithers,18 etwa 75 Kilometer südöstlich am Highway 16. Das pittoreske Städtchen am Ausläufer des Hudson Bay Mountain, wo die Hügel im Landesinneren auf die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel des Küstengebirges treffen, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als regionale Verwaltungszentrale der Eisenbahn gegründet.
Die Hauptstraße kreuzt den Highway, der Smithers zweiteilt. Das Viertel zwischen den Bahngleisen und dem Highway 16 besteht aus sieben Häuserblocks mit trendigen Geschäften, die Angel- und Jagdausrüstung, Mountainbikes und Abfahrtsski, Kleidung und Sushi verkaufen. Auf der anderen Seite des Highways verläuft die Main Street. Sie führt zunächst den Hang hinauf – vorbei am Stadtmuseum, der Wache der Freiwilligen Feuerwehr, an Häusern und Wohnungen sowie einer kürzlich geschlossenen Kneipe – und windet sich dann zum Bulkley River hinab. Smithers präsentiert sich ein wenig touristischer als viele der anderen Gemeinden entlang des Highways. In den späten 1980er Jahren verabschiedete der Stadtrat ein Gesetz, welches den Läden entlang der Hauptstraße eine „alpine“ Fassadengestaltung19 vorschreibt – ganz als wäre es ein Schweizer Bergdörfchen. Inspiriert wurde die skurrile Idee von der Statue von „Alpine Al“, einem hölzernen Alphornbläser, der seit 1973 das Maskottchen der Stadt ist. Einige der Ladenbetreiber nannten die Vorschrift eintönig, albern und aufwendig. Nachdem einem Geschäftsinhaber, der sich zunächst geweigert hatte, die Fassade seines Geschäfts dem neuen „alpinen Stil“ anzupassen, sogar mit Ladenschließung gedroht wurde, ließ er aus Protest eine riesige Lederhose an seinem Gebäude anbringen. Auch Stadtrat Doug McDonald kritisierte dieses Alpen-Styling, da er darin einen Widerspruch zu der multikulturelle Bevölkerungsstruktur von Smithers und der Region sah. 1991 war zwar die Bevölkerung der Stadt größtenteils weiß, und nur 120 Bewohner identifizierten sich als Indigene, aber andere Gemeinden in der Umgebung wie etwa Hazelton weisen einen wesentlich höheren Anteil an Indigenen auf. So liegt etwa Witset, die Reservatssiedlung der Wet’suwet’en, welche die Siedler in Moricetown umbenannten, nur 30 Kilometer entfernt. „Wo ist das Langhaus am Ende der Main Street?“, fragte McDonald. Doch der „alpine Stil“ setzte sich durch.
Für Matilda war es eine schwere Herausforderung, als alleinerziehende Mutter fünf Kinder zu versorgen. Das Geld war immer knapp, aber sie schafften es, denn sie hatten einander. Und sie hatten Ramona. Als sie zu einem Teenager heranwuchs, blieb Ramona quirlig und lebhaft. Sie war in ihrem sozialen Umfeld sehr beliebt, denn sie war immer bereit, jemandem ein offenes Ohr zu schenken und jeden aufzumuntern, der sich niedergeschlagen fühlte. Sie war etwa zwölf Jahre alt, als sie sich an den Küchentisch setzte, während Matilda gerade Brot backte. „Mami“, verkündete Ramona, „ich habe mich entschieden, was ich werden will.“ „Und – was willst du werden?“, fragte Matilda. „Ich möchte Psychologin werden, damit ich in die Köpfe der Menschen eindringen und ihnen helfen kann.“
Matilda lächelte. „Oh, das klingt gut“, erwiderte sie. „Das passt zu dir.“ Sie schmiedeten einen Plan: Nach ihrem High-School-Abschluss sollte Ramona auf die Universität in Victoria gehen, um Psychologie zu studieren. Niemand in ihrer Familie war zuvor auf die Universität gegangen; keines ihrer Geschwister hatte die High School abgeschlossen. Im Bezirk von Smithers lag die Abschlussquote der Indigenen im Jahrgang 1997/1998 mit nur 24% fast dreimal niedriger als im Durchschnitt.20 Aber Ramona war entschlossen, es zu schaffen. „Sie wollte damit etwas beweisen“, sagte ihre beste Freundin Kristal Grenkie.21
Mit vierzehn Jahren trat Ramona als Outfielder ins Baseball-Team ein, das vom Native Friendship Centre, für das Brenda arbeitete, gesponsert wurde. Sie bekam außerdem einen Job als Tellerwäscherin bei „Smitty’s“, einer Restaurantkette im klassischen Diner-Stil. Das Restaurant, das neben einem Autohaus in einer Seitenstraße zum Highway 16 lag, war bekannt für seine riesigen Frühstücksportionen, gewaltigen Burger und unbegrenzten Kaffeegenuss. Ramona war eine zuverlässige Mitarbeiterin, versäumte keine Schicht und meldete sich nie krank. Die Schule dagegen schwänzte sie ziemlich oft und ging lieber mit Freunden Kaffee trinken als die Schulbank zu drücken. Ein früherer Mitarbeiter der Schulverwaltung erinnerte sich noch, wie er sie einmal in sein Büro kommen ließ, um ihr die Leviten zu lesen, weil sie so häufig gefehlt hatte. Er hat nicht vergessen, dass sich Ramona bei ihm anschließend bedankte, dass er sich um sie gekümmert und sich die Zeit genommen hatte, mit ihr zu sprechen. Eines Tages schlich sich Ramona aus der Schule, um den Biologieunterricht zu schwänzen. Als sie den kurzen Flur entlang ging, der zur Raucherecke im Hof führte, begegnete sie Kristal, die dasselbe Ziel hatte. Sie hatten sich schon vorher einmal gesehen, denn Smithers ist eine Kleinstadt und auch die High School hatte nur etwa 700 Schüler. Kristal und eine ältere Freundin, Delphine Nikal, hatten Jahre zuvor mit Ramonas älteren Brüdern rumgehangen. „Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“, fragte Kristal, und Ramona willigte ein. Die beiden überquerten den Parkplatz der High School und den Highway 16 und gingen zum Restaurant im „Aspen Inn“, um den Nachmittag in einer verrauchten Sitzecke zu verbringen.
Kristal und Ramona wurden bald beste Freundinnen. Kristal hatte gerade angefangen, ihren eigenen Weg zu suchen, als sie Ramona traf. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie ein ziemlich wilder Teenager gewesen. Sie hatte einige Zeit wegen Körperverletzung in der Jugendstrafanstalt – „Juvie“ genannt – verbracht und hing mit einer Gruppe Älterer herum, die auf Alkohol, Drogen, Partys und Streitigkeiten aus waren. Mit Ramona war das anders, sie war kein großer Partyfan. Wenn sie mit ihr zusammen war, spürte Kristal, wie sie selbst ruhiger wurde.
Von Zeit zu Zeit gingen die Mädchen runter zum Flussufer, um einen Joint zu rauchen, oder sie schlenderten durch die Stadt und sprachen über die großen Themen, den Sinn des Lebens und was das alles bedeutete. Ramona war ein spiritueller Mensch. Sie wollte sich wieder mit der Kultur und den Traditionen verbinden, die in ihrer Familie fast ausgelöscht worden waren. Sie schrieb eine Menge Gedichte und war fest davon überzeugt, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht. Kristals Freundschaft mit Ramona bleibt eine der innigsten Beziehungen, die sie je hatte. „Sie war die Art von Person, der man sich sofort verbunden fühlte“, erinnerte sich Kristal. Ramona glaubte an Güte, an Vergebung, an Verständnis und bewies häufig eine Weisheit, die weit über ihr Alter hinausreichte.
Ramona war ein aufgeweckter, quirliger Teenager, der davon träumte, Psychologin zu werden.
Eines Herbstnachmittags – Ramona war fünfzehn Jahre alt und hatte gerade die elfte Klasse begonnen – ging Matilda die Hauptstraße entlang, ein paar Blocks von ihrem Haus entfernt. Sie beobachtete, wie ihre Tochter die Straße entlang kam und eine ältere Frau sich unweit von ihr mit ihrer Einkaufstasche abmühte. Matilda sah voller Stolz zu, wie Ramona auf die Frau zuging, ihr die Tasche abnahm und über die Straße half. Matilda wartete auf der anderen Seite. „Oh Gott, Ramona, du bist so großartig“, sagte sie stolz zu ihr. „Ich danke dir so sehr. Jetzt weiß ich, dass ich keine Angst davor haben muss, alt zu werden.“ Ramona lachte nur. „Mama, seit wann würdest du jemals alt werden?“
Am Freitag, dem 10. Juni 1994, stürzte Ramona zur Tür des Hauses an der Railway Avenue herein. Sie hatte gerade erfahren, dass sie einen Sommerjob als Jugendberaterin beim Smithers Community Services, der kommunalen Beratungsstelle, bekommen hatte. Sie war ganz aufgeregt, als sie mit ihrer Mutter ihre Pläne diskutierte, bei „Smitty‘s“ zu kündigen. Jetzt, mit 16 Jahren, hatte sie das Gefühl, dass sich die Dinge zu einem Ganzen zusammenfügen würden. Es war, so sagte sie ihrer Mutter, der schönste Tag in ihrem Leben.
Der nächste Tag war der Höhepunkt der Graduiertenfeierlichkeiten in Smithers. Die Abschlussparty am Wochenende war eine alljährliche Tradition, eine feuchtfröhliche Nacht, in der Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammenkamen, um zu feiern. Selbst die Kinder, die sich sonst von lärmenden Partys fernhielten, feierten mit. Die Teenager drängten sich in geliehenen oder ramponierten Fahrzeugen zusammen und fuhren im Corso die Hauptstraße auf und ab. In Anspielung auf die Main Street nannten sie das einen „Mainer“. Manchmal fuhren sie auch auf Schotterstraßen zu „Buschpartys“ – an den Plätzen beim Wasserturm, der Landebahn des kleinen Flughafens oder der Freizeitanlage bei den Wasserfällen der Twin Falls. In jenen Tagen, lange vor der Erfindung von Handys oder sozialen Medien, traf man sich mit Freunden an der Main Street, um die nächste Party zu planen, eine Mitfahrgelegenheit zu finden oder um sich einfach eine Nacht um die Ohren zu schlagen.
Ramona hatte Freitagnacht bei ihrem Freund in Moricetown verbracht und kehrte erst am nächsten Tag gegen Mittag nach Smithers zurück. Sie machte einen Zwischenstopp bei „Mr. Mike‘s Steakhouse“ auf der Main Street in der Nähe des Highways, um eine Tasche mit Kleidung von einem Freund abzuholen, der dort arbeitete. Dann ging sie die Hauptstraße hinunter in Richtung ihres Hauses. Auf dem Weg dorthin hielt ihr Onkel neben ihr und bot ihr an, sie mitzunehmen. Er hatte sich für die Partynacht als Fahrer zur Verfügung gestellt und wollte wissen, was sie vorhatte, falls sie später eine Fahrgelegenheit bräuchte. Sie sagte ihm, dass sie später zum Lake Kathlyn, einem kleinen See direkt am Flughafen, wolle. Dort würde ein Typ, der in einer heruntergekommenen Wohnanlage lebte, eine Party veranstalten.
Ramona schlief den Rest des Tages und stand gegen 18:00 Uhr auf, um sich zum Ausgehen vorzubereiten. Matilda hatte beim Lieferdienst Pasta und Lasagne zum Abendessen bestellt. Ramona war gut gelaunt, tanzte herum und sang. Um 21:30 Uhr, als die Sonne hinter dem Hudson Bay Mountain unterging und die Stadt im Schatten versank, klingelte das Telefon in Ramonas Schlafzimmer und sie sprang auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Sie machte sich zum Ausgehen fertig, schnappte sich ihr Makeup und packte eine kleine Tasche zum Übernachten zusammen, zog ihre Acid-Wash-Jeansjacke und ihre nagelneuen weiß-pinken Reeboks an. Matilda fragte nicht, wer am Telefon war; aber sie nahm an, es sei Kristal. So viel sie wusste, wollte Ramona bei ihrer besten Freundin übernachten. Die beiden verbrachten gewöhnlich die Wochenenden zusammen, obwohl sie ihren Müttern nicht immer die Wahrheit sagten, wo sie sich herumtreiben würden.
Nach ihren hektischen Vorbereitungen rief Ramona: „Bis bald, Mama“, und war weg. Matilda brachte sie nicht zur Tür und sah ihr nicht beim Weggehen zu, sondern antwortete ihr nur über die Schulter: „Bis bald.“ Ramona ging die Gasse hinter ihrem Haus zur Alfred Avenue, die sie ein paar Blocks weiter zur Hauptstraße bringen würde. Als sie beim ersten Haus in der Alfred Avenue vorbeikam, stand dort eine ältere Frau mit ihrem Sohn und Enkel im Vorgarten. Ramona winkte ihnen zu. Im nächsten Haus war im Hinterhof eine kleine Party im Gange. Ramona blieb kurz stehen, um mit ein paar Bekannten zu plaudern, dann zog sie ihres Wegs.
Kristal lebte ein Dutzend Häuserblocks entfernt in einer Maisonettewohnung gegenüber dem Bürgerzentrum, wo sie an den Abschlussfeierlichkeiten ihres Bruders teilnahm. Sie hatte an diesem Tag bereits mit Ramona gesprochen, und die beiden hatten geplant, sich an diesem Abend zum Tanzen in Hazelton, etwa siebzig Kilometer entfernt, zu treffen. Es war nicht außergewöhnlich, zwischen den Städten hin und her zu pendeln und sich als Tramperin von jemandem mitnehmen zu lassen, der in diese Richtung fuhr. Manchmal stand eine ganze Reihe von Mädchen am Highway und hielt den Daumen raus, um eine Mitfahrgelegenheit zu erhaschen. Kristal trampte viel häufiger als Ramona, die lieber die Main Street entlang ging und hoffte, dort einen Bekannten zu treffen, der sie mitnehmen würde.
Als Ramona nicht in der Gemeindehalle in Hazelton auftauchte, dachte sich Kristal zunächst nichts dabei. Es war nicht allzu ungewöhnlich, dass sich Pläne änderten, und es gab keine Möglichkeit, sich gegenseitig Bescheid zu geben. Sie dachte daher, Ramona sei mit einigen Freunden nach Moricetown gefahren, wo ihr Freund und eine weitere gute Freundin wohnten. Um Ramona musste sie sich keine Sorgen machen, denn sie war die Verantwortungsbewusste in der Gruppe. Sie war diejenige, die sich um ihre Freunde kümmerte, wenn es ihnen wegen Drogen oder Alkohol miserabel ging. Sie hatte vier hartgesottene ältere Brüder, die jedem klarmachten, sich besser nicht mit ihrer Schwester anzulegen. Sie war willensstark, sich ihrer selbst und ihrer Grenzen bewusst; sie zögerte keine Sekunde, das Wort zu ergreifen, wenn sie das Gefühl hatte, dass jemandem Unrecht getan oder sie herumgeschubst wurde. Ramona hatte die Dinge im Griff und sie würde klarkommen.
Aus Samstagnacht wurde Sonntag. Matilda dachte, Ramona sei bei Kristal, und Kristal dachte, Ramona sei in Moricetown. Als Ramonas Freund auf der Suche nach ihr am Sonntagmorgen bei ihr zu Hause anrief, erzählte ihm Matilda, sie sei bei Kristal. Doch als er bei Kristal anrief und erfuhr, dass Ramona nicht bei ihr war, fuhr er zu Kristal, um sie abzuholen. Als er gegen 11:30 Uhr bei Kristal ankam, beschlossen sie zu überprüfen, ob Ramona inzwischen nach Hause gekommen sei, und fuhren noch an diesem Nachmittag zu Matilda. Kristal sagte ihm, es sei besser, wenn er an der Tür klingeln würde, denn sie wollte Ramona nicht in Schwierigkeiten bringen, falls Matilda glaubte, dass die Mädchen zusammen seien. Als er wieder ins Auto stieg, nachdem er mit Matilda gesprochen hatte, sagte er: „Nein, sie ist mit dir zusammen.“ Am Nachmittag rief Kristal bei „Smitty‘s“ an. Dort erklärte man ihr, dass Ramona heute frei hätte und erst am nächsten Nachmittag nach der Schule zur Arbeit kommen würde.
Der Sonntag verging. Am Montag erschien Ramona nicht in der Schule, ebenso wenig ihre Freundin aus Moricetown. Kristal redete sich ein, dass die beiden wahrscheinlich verschlafen und den Schulbus verpasst hätten. Aber sie war davon überzeugt, dass Ramona an diesem Nachmittag zur Arbeit in die Stadt kommen würde, denn während dieser Schicht wollte Ramona ihren Chef darüber informieren, dass sie kündigen würde, um den Job als Jugendberaterin anzunehmen. Als Kristal am Nachmittag bei der Petro-Canada-Tankstelle am Highway eintraf, wo sie als Kassiererin jobbte, fragte sie ihren Chef, ob sie kurz telefonieren könne, ging ins Büro und rief bei „Smitty’s“ an, um nachzufragen, ob sich Ramona inzwischen gemeldet habe. Doch sie war nicht da. Kristal bat darum, nochmals den Dienstplan zu überprüfen, ob Ramona wirklich für den Nachmittag eingeteilt war. Die Antwort lautete, ja, aber sie war nicht aufgetaucht. Da wurde Kristal klar, dass etwas nicht stimmte, und sie bekam Angst. Sie griff erneut zum Hörer.22
Matilda erwartete Ramona erst am Montag nach der Arbeit wieder zu Hause. Dann erhielt sie einen überraschenden Anruf von Kristal, die ihr mitteilte, dass Ramona das Wochenende nicht mit ihr zusammen gewesen war und weder in der Schule noch zur Arbeit erschienen war. Kristal drängte Matilda, bei der RCMP anrufen, denn irgendetwas stimmte nicht. Nachdem Kristal den Hörer aufgelegt hatte und nach vorne in den Verkaufsraum zurückkam, wollte ein Mitarbeiter, der vermutlich einen Teil ihres Gesprächs mit angehört hatte, sie necken und fragte: „Was ist los? Haben Sie Ihren Freund verloren?“ Kristal blickte ihn an, Tränen schossen ihr in die Augen, und sie sagte: „Genau das habe ich, glaube ich.“
Matilda rief bei „Smitty‘s“ an, wo man ihr bestätigte, dass ihre Tochter tatsächlich nicht zur Arbeit erschienen war. Sie rief Brenda an, die sofort rüberkam, und gemeinsam begannen sie, bei Freunden und Bekannten herumzutelefonieren, ob irgendjemand etwas von Ramona gehört hatte. Manche vermuteten, dass Ramona möglicherweise zu den Wohnungen am Lake Kathlyn gegangen sein könnte, und Matilda und Brenda fuhren hinaus, um nachzusehen. Sie hielten auch bei „Smitty‘s“, um nachzufragen, ob Ramona inzwischen aufgetaucht war oder sich gemeldet hatte. Nichts. Dann gingen sie zur RCMP-Wache.
Die Polizei forderte Matilda auf, sich in Geduld zu üben. Ramona sei ein Teenager, es sei die frühsommerliche Partyzeit und daher nicht ungewöhnlich, dass die Jugendlichen für ein paar Tage verschwinden würden. „Was wollen Sie damit andeuten?“, fragte Matilda. „Wir müssen nach ihr suchen. Das sieht ihr nicht ähnlich. Ich kenne doch meine Tochter.“ Matildas Söhne waren gelegentlich in Schwierigkeiten gewesen; die Polizei kannte die Familie und es war keine positive Beziehung. In einer Kleinstadt wie Smithers, in der weniger als ein Dutzend Polizisten im Dienst sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man demselben Polizisten wiederbegegnet, mit dem man in Konflikt geraten ist. „Wir haben eigentlich jede Art von Kontakt mit der RCMP vermieden“, räumte Brenda ein, „deshalb fiel es uns sehr schwer, als wir Ramona als vermisst melden mussten.“ Matilda spürte, wie die Polizei sie abwimmeln wollte. Sie unterstellten, dass Ramona zu Hause unglücklich sei und dass Matilda als alleinerziehende Mutter, die auf Sozialhilfe angewiesen war, ihren Kindern kein gutes Umfeld biete, weshalb Ramona wahrscheinlich weggelaufen sei. Ramona war manchmal für ein paar Tage weggeblieben, aber dann hatte sie stets angerufen, denn sie wusste, welche großen Sorgen sich ihre Mutter um sie machte.
Matilda Wilson wusste, dass etwas nicht stimmte, als ihre Tochter im Juni 1994 nicht zur Arbeit erschien.
Die Wilsons warteten nicht, sondern begannen sofort mit der Suche. Brenda und Matilda klemmten sich hinter das Telefon, spürten Gerüchten und Spekulationen nach, während Ramonas Brüder, Tanten und Onkel das Land um Smithers durchkämmten. Manchmal ging Matilda mit ihnen, angetrieben von der Angst, etwas zu finden, und der Angst, nichts zu finden. Brenda ging nie mit auf die Suche, denn sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihre Schwester im Busch oder in einem Kanal zu finden.
Der erste Zeitungsartikel23 über Ramonas Verschwinden wurde elf Tage, nachdem sie ihr Zuhause verlassen hatte, in einem Lokalblatt abgedruckt, das jeden Mittwoch erschien. Die Meldung stand ganz unten auf der Titelseite, so dass man sie in den Auslagen nicht sehen konnte, eingeschoben zwischen Schlagzeilen wie „Japanischer Lehrer der Star der Schüler“ und „Vertrag kein großes Geheimnis“. Sie lautete: „16-jähriges Mädchen aus Smithers vermisst“. In diesen elf Tagen hatte Ramona weder ihr Bankkonto genutzt noch ihren Gehaltsscheck geholt, der seit über einer Woche bei „Smitty’s“ auf sie wartete. Die Sachen in ihrem Schlafzimmer blieben unangetastet.
Inzwischen hatte auch die Polizei erste Schritte unternommen. „Wir sprechen mit absolut jedem, der sie gesehen oder von ihr gehört haben könnte“, erklärte Constable Gerry Marshinew, ein Ermittler für Kapitalverbrechen, der aus dem rund 350 Kilometer westlich von Smithers gelegenen Prince Rupert eingetroffen war, um die personell unterbesetzte örtliche Dienststelle zu unterstützen. „Bis jetzt sind wir nur auf eine Reihe von Sackgassen gestoßen. Wir gehen zwar nicht von einem Verbrechen aus, aber wir können es nicht ausschließen.“
Die Familie suchte verzweifelt nach Ramona, aber ohne jeden Erfolg. Sie wussten nicht, wo sie Rat finden sollten, es gab niemand, an den sie sich wenden konnten, keine Stelle, die sie unterstützen oder anleiten hätte können. Sie riefen weiterhin bei Ramonas Freunden an, suchten immer wieder den Highway, Parks, Partyplätze und das Flussufer ab – geleitet allein von Eingebungen und Träumen. Doch wo sie auch suchten, gab es keine Spur von ihr.
Eine Woche später hatte die Polizei den Highway zwischen Telkwa und Moricetown durchstreift und ein Hubschrauber hatte den Bulkley River abgesucht. Die Beamten waren mehr als hundert Hinweisen nachgegangen, die alle ins Leere führten. Constable Ross Davidson, der zuständige Ermittlungsbeamte für das Revier von Smithers, räumte ein, dass der RCMP die Ideen ausgingen, was sie noch tun könnten. „Wir haben alle möglichen Spuren verfolgt, aber ohne jedes Ergebnis. Wir haben keine Anhaltspunkte, um die ganze Gegend zu durchsuchen, da wir nicht wissen, wo sie sein könnte.“24
Am 5. Juli trafen Mitarbeiter der Missing Children Society of Canada, einer Vermisstenhilfsorganisation, in Smithers ein, um bei der Suche zu helfen. Ihre Geschäftsführerin, Rhonda Morgan,25 hatte ihr Leben in den letzten zehn Jahren der Suche nach vermissten Kindern gewidmet. Es war an einem Abend im Jahr 1984, der alles änderte. Damals war sie eine unglückliche junge Frau, die kürzlich geschieden wurde, als Buchbinderin arbeitete und zu viel Zeit in Bars verbrachte. Eines Abends schaltete sie ihren Fernseher ein und sah eine Sendung, in der über drei Fälle von vermissten Kindern aus Alberta berichtet wurde. Es schockierte sie, dass Kinder verschwinden konnten und kaum etwas darüber zu hören war. Sie griff zum Telefon und rief Kathy Morgenstern an, die Gründerin der Hilfsorganisation Child Find Alberta, die von einem Büro in einem Keller aus geleitet wurde und ihr Bestes tat, um helfend einzuspringen, wenn Kinder vermisst wurden. Rhonda fragte Kathy, was sie tun könne, um zu helfen, und Kathy sagte ihr, sie bräuchten eine Schreibmaschine. Am nächsten Tag fand Rhonda eine für sie. Damit begann alles. Sie investierte so viel Zeit in ihr ehrenamtliches Engagement für Child Find, dass sie in ihrem Job gefeuert wurde. Die Suche nach vermissten Kindern sollte die nächsten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens prägen.
Während Rhonda ihre ganze Zeit der Hilfsorganisation widmete, hatte es schon immer etwas gegeben, was sie störte. Child Find suchte nach vermissten Kindern, indem sie Plakataktionen und Kampagnen organisierte und dafür sorgte, dass die Medien berichteten, aber sie suchte im eigentlichen Sinne nicht nach ihnen. Rhonda wollte suchen. Sie schickte Briefe an Ermittlungsbehörden, in denen sie um Hilfe in einem konkreten Fall bat, und erhielt eine Antwort von einem Privatdetektiv, Louw Olivier, aus Calgary. Sie traf sich mit ihm, und er erklärte sich bereit, dem Fall nachzugehen. Zwei Tage später rief er sie an, um ihr mitzuteilen, dass er den vermissten Jungen in einem Waisenhaus in New York gefunden hatte. Rhonda fuhr nach New York, um den Jungen abzuholen, und hatte eigens ein Team von CTV News mitgebracht. Als sie nach Calgary zurückkehrte, sagte Louw zu Rhonda, dass er in ihr ein großes Potenzial sehe. Er ermutigte sie, eine Ausbildung als lizenzierte Privatdetektivin zu beginnen.
Da Child Find ihr Interesse an der Durchführung aktiver Ermittlungen nicht teilte, trennte sie sich von der Organisation und gründete die Missing Children Society of Canada. Sie rekrutierte ein Team ehemaliger Polizeibeamter, engagierte einige Mitarbeiter zu deren Unterstützung, und gemeinsam entwickelten und verbesserten sie ihre Arbeitsweise von Fall zu Fall. Obwohl Rhonda keine Erfahrung in der Polizeiarbeit hatte, wurde sie von den Polizeibehörden respektiert. Sie arbeitete hart daran, sich ihnen gegenüber immer wieder aufs Neue zu beweisen, was meistens auch gelang. In den meisten Fällen war der Polizei die Unterstützung der Organisation willkommen – und sie engagierte sich nur, wenn die Polizei um ihre Hilfe bat. Sie konnten Forensiker, Psychologen und Hellseher, aber auch Hundestaffeln, Suchtrupps und sogar Helikopter zur Verfügung stellen. Daneben führten sie weiterhin Plakataktionen und Medienkampagnen durch. Im Laufe der Jahre wuchs die Organisationen auf ein Team von sechzehn Mitarbeitern an, darunter viele pensionierte Polizeibeamte. Die Organisation half, Tausende von Kindern zu finden.
In der Regel dauerte es Monate oder gar Jahre, bevor die Organisation zu Hilfe gerufen wurde, was das Team immer wieder aufs Neue frustrierte, denn sie mussten mit ihrer Arbeit am Ende beginnen. Doch als Ramona aus Smithers verschwand, erfuhren sie umgehend davon. Sie waren bereits zuvor hier gewesen.