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EINE MAUER DES SCHWEIGENS

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Im Juni 1992 erhielt Rhonda Morgan26 in ihrem Büro in Calgary einen Anruf von Judy Nikal, einer Wet’suwet’en, die in Telkwa, östlich von Smithers, lebte. Am Tag zuvor war es genau zwei Jahre her, dass ihre Tochter verschwunden war, und sie suchte nach Hilfe.

Delphine Nikal27 wuchs auf einer Farm in der Nähe von Smithers auf, die ihre Familie als Nebenerwerb betrieb. Als sie klein war, hingen zahlreiche Bilder an den Wänden des Schlafzimmers ihres Vaters. Einige waren von Hand gezeichnet, andere aus Malbüchern herausgerissen, auf manchen waren von Kinderhand gekritzelte Notizen: „An Papa, ich liebe dich, deine Delphine.“ Er bewahrte sie alle auf. Delphine war kreativ, intelligent und voller lustiger Einfälle. Sie war das Baby der Familie und kam an einem eisigen Februartag 1975 im selben Krankenhaus wie Ramona Wilson auf die Welt. Zwölf Jahre jünger als das älteste Kind, Mary, verbrachte Delphine ihre ersten Jahre auf der Farm an der Slack Road, inmitten von Hühnern, Ziegen, Rindern und Pferden. Sie liebte Tiere, insbesondere Pferde, und bewegte sich selbst im Umgang mit den großen Tieren mit einer Selbstsicherheit und Gelassenheit, die den meisten Kindern abging. Schon früh begann sie zu reiten, oft packte sie gemeinsam mit ihren Schwestern einen Picknickkorb zusammen und ging zu Pferd auf Erkundungstour. Andere Male durchwanderte sie den weitläufigen Garten und verlief sich zwischen den Pflanzen und Bäumen. Mary, die ihre jüngste Schwester wie ihr Baby behütete, fand sie dann, wie Delphine auf der blanken Erde saß, Erdbeeren in ihren Mund stopfte und über das ganze Gesicht strahlte. „Es gibt so viele schöne Erinnerungen, aber sie sind so kurz“, sagte Mary. „Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit mit ihr gehabt.“


Delphine Nikal vergötterte ihre Nichten und Neffen und war wie eine leidenschaftliche Beschützerin für ihre jüngeren Freunde.

Delphines Eltern trennten sich, als sie noch jung war, und 1986 starb ihr Vater. Für Delphine war es eine sehr schwere Zeit – für die ganze Familie. Sie zog zu ihrer Mutter Judy und deren neuem Ehemann nach Telkwa, einem Dorf rund elf Kilometer östlich von Smithers. Judy hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und war wie Matilda eine Überlebende der Residential School von Lejac. Delphine war in ihrem neuen Zuhause nie glücklich. Sie mochte Judys neuen Ehemann, Mickey Magee, nicht, denn er war ein starker Trinker und wurde aufdringlich, wenn er betrunken war.

Als sie ins Teenager-Alter kam, blieb Delphine oft von zuhause weg und hing mit anderen Mädchen auf den Straßen von Smithers herum, wobei sie gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt geriet.28 1989 wurde sie in ein Jugendheim geschickt, nachdem sie wegen einiger Vergehen angeklagt worden war, u.a. Diebstahl, Einbruch, groben Unfugs und Verstoß gegen die Bewährungsauflagen. Während man heute zunehmend zu der Einsicht gelangt ist, dass die Inhaftierung von Jugendlichen schädlich und kontraproduktiv ist, war diese Vorgehensweise damals wesentlich gebräuchlicher. Dies änderte sich erst mit einer Reform des Jugendstrafrechtssystems, die darauf abzielte, Kinder von Gefängnissen fernzuhalten. Vor der Reform des Jugendstrafrechts 1995 saßen durchschnittlich 400 Minderjährige in British Columbia in Haft. Damals wie heute waren indigene Jugendliche unverhältnismäßig stark im Jugendstrafrechtssystem vertreten.29

Während Delphine mehrere Jugendeinrichtungen in der Provinz durchlief, blieb sie mit ihrer Familie in engem Kontakt und schrieb wunderschöne Briefe, die oft drei oder mehr Seiten lang waren und in denen sie zum Ausdruck brachte, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Als sie im Mai 1990 nach Hause kam, brachte sie ihnen Kunstwerke und Schnitzereien mit, die sie angefertigt hatte.


Kristal Grenkie war eng mit Ramona Wilson und Delphine Nikal befreundet.

Kristal Grenkie30 war etwa zwölf Jahre alt, als sie Delphine traf, und die beiden begannen, gemeinsam herumzuhängen. Delphine hatte unterdessen die Schule geschmissen. Wie viele Jugendliche in Smithers verbrachten die Mädchen viel Zeit damit, sich auf der Main Street herumzutreiben und vor der „Fun Centre“ genannten Spielhalle in der Second Avenue herumzulungern. Trotz des harmlosen Spitznamens war es ein rauer Ort, ein Treffpunkt für Jugendliche, wo sie abhängen, rauchen, Billard spielen und Drogen kaufen konnten. Nicht selten kam es dabei zu Prügeleien hinter der Spielhalle. Jugendkriminalität und Gewalt waren ein Dauerthema in Smithers. Nachdem es in den frühen 1990er Jahren zu einer Serie von Vandalismus und Einbrüchen gekommen war, beschrieb ein Leitartikel in der Lokalzeitung die nächtliche Innenstadt gar als „Kriegszone“.31 Etwa zur gleichen Zeit kursierten Gerüchte über einen bevorstehenden „Bandenkampf“ zwischen Jugendlichen der First Nations und weißen Kids.32 Obwohl es nie zu einem Kampf kam und die Polizei versuchte, die Gerüchte herunterzuspielen, war die Stadtverwaltung über rassistische Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen besorgt.

Delphine, rund drei Jahre älter als Kristal, hatte ein wachsames Auge auf ihre jüngere Freundin. Sie sorgte dafür, dass Kristal zur Schule ging und rechtzeitig zu Hause war. Wie Kristal Jahre später vermutete, beschützte Delphine sie auch vor dem Kontakt mit der lokalen Drogenszene. Tagsüber, während Kristal in der Schule saß, schrieb Delphine ihr lange Briefe, in denen sie auch die Textzeilen ihres Lieblingssongs, Tom Pettys „Apartment Song“, für ihre Freundin abschrieb. Sie träumte davon, sich eine eigene Wohnung zu suchen, wenn sie sechzehn würde – einen Platz in der Welt, den sie ihr Eigen nennen könnte.

Im Juni 1990 lag Judy schwerkrank im Krankenhaus in Prince George, da es nach einer Operation Komplikationen gegeben hatte. Mickey verbrachte die meiste Zeit bei ihr im Krankenhaus, das vier Fahrstunden von Telkwa entfernt ist. Delphine kam regelmäßig zu Besuch ins Krankenhaus, und Judy erzählte später einem Reporter, dass sie sich jedes Mal nach dem Besuch ihrer jüngsten Tochter gestärkt gefühlt hätte. Sie erinnerte sich auch, dass Delphine ihr versprach, sie nie zu verlassen und immer in ihrer Nähe zu bleiben, um sich um sie zu kümmern.33 Während Judy in Prince George um ihr Leben kämpfte – sie lag vier Monate im Koma – war Delphine in der Obhut eines Onkels, Frank Tompkins, der in einer Hütte gegenüber ihrem Haus in Telkwa wohnte. Sie klagte Kristal gegenüber zwar nie über ihre häusliche Situation, aber während dieser Zeit, als ihre Mutter fast 400 Kilometer entfernt war, schien sie das Gefühl zu haben, dass es keine Rolle spielte, ob sie dort war oder nicht.

Der Nachmittag des 13. Juni, ein Mittwoch, war warm, die Temperaturen lagen bei über 20 Grad Celsius. Gegen 14 Uhr sagte Delphine ihrem Onkel, dass sie den Nachmittag mit Freunden in der Stadt verbringen würde. Sie traf sich mit Kristal und zwei anderen Mädchen, und sie taten das Übliche, sie spazierten die Hauptstraße entlang, lungerten an den Straßenecken herum und schauten beim „Fun Centre“ vorbei. Als der Abend in die Nacht überging, zogen Delphine, Kristal und eine weitere Freundin zur Mohawk-Tankstelle weiter, die an der Ecke Main Street und Highway 16 lag. Delphine sagte den beiden Mädchen, dass Judy nicht in der Stadt sei, und lud sie zu sich nach Hause in Telkwa ein. Es war ungewöhnlich für Delphine, jemanden zu bitten, zu ihr nach Hause zu kommen. Rückblickend schien es ihren Freundinnen so, als hätte sie vor etwas Angst gehabt. Doch zu diesem Zeitpunkt ahnten sie nichts. Eines der Mädchen, das als Kellnerin arbeitete, musste am nächsten Morgen die Frühschicht übernehmen, und Kristal musste am Morgen in die Schule; sie wollte nicht riskieren, den Schulbus von Telkwa nach Smithers zu verpassen, denn sie hatte in letzter Zeit schon zu häufig gefehlt. Also verabschiedeten sich die Mädchen an der Tankstelle. Delphine rief ihren Onkel an und sagte, sie würde sich jetzt auf den Heimweg machen. Dann ging sie mitten in der Stadt die paar Schritte zum Highway und streckte den Daumen raus.34

Sie war fünfzehn Jahre alt. Sie kam nie zu Hause an.

Delphine fuhr häufig per Anhalter – so wie viele Jugendliche und Erwachsene in Smithers und der gesamten Gegend um den Highway 16. In der abgelegenen und relativ dünn besiedelten Region im Norden von British Columbia gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel, um von einer Gemeinde zur nächsten zu gelangen. Personenzüge zwischen Prince Rupert und Prince George verkehrten nur an wenigen Tagen in der Woche, und die Tickets waren teuer. Das galt ebenso für die Greyhound-Busse, die nur selten fuhren und daher keine praktikable Alternative boten. Für diejenigen, die kein eigenes Fahrzeug hatten, war das Trampen oft die einzige Möglichkeit, zur Arbeit zu kommen, Lebensmittel einzukaufen, einen Arzt aufzusuchen oder zu einer Party zu gehen.

In den letzten Jahren wurden die Opfer entlang des „Highway of Tears“ oft als Anhalterinnen beschrieben, obwohl tatsächlich nur bei drei der zehn Opfer in der Region, die auf der Liste der Task Force der RCMP standen, bestätigt wurde, dass sie zuletzt trampend gesehen wurden. Verschiedene Organisationen haben große Anstrengungen unternommen, um mit Aufklärungskampagnen und Plakaten entlang der Straße vor den Gefahren zu warnen und die Botschaft zu verbreiten, dass das Trampen kein sicheres Fortbewegungsmittel sei. Aber in den 1980er und 1990er Jahren war dies eine ziemlich gängige Praxis. Und ist es immer noch, da es nur wenige Alternativen gibt.

Als Delphines Familie sie als vermisst meldete, sagte die Polizei, sie würde sich wahrscheinlich nur eine Weile herumtreiben. Aber wer sie kannte, wusste, dass das nicht stimmte. Judy war schwerkrank, und Delphine würde ihre Mutter nicht einfach so im Stich lassen und ihr zusätzliche Sorgen bereiten. Außerdem lagen Delphines Habseligkeiten alle noch bei ihr zu Hause. Sie hatte ihren Freunden und ihrer Familie nichts von Plänen erzählt, einfach abzuhauen. Kristal konnte sich nicht erklären, warum Delphine an diesem Abend ihre Freundinnen zu sich nach Hause eingeladen hatte, wenn sie gleichzeitig geplant hätte, wegzurennen. Oder warum Delphine sie nicht aufgefordert hätte, mit ihr durchzubrennen. Sie waren schon früher gemeinsam den Highway entlang getrampt, wenn sie Freunde in anderen Dörfern besuchen wollten. Es gab keinen Grund, warum Delphine einen solchen Plan vor ihrer besten Freundin hätte verbergen sollen. Es ergab einfach keinen Sinn.

Da Judy noch im Krankenhaus in Prince George lag, mussten in den ersten Tagen Delphines Schwestern und Kristal die Suche übernehmen. Sie hörten Gerüchte, dass sie möglicherweise nach Granisle gegangen sei, ein Dorf am Ufer des Babine Lake, 150 Kilometer von Smithers entfernt. Sie fuhren nach Granisle und klopften an jede Tür. Im örtlichen Schreibwarengeschäft wollten sie Vermisstenplakate drucken lassen, doch, wie sich Kristal erinnerte, hätten 100 Farbausdrucke 300 Dollar gekostet – Geld, das sie einfach nicht hatten. „Wir hatten keinerlei Mittel“, so Kristal. „Nichts.“ Alles, was sie tun konnten, war, die Leute zu bitten, die Nachricht von Delphines Verschwinden zu verbreiten, und zu hoffen, dass einige Informationen zurückkommen würden. „Wir erhielten absolut keinerlei Unterstützung“, erzählte auch Mary. „Die Polizisten zeigten nie wirklich viel Interesse, es war ihnen offensichtlich egal.“ Vielleicht lag es daran, dass Delphine bei der Polizei aktenkundig war. „Weil sie früher in Schwierigkeiten gewesen war, denke ich, wurde sie von der Polizei einfach diskriminiert. Es war einfach nur eine weitere Indigene.“

Hinter der falschen Alpenfassade war Smithers in den Tagen, als Ramona und Delphine dort aufwuchsen, von rassischen Spannungen geprägt. Das war so seit der Ankunft der Europäer, die Anfang des 20. Jahrhunderts hierherkamen, um sich niederzulassen und die Wet’suwet’en zu vertreiben, die seit mindestens 6.000 Jahren in der Region lebten. „Es war die erklärte Politik von Provinz- und Bundesregierung, die Landnutzung durch die Indigenen einzuschränken und die Besiedlung des Nordens zu fördern“, heißt es in dem Buch „Shared Histories“ (Geteilte Geschichte) des Geographen und früheren Einwohners von Smithers, Tyler McCreary, in dem die Geschichte der kolonialen Besiedlung des Wet’suwet’en-Landes in der Umgebung von Smithers ausführlich beschrieben wird.35 „Nachdem sie von ihrem Land vertrieben worden waren, wurden die Völker der First Nations gezwungen, sich in neu geschaffenen Reservaten oder am Rande der neuen Siedlungen niederzulassen. Als sich die Familien der Wet’swuet’en am Stadtrand ansiedelten – später nannte man diese Siedlung ‚Indiantown‘ –, drängten die Stadtvertreter Militär, RCMP und Indianerbehörde vergeblich, die Indigenen zu vertreiben. In den 1920er Jahren forderte eine öffentliche Petition, „Indianern und anderen Farbigen“ den Erwerb von Grundeigentum in Smithers zu verbieten. Geschäfte weigerten sich, Wet’suwet’en zu bedienen, und mittels einer Petition wollte man Indigenen und Menschen asiatischer Abstammung verbieten, eigene Läden zu betreiben. In den Krankenhäusern herrschte Rassentrennung, und die Kinder der Wet’suwet’en „wurden entweder gezwungen, die Residential Schools zu besuchen, oder man verweigerte ihnen gleich jegliche Schulbildung“. Diese offiziell sanktionierten Beschränkungen wurden schließlich aufgehoben, aber die Wet’suwet’en erfuhren weiterhin Rassismus, Diskriminierung und Ungleichbehandlung im Krankenhaus, in Schulen und in der gesamten Siedlergesellschaft.

Die frühe Kolonialwirtschaft war auf die Arbeitskraft der Indigenen angewiesen – ob beim Bau der Eisenbahn, bei der Rodung des Landes für Farmen, bei der Holzgewinnung oder im Bergbau. Die Indigenen wurden als Reinigungskräfte, Krankenhelfer und Köche gebraucht. „Als lohnabhängige Arbeitskräfte passten sich die Wet’suwet’en den ökonomischen Bedingungen der Siedlergesellschaft erfolgreich an“, schrieb McCreary. Doch die abhängige Beschäftigung in einer sich wandelnden Ökonomie förderte auch „die zunehmende Abhängigkeit von Produktionsgütern wie Kleidung, die der Markt produzierte, anstatt sie zu Hause herzustellen“. Gleichzeitig schränkte die Besiedlung die Nutzung des Landes durch die Indigenen weiter ein. „Eisenbahnen, Straßen, Farmen, Zäune und Sägewerke behinderten den Zugang der Wet’suwet’en zu ihrem Land, wodurch es zunehmend schwieriger wurde, ihren Lebensunterhalt auf dem Yintah [Land] zu erwirtschaften.“ Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Regierung die traditionelle Subsistenzwirtschaft der Indigenen weiter zu unterbinden, d.h., Jagd, Fallenstellerei oder Fischfang wurden verboten. Die zunehmende Industrialisierung Mitte des Jahrhunderts machte viele Arbeitsplätze überflüssig, während gleichzeitig eine neue Welle europäischer Siedler ins Tal kam. Die Arbeitsplätze, die zur Verfügung standen, wurden an erster Stelle an Weiße vergeben. „Angesichts der sinkenden Nachfrage nach Wet’suwet‘en-Arbeitskräften konnten die Indigenen vom Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit nicht profitieren, sondern ihre Armut verstärkte sich noch“, schrieb McCreary. Auch wenn im Laufe der Jahre die Beschränkungen aufgehoben wurden, hatten unterdessen die wachsende Besiedlung durch Weiße, die Industrialisierung des Landes und die kommerzielle Fischerei den Bestand an Fisch und Wild reduziert. Viele Familien der Wet’suwet’en sahen sich gezwungen, sich der weißen Lebenswelt anzupassen, um ihren Kindern Bildung zu gewährleisten – sowohl in den Schulen der Siedler als auch in der Überlieferung traditioneller Praktiken der Wet’suwet’en. Doch, wie Creary anmerkt, „machten die Behörden weiterhin die Indigenen selbst für ihre Armut und Marginalisierung verantwortlich, nur um dann deren Lebensumstände als Rechtfertigung zu missbrauchen, zunächst die Kinder aus den Familien zu reißen und dann die Familien aus ihren Häusern in Indiantown zu vertreiben. Die Provinzbehörden nahmen gezielt indigene Kinder ins Visier, um sie von ihren Familien zu trennen, damit sie in weißen Mittelklasse-Familien aufwachsen sollten. Die lokalen Behörden waren verantwortlich für die Vertreibung der Wet’suwet’en aus ihren Häusern in Indiantown. Sie ließen das Areal räumen und als Teil einer sich modernisierenden Stadt weiterentwickeln.“ Nachdem die Stadtverwaltung Indiantown geräumt hatte, zogen einige der Bewohner nach Smithers, während „andere Familien mit der verstärkten Marginalisierung kämpften und weiter an den Rand gedrängt wurden“.

Das war in den 1970er Jahren, als gleichzeitig mehrere First Nations im Nordwesten rechtliche Schritte unternahmen, um die Anerkennung ihrer Landrechte durch die Provinz- und Bundesregierung zu erwirken. Im Gegensatz zu den meisten Regionen in Kanada unternahm B.C. keine Schritte, um Verträge mit den Indigenen einzugehen, als es in den 1870er Jahren Anspruch auf das Territorium erhob. Von wenigen Ausnahmen abgesehen weigerte sich die Provinzregierung anzuerkennen, dass die First Nations irgendwelche Rechte an dem Land hatten, auf dem sie lebten. Die Krone nahm sich das Land einfach – ohne Konsultation oder Entschädigung.

Ein Jahrhundert später klagten die Nisga, deren Territorium westlich von Smithers liegt, vor dem Obersten Gerichtshof Kanadas, indem sie argumentierten, dass sie den Titel an ihrem Land nie abgetreten hätten. Mit dem Urteil des Supreme Court 1973 erkannte das kanadische Rechtssystem zum ersten Mal den Aboriginal Title, d.h. die unveräußerlichen Landrechte der Indigenen, offiziell an. Später wurde in einem Prozess, der von den Wet’suwet‘en und den Gitxsan vorgebracht wurde, das Recht der Ureinwohner auf ihr Land weiter festgeschrieben. 1993 begann die British Columbia Treaty Commission (Vertragskommission), Vertragsverhandlungen mit den First Nations in der gesamten Provinz zu führen. Der Prozess verlief zwar schleppend, öffnete jedoch ein Tor zur Bestätigung der Landrechte der First Nations.

Der Vertragsprozess verstärkte den Rassismus in Smithers gewaltig, erinnerte sich Bill Goodacre,36 dessen Familie 1911 in der ersten Welle europäischer Siedler ankam und der sein Leben lang in der Region wohnte. Bill saß mehrere Legislaturperioden im Stadtrat, gehörte jahrzehntelang zum Direktorium des örtlichen Friendship Centre und war Abgeordneter im Parlament von British Columbia. Vertragsverhandlungen und Landansprüche dominierten die Nachrichten. Das Lokalblatt Interior News strotzte von giftigen Leserbriefen derjenigen, die fürchteten, sie würden ihren Besitz oder ihre Unternehmen an die First Nations verlieren, und gleichzeitig gab es viele Zuschriften zur Unterstützung der Vertragsverhandlungen. „In jenen Tagen kursierten viele Falschmeldungen, was während des Vertragsprozesses geschehen würde, z.B. diese ganze Idee, dass man Privatland verlieren würde“, sagte Bill. „Das war der Schlachtruf der Hinterwäldler, und natürlich war das Ganze von Anfang an Schwindel. Niemandem drohte der Verlust des Eigentums.“ Blockaden der First Nations waren an der Tagesordnung und es kam zu manchmal gewalttätigen Konfrontationen. „In Hazelton wachsen die Spannungen angesichts einer Straßenblockade, mit der die Indigenen die Holzfäller daran hindern, in den Kispiox zu arbeiten“, berichtete eine Zeitungsmeldung.37 Eine andere erzählte, wie eine Gruppe von Kitwanga-„Einheimischen“, die sich mit den Interessen der Holzkonzerne verbündet hatten, eine Blockade der First Nations anzündete, Gasbomben warf und einen Lastwagen in eine Gruppe von sechs Indigenen fuhr.

Bei einem vollbesetzten Gemeindetreffen, das organisiert wurde, um lokale Landansprüche zu diskutieren, störte eine Gruppe von etwa zwanzig weißen Männern die Diskussionen und schrie den Wet’suwet‘en-Sprecher nieder, als dieser versuchte, den Vertragsprozess zu erklären. Kurz darauf erklärte Herb George, ein Hereditary Chief (Erbhäuptling), der Interior News, dass sein Volk seit dem Kampf um das Wahlrecht im Jahre 1960 keine solche Feindseligkeit mehr erlebt habe. „Wenn unsere Leute in Smithers einkaufen gehen, werden sie gefragt: ‚Wollt ihr mir mein Geschäft wegnehmen?‘ Manche Leute sehen uns nicht einmal in die Augen.“38 In einem Brief an eine Lokalzeitung vom 26. Oktober 199439 beschrieb Edna Dennis, wie sie und ihre Familie vor einem Lebensmittelladen von einer Gruppe junger Männer angegriffen wurden, die ihren Ehemann schlugen und sie mit rassistischen Beleidigungen beschimpften. Einer griff durchs Fenster ins Innere ihres Fahrzeugs, wo ihre Kinder saßen, die er ebenfalls anschrie. Als sie in den Laden eilte, um Hilfe zu holen, weigerte sich der Verkäufer, die Polizei zu rufen.

Offene Demonstrationen von blankem Rassismus, wie der Angriff vor dem Lebensmittelladen, seien in den 1990er Jahren isolierte Vorfälle gewesen, sagte Bill, obwohl sie ein grundlegendes Problem offenbaren, das in der Gemeinde weiterhin besteht. „The Two Solitudes ist eine sehr treffende Beschreibung für diese Stadt“, sagte Bill mit Verweis auf den 1945 erschienenen Roman40 von Hugh MacLennon, der die Kommunikation bzw. das Fehlen derselbigen zwischen dem französischen und dem englischen Kanada untersuchte. Bill nannte ein Beispiel: Beim Weihnachtsessen für Senioren in der Elks Lodge, an dem Bill am Vorabend teilgenommen hatte, gab es unter 150 Personen nicht eine, die erkennbar zu den First Nations gehörte. Die Woche darauf plante er, zum Weihnachtsessen zu gehen, das vom Freundschaftszentrum veranstaltet wurde und bei dem voraussichtlich 90% der Anwesenden Indigene sein würden. „Wir leben beide am selben geographischen Ort, aber wir könnten genauso gut in völlig getrennten Gemeinschaften leben, wenn man den Grad an Integration bedenkt.“ Brenda Wilson erinnerte sich daran, als Kind katholische Gottesdienste in Smithers besucht zu haben, bei denen die First Nations auf der einen Seite und die Weißen auf der anderen Seite saßen. Wenn sie sich manchmal auf die „weiße“ Seite setzte, rief sie den sofortigen Unmut der Weißen hervor. „Ich habe das Wort Rassismus nie wirklich verstanden, aber ich wusste, was ich durchmachte“, bemerkte Brenda. „Ich wusste nur, dass ich immer für mich selbst und für meine Brüder, für unsere Familie kämpfen musste.“ Als sie schließlich das Wort nachschlug, dachte sie: „Okay, damit habe ich mich vom Tag meiner Geburt an mein ganzes Leben auseinandersetzen müssen.“41

Die Rassentrennung und manchmal auch die Feindseligkeit drangen bis in die Hallen der Sekundarschule vor, wo die Schüler aus Smithers und jene aus den umliegenden Gemeinden, darunter Telkwa und Moricetown, erstmals aufeinandertrafen. Es gab soziale Bruchlinien zwischen den verschiedenen Gruppen der Teenager: Es gab die Kinder aus der Stadt und jene vom Land. Es gab Sportskanonen, Streber, Kiffer und Geschniegelte. Und es gab indigene und weiße Kinder. Die Barrieren waren zwar nicht unüberwindbar, aber sie existierten. „Wir waren weitgehend getrennt“, schilderte Kristal die damalige Situation.42 „Die Integration war nicht besonders ausgeprägt.“ In einem öffentlichen Spendenaufruf zur Gründung einer Teenagerzeitung nannte ein 17-jähriger Student Rassismus das größte Problem, mit dem Jugendliche in der Gemeinde konfrontiert sind: „Freitagabends kommt es in der Stadt immer wieder zu Schlägereien. Da mag es noch so viele Gemeindetreffen geben, und die Lehrer können zigfach erklären, dass alle gleich sein sollten, das wird daran nichts ändern. [Rassismus] ist das Grundproblem, das so [viele] andere Probleme nach sich zieht. Ein Großteil der Gewalt hier entspringt diesem Rassismus.“43

Die Interior News brachten am 10. Oktober 1990, vier Monate nach ihrem Verschwinden, einen Bericht über Delphine.44 Möglicherweise gab es schon früher irgendwelche Artikel, aber selbst die Microfiche-Suche im Archiv des örtlichen Museums ergab keine Hinweise, dass es zwischen Delphines Verschwinden und dem Artikel vom Oktober irgendwelche Berichte gegeben hätte, und weder Mary noch Kristal konnten sich an irgendwelche Meldungen erinnern. Der Artikel vom Oktober berichtete, dass die Suche nach Delphine auf ganz British Columbia ausgedehnt wurde, obwohl die Polizei ein Verbrechen ausschloss. Der für die Ermittlungen zuständige Beamte wird darin mit der Aussage zitiert, dass jedes Jahr Hunderte von jungen Menschen in der Provinz vermisst werden, von denen viele auf den Straßen von Vancouver auftauchen. „Wir haben keine Hinweise auf ein Verbrechen und ziehen das im Augenblick auch nicht in Betracht“, sagte er. Sowohl die RCMP als auch das Ministerium für öffentliche Sicherheit und der Generalstaatsanwalt von B.C. erklärten, es seien keine Statistiken über vermisste Personen in den 1990er Jahren verfügbar, aber die Zahlen von 2018 belegen rund 7.000 Vermisstenanzeigen von Kindern und Jugendlichen in British Columbia. Im nationalen Durchschnitt würden 90% der Kinder innerhalb der ersten Woche gefunden.45

„Es war wirklich schrecklich, weil wir es wussten“, sagte Mary. „Wir wussten, dass etwas passiert war.“ Die Anstrengungen der Familie, Delphine in Vancouver zu finden, liefen ins Leere. Judy hatte nach ihrer Genesung in Granisle und sogar bis nach Quesnel gesucht, 100 Kilometer südlich von Prince George. Im folgenden Jahr erschien ein Artikel über Delphine in der Zeitung.46 Nach Informationen der Interior News wollte Judy eine Belohnung aussetzen, aber „bislang scheiterten alle Versuche, Geld aufzutreiben oder Hilfe zu erhalten“. Judy wünschte, dass „einige Leute den gleichen Einsatz zeigen würden wie für den Jungen, der in Victoria vermisst wurde“, und bezog sich dabei auf den Fall des vierjährigen Michael Dunahee,47 dessen Verschwinden einen Monat zuvor auf nationale Anteilnahme stieß.

Rhonda war sich nicht sicher, wie Judy von der Missing Children Society gehört hatte. Die Organisation war zu dieser Zeit an einigen hochkarätigen Fällen beteiligt, so dass sie vielleicht etwas in den Nachrichten darüber gesehen hatte. Als Judy im Juni 1992 anrief, führte Rhonda ein erstes Interview, um Basisfakten über Delphines Verschwinden zusammenzutragen. Der Fall ging ihr sofort zu Herzen und sie war gerührt von Judys Einsatz, aber auch bestürzt angesichts der mangelnden Unterstützung, die ihr zuteil wurde. „Judy war ein Schatz“, sagte Rhonda, „ich mochte sie sehr gern.“ Sie traf Vorbereitungen, Fred Maile nach Smithers zu schicken.

Fred war ein Privatdetektiv, der die in Burnaby ansässige Detektei Canpro Investigative Services, Inc. 1992 mitgegründet hatte, nachdem er sich nach einer 25-jährigen Karriere bei der RCMP aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte. In seiner Zeit bei der RCMP hatte er an dem damals berüchtigtsten Serienmörderfall Kanadas mitgearbeitet. In einer zwanzig Monate dauernden Mordserie hatte Clifford Olson mindestens elf Kinder und Jugendliche im Süden British Columbias getötet. „Als verzweifelte Eltern sich zunächst über die Untätigkeit der Polizei beschwerten und über die Existenz eines Serienmörders spekulierten, spielten die Ermittler solche Ängste herunter. Sie beharrten darauf, dass die vermissten Jugendlichen wahrscheinlich weggelaufen seien“, vermerkte die Vancouver Sun in einem Artikel über Olsons Tod im Jahr 2011.48 Die RCMP wurde wegen ihres Vorgehens heftig kritisiert, da sie Olson, obwohl er als Verdächtiger galt, nicht festgenommen hatte, so dass er49 seine Mordserie fortsetzen konnte. Als er schließlich doch gestand, war es Fred, der bald auf dem Rücksitz eines Polizeiautos saß und Olsons Geständnis auf Band aufzeichnete, während der Serienmörder die Polizisten zu den Überresten seiner Opfer brachte und dabei erzählte, was er ihnen angetan hatte.

Fred traf am 5. April 1993 in Smithers ein, um nach Delphine zu suchen. Entsprechend der üblichen Vorgehensweise traf er sowohl mit der Polizei als auch mit Delphines Familie zusammen, um alle Informationen über den Fall zu sammeln. Er erstellte eine Chronologie der Tage vor Delphines Verschwinden. Dabei zeigte sich, dass sie kurz zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. „Am Anfang gab es viele Gerüchte, dass Delphine weggelaufen sei“, sagte Rhonda, „und ein Teil davon kam von Spekulationen, dass sie sich vor einer Konfrontation mit der Polizei drücken wollte. Das schlossen wir aber schnell aus.“ Sie wandten sich an ihre Kontakte in Vancouvers Downtown Eastside, wo oft fortgelaufene Jugendliche aus dem Norden strandeten, denn es gab Gerüchte, die Delphine dort vermuteten, doch es gab keine Spur von ihr. „Außerdem konnten wir keinen Grund finden, warum sie niemandem etwas gesagt hatte, dass sie weggehen wolle“, sagte Rhonda. Abgesehen von Gerüchten deutete nichts darauf hin, dass sie abgehauen war. Fred wollte jedoch keine Möglichkeit ausschließen und reiste selbst nach Vancouver, wo er die Straßen der Downtown Eastside auf der Suche nach Delphine durchkämmte. Er traf sich mit Streetworkern, Drogendealern, kontrollierte Obdachlosenheime und befragte Anwohner. Das Viertel ist flächenmäßig ein kleines Gebiet, das von bitterer Armut geprägt ist und dessen Bewohner zwar mit psychischen Problemen und Drogenabhängigkeit zu kämpfen haben, aber andererseits handelt es sich um eine eng verbundene Gemeinschaft, in der die Menschen einander im Auge behalten und unzählige Hilfsorganisationen arbeiten. Wäre Delphine dorthin gegangen, wäre sie mit ziemlicher Sicherheit mit den Menschen, die dort leben, und den Organisationen, die dort arbeiten, in Kontakt gekommen. Er fand nicht eine Spur von ihr.

Fred erfuhr auch, dass Delphines Cousine, die auch aus der Gegend um Smithers stammte, ebenfalls vermisst wurde. Die 1971 geborene Cecilia Nikal stieg im August 1989 in Smithers mit einem Freund in den Bus nach Vancouver, wo sie ihre leibliche Mutter besuchen wollte. Nach Freds Nachforschungen hatte Cecilia ihre Pflegemutter, bei der sie seit 1983 lebte, ein paar Tage später angerufen, um mitzuteilen, dass es ihr gut gehe und dass sie in ein paar Wochen in Smithers zurück sein würde. Aber sie kehrte nie zurück. Es ist nicht klar, ob sie jemals in Vancouver aufgetaucht ist. Cecilia wurde nie bei der Missing Children Society of Canada (MCSC) registriert, aber Fred beschloss, ihr Verschwinden weiter zu untersuchen. „Fred nahm den Fall sehr ernst, da Cecilia und Delphine so kurz hintereinander verschwanden“, erläuterte Rhonda. „Wir nahmen sie als ‚Huckepack‘ in Delphines Fall auf.“ Er suchte auch nach ihr in Vancouver, fand aber keine Anzeichen dafür, dass sie dort gewesen war. „Ich bin überzeugt, dass sie nicht dort war“, äußerte auch Rhonda, obwohl Mary ihr berichtete, ein Familienmitglied habe sie dort gesehen.

Einige Monate später, im Juli 1993, kehrte die MCSC in den Nordwesten von British Columbia zurück, um einem Hinweis nachzugehen, der kurz nach Delphines Verschwinden eingegangen war. Ein Mann, der bei einem Paketdienst arbeitete, hatte am Highway 16, etwa auf halbem Weg zwischen Smithers und Prince George, einen blutigen Schuh gefunden. „Wir wollten das Gebiet durchsuchen, um sicherzustellen, dass dort nichts Weiteres zu finden ist“, so Rhonda. Die Organisation ließ aus Portland, Oregon, zwei Leichenspürhunde einfliegen, die zum Aufspüren von menschlichen Überresten ausgebildet waren. Als sie eintrafen, hatte sich jedoch herausgestellt, dass in der Zwischenzeit ein Straßenbauteam das Gebiet aufgerissen hatte, um den Highway zu verbreitern. „Wir kamen zu der Überzeugung, dass die Bauarbeiter entweder auf Überreste gestoßen wären, wenn dort eine Leiche gelegen hätte, oder andernfalls das schwere Gerät sie weiter verschüttet hätte. Wir setzten die Hunde trotzdem ein, aber es kam nichts dabei heraus.“ Sie brachten die Hunde auch in ein Gebiet entlang des Bulkley River, etwa acht Kilometer östlich von Smithers. Eine Hellseherin50 hatte ihnen den Tipp gegeben, doch es war eine tote Spur.

Einen der vielversprechendsten Hinweise erhielten Fred und Rhonda von einer Frau, die Judy und die MCSC bei der Suche außergewöhnlich unterstützt hatte. Sie hatte mit einem Angestellten der Mohawk-Tankstelle gesprochen, an der sich Delphine von ihren Freundinnen getrennt hatte. Er behauptete, er hätte gesehen, wie Delphine in dieser Nacht in ein Auto gestiegen sei. Die Frau hatte ihre Notizen verloren und konnte sich nicht mehr an den Namen des Zeugen erinnern, aber sie erinnerte sich an die Beschreibung des Fahrzeugs: ein roter Sportwagen. Als Fred Judy fragte, ob sie jemanden mit einem solchen Wagen kenne, den auch Delphine gekannt haben könnte, konnte Judy tatsächlich einen Namen nennen. (Rhonda erklärte, sie könne den Namen nicht preisgeben, da es sich um eine laufende Ermittlung handle.) In seinem Bericht schrieb Fred: „Die Polizei hat nachweislich eine gründliche Untersuchung durchgeführt und dann alle Hinweise und Informationen als ergebnislos systematisch gelöscht.“ Fred ist inzwischen verstorben, und Rhonda hat seine Aufzeichnungen nicht. In ihren Akten findet sich keine Notiz, ob die Polizei dem Hinweis auf den roten Sportwagen nachgegangen ist. „Ich weiß nicht, ob sie das gründlich untersucht haben.“

Erst im Juni 1994, inmitten der Suchkampagne der Familie Wilson, erschien Delphines Name etwas regelmäßiger in der Lokalzeitung.

Doch nach Kristals Meinung nahm die Öffentlichkeit immer noch zu wenig Notiz von den Fällen, denn wenn schon „auf Ramonas Verschwinden nicht reagiert wurde, dann war es in Delphines Fall noch schlimmer“. Fred erzählte einem Reporter,51 er sei überzeugt, dass die für Delphines Verschwinden verantwortliche Person aus dem Gebiet um Smithers oder Terrace stamme, und empfahl eine verstärkte Medienpräsenz, einschließlich einer Nachinszenierung der Vorgänge. Der Artikel zitierte Freds Bericht vom August 1993: „Es muss einfach jemand geben, der gesehen hat, wie sie trampte und von irgendjemand mitgenommen wurde … Die Gemeinde und/oder eine indigene Organisation sollten alle Anstrengungen unternehmen, um eine beträchtliche Belohnung für sachdienliche Hinweise auszusetzen. Dies sollte Teil einer geballten Medienkampagne sein.“ Schließlich koordinierte die MCSC das „Re-enactment“ und setzte eine Belohnung in Höhe von 10.000 Dollar für Hinweise im Fall Ramonas oder Delphines aus. Die RCMP schickte Constable Gerry Marshinew aus Prince Rupert, um die Polizeiinspektion mit Nachforschungen im Fall der vermissten Mädchen zu unterstützen. Im Juli 1994 äußerte er gegenüber den Interior News,52 dass die Polizei nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob die beiden Fälle zusammenhängen. „Ich kann das weder bestätigen noch verneinen, denn ich weiß es einfach nicht. Im Augenblick gibt es keine Verknüpfung.“ Die verstärkte Aufmerksamkeit schien Wirkung zu zeigen, denn bis August waren bei der Polizei 175 Hinweise aus der ganzen Provinz eingegangen. In Smithers selbst war weder besondere Entrüstung über das Verschwinden der beiden Mädchen noch besondere Unterstützung zu erkennen, und die Anerkennung für die Bemühungen, die Mädchen zu finden, hielt sich ebenfalls in Grenzen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es eine Menge Aktivitäten diesbezüglich gab“, so Bill Goodacre. „Es war nur ein trauriger Unterton.“

Judy befürchtete, dass die Polizei in der Anfangsphase der Ermittlungen etwas übersehen habe, da sie in Delphine nur eine Ausreißerin sahen, aber kein vermisstes Kind. Hätte die RCMP schneller gehandelt, sollte sie später einem Reporter erzählen, „hätten sie sie vielleicht gefunden“.

Unter Freds Anleitung hatte Rhondas Organisation schnell gelernt, dass es entscheidend ist, jeden Fall eines vermissten Kindes als Worst-Case-Szenario zu behandeln. Das bedeutet, dass man den Fall vom ersten Augenblick an ernst nimmt und sofort mit der Arbeit beginnt, Tür-zu-Tür-Befragungen durchführt und eine Chronologie der Ereignisse erstellt. „Wenn man den Fall nicht von Anfang an ernst nimmt, gehen zu viele wertvolle Informationen verloren.“53 Dies stand im Widerspruch zu der üblichen Praxis der Polizei, vor Beginn einer Durchsuchung ein paar Tage zu warten, denn normalerweise tauchten vermisste Personen innerhalb von ein oder zwei Tagen wieder auf. Aber wenn die Person nicht auftauchte, bedeutete das den Verlust von wertvoller Zeit und wichtigen Informationen. Rhonda kennt diese Situation: „Auch wir hatten zahlreiche Fälle, in denen wir sofort reagierten, obwohl sich herausstellte, dass das Kind nur auf einer Wochenendparty war. Wir hatten vielleicht Ressourcen verschwendet – dennoch war es nicht umsonst, denn wenn der Fall eine schlechte Wendung genommen hätte, so hätten wir bereits einen Vorsprung in den Ermittlungen gehabt.“

Judy suchte ihre Tochter überall in B.C. bis hinunter nach Vancouver. Sie kontaktierte Reporter und versuchte ihr Interesse zu wecken und damit auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen. Sie suchte Hellseher auf, von denen einer ihr erzählte, Delphine sei entführt worden und befände sich irgendwo in der Nähe eines Flusses. Diese Informationen reichten nicht, um zu wissen, wo sie suchen sollte. Sie betete. „Ich war meinen Kindern immer eine gute Mutter. Ich stelle mir immer wieder die Frage: Warum ich?“ 1995 schrieb Judy einen Brief an den Herausgeber der Interior News:

„Mein Name ist Judy Nikal, verheiratete Magee, und es ist allseits bekannt, dass meine jüngste Tochter Delphine Nikal vermisst wird. In diesem Monat ist es fünf Jahre her, dass sie verschwand.

Es ist sehr belastend zu sehen, wie viele Anstrengungen die Gemeinde unternommen hat, um die Familie von Ramona Wilson zu unterstützen, um Spenden zu sammeln und vieles mehr, während nichts unternommen wurde, um meine Tochter zu finden.

Es scheint, dass alles Mögliche getan wurde, um Ramona zu finden, und ich missgönne ihrer Familie das nicht. Aber ich fühle mich wie ein Mensch zweiter Klasse, seit ich gebettelt, Briefe geschrieben, unzählige Telefonate getätigt und alle erdenklichen Wege beschritten habe, um Unterstützung bei der Suche nach Delphine zu erhalten.

Aber ich bin immer nur gegen eine Mauer des Schweigens gerannt.

Warum? Interessiert sich niemand für das Schicksal meines Kindes? Mein Herz ist gebrochen und traurig. Es fällt mir schwer, dazusitzen und mitanzusehen, wie nichts geschieht und keine Hilfe naht.

Finanziell ist mir nichts mehr geblieben, ich bin emotional ausgelaugt und körperlich krank. Kann mir niemand helfen? Bitte – auch ich liebe mein Mädchen.“54

Judy hatte sich von der Operation und ihrem Koma 1990 zwar erholt, aber sie wurde nie wieder richtig gesund – physisch und psychisch, sagte Mary. „Ich glaube, sie hat einfach aufgegeben.“ Judy starb 1995.

Highway der Tränen

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