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VORWORT VON MARY TEEGEE
ОглавлениеFür mich als indigene Frau ist die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, sechsmal höher als für meine nicht-indigenen Schwestern. Schon allein aufgrund der Tatsache, dass ich eine Frau und eine Indigene bin, bin ich einem hohen Risiko ausgesetzt. Dies ist meine Lebenswirklichkeit. Ich bin eine Zahl in der Statistik. Jessica McDiarmids Buch erfüllt diese Statistiken mit Leben und gibt den bloßen Zahlen ein Gesicht. Die Mädchen und Frauen, deren Schicksale das Buch erzählt, waren Töchter, Schwestern, Mütter, Tanten, Großmütter oder Freundinnen derjenigen, die sie geschätzt und geliebt haben. Sie werden noch immer geliebt. Sie waren ein wichtiger Teil der Gemeinschaft, doch nun fehlen sie.
Seit vielen Jahren engagiere ich mich auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene, um das Bewusstsein für das Thema der verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen in Kanada zu schärfen, denn das Problem betrifft mich persönlich: Meine Cousine, Ramona Wilson, die von vielen geliebt und geschätzt wurde, verschwand 1994 am Highway 16 in British Columbia; ihre Überreste wurden ein Jahr später gefunden. Ramona war nicht nur eine schöne junge Frau, sie war auch eine kluge, entschlossene und temperamentvolle Persönlichkeit, der alle Chancen offenstanden. Wann immer meine Tante und ihre Geschwister von ihr erzählen, lässt sich spüren, wie stolz sie auf Ramona waren. Ihr tragisches Ende im zarten Alter von 16 Jahren hinterlässt eine unheilbare Wunde im Herzen unserer Familie.
Das Buch ist eine dringliche Mahnung, dass diejenigen, die es versäumt haben, ihre Lektionen aus der Vergangenheit zu lernen, verdammt sind, diese zu wiederholen. Jessica zeichnet ein klares Bild des politischen und sozialen Klimas, in dem viele junge Frauen am Highway 16 verschwanden. Die 1990er Jahre waren eine Zeit politischer Unruhen, denn viele Kanadier fürchteten, dass Verträge mit den Regierungen der First Nations zum Verlust von Jobs, Wohlstand und Ressourcen führen würden. Der Zustrom von Arbeitern im Ressourcenbereich ließ die Zahl der hauptsächlich von Männern bewohnten Arbeitercamps ansteigen. Öffentliche Transportmittel fehlten ebenso wie wesentliche Gesundheitsversorgung, Sozialdienste und Bildungseinrichtungen.
Noch heute sehen wir uns im Norden denselben Faktoren ausgesetzt, welche indigene Frauen und Mädchen so verwundbar machen. Vor allem gibt es Konflikte zwischen Indigenen und Nicht-Indigenen im Norden hinsichtlich der Nutzung der Ressourcen. Die geplante Flüssiggas-Anlage in Kitimat und andere Ressourcenprojekte werden zu einem Anstieg der Arbeitercamps führen, während die Indigenen weiterhin kaum Zugang zu den mangelnden Dienstleistungen haben. Obwohl für den Norden British Columbias ein Verkehrsplan entwickelt wurde, der ein begrenztes Angebot an Busverbindungen entlang des Highway 16 geschaffen hat, stellte andererseits Greyhound seine Buslinien in der Provinz ein.
2006 organisierten der Carrier Sekani Family Services und die Lheidli T‘enneh das „Highway of Tears Symposium“ mit rund 700 Teilnehmern. Dies war der Beginn der gemeinschaftlichen Bemühungen von Regierungsebenen, indigenen Gemeinden, Opferfamilien und verschiedenen Dienstleistern, sich zu treffen, auszutauschen und zu diskutieren. Das Symposium resultierte in einem Bericht mit 33 Empfehlungen zur Lösung der systemischen, historischen und gegenwärtigen Probleme, mit denen sich die entlang des Highways lebenden Menschen konfrontiert sehen. Auf der Basis dieser Empfehlungen entstand das „Highway of Tears“-Gremium, dem Mitglieder der Opferfamilien sowie Vertreter von Regierung und Service-Organisationen angehörten, welche die „Highway of Tears“-Initiative (HOT) ins Leben riefen. Die HOT-Initiative sollte die Umsetzung der Empfehlungen koordinieren und überwachen. Ich hatte die Ehre, den Vorsitz des HOT-Vorstandes zu übernehmen und der Arbeit die Initiative durch den Familiendienst der Carrier Sekani zu leiten.
Als Jessica mit ihrem Wunsch, ein Buch über den „Highway der Tränen“ zu schreiben, an mich herangetreten ist, habe ich ihre Anfrage dem Vorstand unterbreitet, der ihre Arbeit befürwortet und unterstützt hat. Nachdem sie jahrelang in der Menschenrechtsarbeit in Afrika tätig gewesen war und für den Toronto Star als Journalistin arbeitete, kehrte Jessica in ihre Heimat im Norden zurück, um ihre eingehende Untersuchung zum „Highway der Tränen“ darzulegen. Jessica hat „Blut, Schweiß und Tränen“ in dieses Buch investiert, wie die unzähligen Stunden an Recherchen und Interviews belegen. Sie hat einem äußerst sensiblen und komplexen Thema wahrhaftig Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Ich bin Jessica dankbar dafür, dass sie die Geschichte des „Highway of Tears“ so prägnant und gründlich dokumentiert hat, damit die Schicksale unserer Frauen und Mädchen niemals vergessen werden. Ich bin dankbar, weil die Arbeit, Energie und Leidenschaft, die wir investiert haben, um Aufmerksamkeit für unsere verschwundenen und ermordeten Mädchen und Frauen zu erregen, in den Erzählungen unserer Geschichten zum Ausdruck kommen. Um es mit Jessicas Worten zu sagen: „Ramona war all die Jahre hier: in dem Mut, der aus den Augen ihrer Mutter funkelte, in der kraftvollen Stimme ihrer Schwester, in all der Arbeit, die sie geleistet haben.“ Es liegt noch so viel Arbeit vor uns.
Dieses Buch ist eine Würdigung all unserer Kämpferinnen und Kämpfer, die Gerechtigkeit für jene verlangen, die selbst keine eigene Stimme mehr haben. Durch ihre Worte lieh Jessica McDiarmid jenen, deren Stimmen wir nicht mehr vernehmen können, ihre Stimme im Kampf um Gerechtigkeit. Indem sie die Geschichte des „Highways der Tränen“ erzählt hat, wurde Jessica zu einer von unseren Kriegerinnen. Dafür wird ihr meine Familie für immer dankbar sein.
Mary Teegee
Maaxsw Gibuu (Weißer Wolf)
Geschäftsführerin Kinder- und Familienfürsorge,
Carrier Sekani Familiendienst
Vorsitzende, B.C. Delegated Indigenous Agencies
Präsidentin, B.C. Aboriginal Childcare Society