Читать книгу Highway der Tränen - Jessica McDiarmid - Страница 14

EIN TEIL VON DIR FEHLT

Оглавление

Nur wenige Wochen, nachdem Ramona im Juli 1994 zuletzt gesehen wurde, landete ein Team der Missing Children Society of Canada auf dem Flughafen von Smithers. Das Team bestand aus Rhonda Morgan, Fred Maile, einer weiteren Ermittlerin namens Susan Antonello und Mary Martin, einer Hellseherin aus Louisiana. Jedes Mal, wenn ein Kind vermisst wird und der Fall in die Nachrichten gelangt, kommen die Hellseher aus der Versenkung gekrochen. Bei jedem neuen Fall wurde die Organisation mit Tipps von Menschen überschüttet, die Rhonda nach jahrelanger Erfahrung nur als „Spinner“ bezeichnete. Aber sie wies die angebotene Hilfe von Hellsehern nicht gänzlich zurück, denn in manchen Fällen hatte die Organisation mit einigen erfolgreich zusammengearbeitet. Mary Martin war eine von ihnen.

Mary hatte Rhonda einige Hinweise von ihrer Heimat in Louisiana aus gegeben, und die Gesellschaft beschloss, sie nach Smithers zu holen. Sie verbrachten viel Zeit in Moricetown, da Mary das Gefühl hatte, Ramona könnte sich irgendwo in dem Areal zwischen der Schule des Reservats und dem wild zerklüfteten Canyon befinden. Sie behauptete auch, sie würde „starke Schwingungen“ empfangen, dass Ramona im Gebiet zwischen dem Reservat und Smithers sei. Aber daraus wurde nichts. Mary und der Rest des Teams kehrten bald nach Hause zurück.

Mary rief Rhonda an, sobald sie wieder zu Hause gelandet war, und erzählte, ein Geist habe ihr gesagt, Ramona befinde sich am Ende der Startbahn des Flughafens. Außerdem habe sie eine Reihe von Hinweisen gespürt: Sie sah einen weißen Hügel, die Farbe Gelb (yellow), einen Teich und zwei Wasserfälle, den Schriftzug „Flughafen vier“ und ein Lichtermuster, das sie gezeichnet und an Rhonda geschickt habe. Als Rhonda im August nach Smithers zurückkehrte, um gemeinsam mit Susan Antonello die Suche fortzusetzen, fuhren sie zum Flughafen, um zu überprüfen, ob sie dort irgendwas finden würden, das mit Marys Hinweisen übereinstimmte.

Als sie sich dem Flughafen näherten, entdeckten sie auf beiden Seiten der Straße Schilder, welche die Entfernung zur Abzweigung zum Flughafen anzeigten: „Flughafen 4“. Sie waren überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein. Sie warteten, bis es dunkel war, und gingen dann zum Flughafen, um das Personal zu bitten, die Lichter der Startbahn einzuschalten. Sie wollten sehen, ob die Lichter mit Marys Zeichnung übereinstimmten – und das taten sie. Der Mann, der dort arbeitete, war fasziniert und wollte wissen, welche anderen Hinweise es gab. Ermittler müssen sehr vorsichtig sein, welche Informationen sie der Öffentlichkeit preisgeben, so dass Rhonda nur sehr vage von gelber Farbe sprach. Der Mann drückte ihr ein Fernglas in die Hand und forderte sie auf, ihren Blick nach Norden zu richten, dorthin, wo in der Ferne die Scheinwerfer von Autos zu sehen waren, welche eine Straße entlangfuhren. „Das ist die Yellich Road“, sagte er.

Bei Tagesanbruch fuhren Rhonda und Sue die Yellich Road entlang und suchten auf beiden Seiten nach weiteren Spuren, die zu den Anhaltspunkten passten, die Mary ihnen gegeben hatte. Dann parkten sie das Auto und Rhonda schaute zu Sue hinüber. „Was, zum Teufel, tun wir hier?“, fragte sie. „Sie könnte überall sein.“ Sie fuhren zurück in die Stadt.

Rhonda und Fred fuhren raus zu den Wohnblocks am Lake Kathlyn, die fünf Kilometer westlich der Stadt lagen und aussahen wie eine Reihe heruntergekommener Motels. Hier hatten Brenda und Matilda nach Ramona gesucht, nachdem sie verschwunden war. Dort wollten Rhonda und Fred den Mann aufsuchen, der damals die Party veranstaltet hatte. Aber Rhonda berichtete auch, ihr Team sei vor dem jungen Mann gewarnt worden, denn er sei ein Drogendealer und es könnte sein, dass sie auf eine potenziell gewalttätige Gruppe von Leuten stoßen würden, die dort herumhängen. Während Rhonda und Fred zur Wohnung gingen, ließen sie Susan Antonello zur Vorsicht im Auto warten und hatten ihr klare Instruktionen erteilt: Sollten sie nicht bald zurückkommen, sollte Susan zur RCMP-Wache fahren und Hilfe holen. Sie fuhren noch ein paar Mal zur Wohnung, doch die Leute, die sie dort trafen, waren nicht sonderlich kooperativ. Keiner konnte oder wollte sich erinnern, Ramona damals gesehen zu haben. Sie befragten Mitarbeiter in den Geschäften, an denen Ramona vielleicht vorbeigekommen war, und sie fragten an einer Tankstelle nach, von der aus man einen guten Blick auf die Stelle am Highway hat, an der die Leute gerne trampten. Sie gingen in der ganzen Stadt von Tür zu Tür. Sie veranlassten auch, dass Polizeihunde ein Waldgebiet hinter der Alfred Avenue in der Nähe von Ramonas Wohnort absuchten, wo die Leute einen üblen Geruch gemeldet hatten. Aber sie fanden nichts. Ramona Wilson verschwand an der Alfred Avenue, um nie mehr wiederzukehren.

Es lässt sich nicht mehr feststellen, welche konkreten Maßnahmen die Polizei unternommen hatte, um Ramona und Delphine zu suchen. Die Polizeiakten sind nicht öffentlich zugänglich, und die Polizeibeamten sind sehr zurückhaltend, welche Ermittlungsdetails sie preisgeben. Wenn sie falsche Informationen herausgeben, kann dies die Verwendung von Beweismaterial beeinträchtigen, zukünftige Gerichtsverfahren gefährden und Menschen schaden. Die Verschwiegenheit sei notwendig, um „die Vollständigkeit der Informationen für das Gericht zu schützen“, sagte Staff Sergeant Wayne Clary,55 der viele Jahre später eine Polizeieinsatztruppe leitete, die eine Reihe von „Highway of Tears“-Fällen untersuchte. „Dies dient auch der Verlässlichkeit von Zeugenaussagen. Wenn ein Zeuge vor Gericht aussagt, was er weiß oder was nicht, ist der Wert dieser Aussagen begrenzt, wenn die Informationen bereits vorher an die Öffentlichkeit gelangt sind. Dies gilt natürlich umso mehr für einen Angeklagten und sein Geständnis.“

Garry Kerr, ein pensioniertes RCMP-Mitglied, der leitender Ermittler in einem „Highway of Tears“-Fall war und in einigen weiteren Fällen die Überprüfung der Polizeiakten leitete, ist jedoch der Meinung, dass die RCMP es mit der Verschwiegenheit oft übertreibt und damit die Aufklärung der Fälle behindert. „Die RCMP schafft es nicht, den richtigen Umgang mit den Medien zu finden, in 99% der Fälle versaut sie es einfach“, sagte Garry, der von sich behauptete, in seiner Karriere einen guten Draht zu den Medien gefunden zu haben, was bei seinen Vorgesetzten allerdings nicht gut ankam. „Es ist frustrierend, denn die RCMP könnte davon profitieren. Wenn man die Bevölkerung um Informationen und Mithilfe bittet, dann geht das mit Unterstützung der Medien viel einfacher.“56

Michael Arntfield, ein Kriminologe und ehemaliger Polizeibeamter, sagte, dass Studien belegen, dass etwa 90% der Verbrechen durch irgendeine Form der Bürgerbeteiligung gelöst werden. Die Philosophie einer „Mauer des Schweigens und der Geheimhaltung“ stelle ein „Hindernis zur Lösung eines Falls“ dar, denn sie hält die Öffentlichkeit davon ab, sich zu beteiligen. „Die RCMP ist nicht die CIA. Die Beamten stehen im Dienst der Öffentlichkeit und werden von dieser finanziert. Die ganze Geheimniskrämerei ist nur eine bequeme Ausrede, um den Job nicht richtig zu machen. Solange keiner weiß, was du tust, kann auch keiner beurteilen, ob es richtig oder falsch ist. Das ist Teil des großen Geheimnisses.“57

Lorimer Shehner, ein pensionierter Detective des Vancouver Police Department, der dutzende Fälle von vermissten Frauen in der Stadt untersuchte, nannte die Geheimhaltung „einen Machttrip“.58 Seiner Meinung nach können auch mangelnde Ressourcen ein Grund für die schlechte Kommunikation sein – typischerweise wäre der leitende Ermittler für die Kommunikation mit den betroffenen Familien und der Öffentlichkeit zuständig, doch viele Ermittler „glauben, dass ihre Zeit besser investiert wäre, die Vermissten zu finden, statt mit den Familien zu sprechen“, so Shehner. „Aber da muss es ein Gleichgewicht geben. Ehrlich gesagt, mangelt es ein wenig an Respekt für die Familien.“

Ramonas Familie hatte nicht das Gefühl, dass die Polizei ihre Sorgen ernst nahm oder sich sehr darum bemühte, sie zu finden – ein Empfinden, das von vielen Familien und indigenen Gemeinden im Hinblick auf die vermissten und ermordeten Angehörigen entlang des Highways immer wieder geteilt wird.

Die RCMP beharrt darauf, dass sie die Ermittlungen gründlich durchgeführt habe. Zur Überprüfung dieser Behauptung gibt es keine wirkliche Möglichkeit, denn jenseits von Zeitungsberichten und Erinnerungen gibt es keine öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen über die Maßnahmen. Die weit verbreitete Einschätzung vieler Familien ist jedoch klar: Die Polizei interessierte sich nicht für die Fälle. Das Verhältnis zwischen der RCMP und vielen First Nations war miserabel. Rhonda Morgan erkannte dies deutlich: „Ich denke, es gab eine Menge Frustration auf beiden Seiten.“ Sie wusste, dass die Familien die Polizei als desinteressiert empfanden; in einigen Fällen war die Polizei zu schnell dabei, bestimmte Personen oder Informationen abzuschreiben. „Sie vertrauen einander nicht.“59

Während der Sommer verging, kursierten die Gerüchte weiter, dann tauchte jemand bei der RCMP-Dienststelle in Smithers auf, der Knochen dabeihatte, die angeblich menschlichen Füßen ähnelten und in der Wildnis gefunden worden waren. Es stellte sich heraus, dass es Bärentatzen waren. Die Leiche einer Jugendlichen wurde 200 Kilometer östlich in der Nähe des Highways bei Burns Lake gefunden. Es war Roxanne Thiara, eine Fünfzehnjährige aus Prince George, die wenige Wochen nach Ramona verschwunden war.

Matilda hatte kein Geld, um eine Belohnung auszusetzen oder genügend Fotokopien zu machen, um sie überall aufzuhängen. Der Gitanmaax-Band Council (gewählter Stammesrat) stellte kurzfristig 1.000 Dollar für Informationen zur Verfügung, aber Matilda wusste, dass das nicht reichen würde. Sie wollte 10.000 Dollar. Die Familie startete eine Spendenkampagne. Matilda fertigte Lederwesten und perlenbestickte Mokassins an; Brenda stellte Ohrringe, Halsketten und Armbänder her. Sie backten. Als im Dezember 1994 die Weihnachtsbeleuchtung der Hauptstraße erstrahlte und Weihnachtslieder aus den Schaufenstern drangen, saßen Matilda und Brenda an einem Plastikklapptisch in einem kleinen Einkaufszentrum am Highway, in dem sich eine Apotheke, ein Lebensmittelgeschäft und ein Laden mit preiswerter Kleidung befanden, und verkauften Kekse und Tombola-Lose. Der erste Preis war eine Weste, der zweite Preis ein „Dream-Catcher“ (Traumfänger), der dritte und vierte Preis waren Halsketten und Ohrringe. Die Lose kosteten je zwei Dollar, für fünf Dollar gab es drei Lose.

Sie verdienten 500 Dollar.60

Weihnachten kam und ging, ebenso wie Silvester. Die Lichter, Kränze und Bänder, die jedes Jahr im Dezember entlang der Hauptstraße aufgehängt werden, wurden für eine weitere Saison eingepackt. Noch immer gab es keine Neuigkeiten. Das Bankkonto, das für die Spenden für die Belohnung eingerichtet worden war, belief sich auf 1.500 Dollar – das Geld vom Band Council und die Einnahmen aus der Tombola. Das Interesse der Öffentlichkeit und der Polizei an Ramona schien zu schwinden.

Brenda hatte früher nur gelegentlich in Gesellschaft getrunken, aber nach dem Verschwinden ihrer Schwester war sie mehr und mehr auf den Alkohol angewiesen, um durch den Tag zu kommen. „Ich hatte einen guten Job, ich hatte gerade eine Familie gegründet und die Dinge fingen gerade an, sich positiv für mich zu entwickeln. Dann brach einfach alles auseinander.“61 Dennoch organisierte sie einen Benefizball, um Geld für die Belohnung zu sammeln. Eine lokale Band sollte auf der Veranstaltung spielen, es sollte Preise geben und natürlich Tanz. In der Zeitung erschien ein kurzer Artikel über die Spendenaktion und ein offener Brief mit dem Titel „Ein Teil von dir fehlt“. Brenda hatte ihn an jene adressiert, die vielleicht wissen könnten, wo Ramona war:

„Du weißt, wie schwer es ist, jeden Tag aufzuwachen und zu spüren, dass ‚ein Teil von dir‘ einfach nicht mehr da ist. Abends kannst du einfach nicht einschlafen, weil dieser ‚Teil von dir‘ dich immer wieder mit schrecklichen Gedanken verfolgt, warum dieser ‚Teil von dir‘ nicht da ist … Du weißt, dass es nur wenige Menschen gibt, die dir helfen können, diesen ‚Teil von dir‘ zurückzubekommen, aber sie haben einfach Angst davor, dir zu sagen, wie du ihn zurückbekommen kannst. Aber du weißt, dass sie keine Angst haben müssen, da du sehr verständnisvoll bist. Das Beste, was diese Menschen tun können, um diesen ‚Teil von dir‘ zurückzubringen, ist, dir einen Hinweis zu geben, wo du suchen musst.“62

Im selben Monat, im Januar 1995, wurde Melanie Carpenter aus dem Friseur-Salon, in dem sie in Surrey, etwas außerhalb von Vancouver, arbeitete, entführt. Auf einer Pressekonferenz einige Tage später zog ihr Vater, Steve Carpenter, ein Bündel von 100-Dollar-Noten, insgesamt 20.000 Dollar, als Anreiz für die sichere Rückkehr seiner blonden, 23-jährigen Tochter hervor.63 Bald erhöhte er die Belohnung auf 50.000 Dollar. Die Geschichte machte in ganz Kanada Schlagzeilen, und Hunderte von Freiwilligen durchkämmten das Lower Mainland auf der Suche nach Melanie. Eine gute Woche nach ihrer Entführung wurde der Hauptverdächtige, Fernand Auger, ein verurteilter Sexualstraftäter, der sich auf Bewährung auf freiem Fuß befand, tot in einem Mietwagen in der Garage eines leerstehenden Bauernhauses südlich von Calgary aufgefunden, offensichtlich durch Selbstmord.64

Elf Tage später fanden zwei Männer die Leiche von Melanie eingewickelt in einen Schlafsack am Ufer des Fraser River in der Nähe von Yale, B.C., einer Kleinstadt am Trans-Canada Highway nördlich von Hope. Viertausend Menschen nahmen an ihrer Trauerfeier teil, die im Pacific Coliseum von Vancouver stattfand.65 Polizeibeamte mit gelben Bändern, die ihre Unterstützung signalisierten, schlossen sich der Menge an und auf den Anzeigenschildern der Stadtbusse blitzte der Schriftzug „Remember Melanie“ auf. Mitarbeiter von B.C. Hydro, dem Energieunternehmen, bei dem Melanies Mutter arbeitete, sammelten 8.000 Dollar, um die Kosten für die Suchaktion zu decken. Bei dem Gottesdienst, der live im Fernsehen übertragen wurde, stand Steve vor einer trauernden, wütenden Nation und sagte, seine Tochter sei zu etwas mehr geworden: „Heute verabschiede ich sie als Kanadas Tochter.“

Steve startete eine Kampagne,66 die darauf abzielte, die Bewährungsbedingungen zu verschärfen, um Gewalttäter wie Fernand Auger lebenslang im Gefängnis zu behalten. Die Dynamik war greifbar; im ganzen Land gingen Menschen dafür auf die Straße.67 Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Melanies Ermordung hervorrief, war nahezu beispiellos – und einige warnten vor dem Ausbruch einer gefährlichen Hysterie, die die Politik und öffentliche Debatte nicht beeinflussen dürfe. „Dies ebnet den Boden für Demagogen“, warnte Bob Hackett, Professor für Kommunikation an der Simon Fraser University, in einem Zeitungsartikel.68 Die Medien, so argumentierte er, reagierten auf die Carpenter-Geschichte nicht aufgrund des Falls, sondern aufgrund ihrer Herkunft.

„Lassen Sie mich Ihnen folgende Frage stellen: Glauben Sie, dass Melanie Carpenter so viel Aufmerksamkeit erhalten hätte, wenn sie eine Indigene gewesen wäre, die entführt wurde?“ Wie viele Gemeinden im ganzen Land unterstützte auch ein Großteil der Bevölkerung von Smithers die Kampagne und die Stadt organisierte eine Benefiz-Tanzveranstaltung im Frühjahr. An der Veranstaltung nahm ein populärer lokaler Musiker teil und lokale Unternehmen spendeten Waren und Gutscheine im Wert von schätzungsweise 6.000 bis 8.000 Dollar. Die Veranstaltung brachte 6.200 Dollar ein und lockte jedoch nur etwa 100 Personen an. Zur Benefizveranstaltung der Wilson-Familie kurz zuvor war fast kein Mensch erschienen und die Fundraising-Aktion konnte mit Mühe die Kosten decken.


Matilda Wilson, Mitte, mit ihren Kindern. Ramona, unten rechts, war der Sonnenschein der Familie.

Am 27. Januar 1995 erhielt die RCMP einen Anruf von einem Mann, der seinen Namen nicht nennen wollte. Er sagte, ein Freund habe ihm erzählt, was mit Ramona passiert sei. Sie sei, so sagte er, westlich von Smithers zu finden. RCMP Corporal Bob Paulson vom Ermittlungsteam in Prince Rupert erklärte, dass die Polizei den Hinweis „sehr vielversprechend findet“ und dieser sich mit anderen Informationen decken würde, die ebenfalls auf dieselbe Region hindeuteten. Die Ermittler benötigten jedoch mehr Informationen, „um aktiv werden zu können“.69

Im Februar, eine Woche vor Ramonas siebzehntem Geburtstag, kündigte die Missing Children Society of Canada an, dass sie eine Belohnung von 10.000 Dollar für Informationen über Ramona und Delphine zahlen würde. Das war nicht die übliche Praxis der Organisation – normalerweise konnten die Familien das Geld für die Belohnung selbst auftreiben – aber es war die richtige Entscheidung, nachdem jemand aus Smithers bei Rhonda angerufen und sich über die mangelnde Unterstützung für die Familien beschwert hatte. Die Ankündigung der Belohnung wurde von einer „Breitenkampagne“ begleitet, bei der „Vermisst“-Plakate im ganzen Nordwesten von British Columbia verteilt wurden.70

Und dennoch: nichts. Kristal Grenkie verbrachte Stunden über ein Ouija-Brett (das für spiritistische Sitzungen verwendet wird) gebeugt und befragte das Orakel, wo ihre Freundin sei und wer für ihr Verschwinden verantwortlich sei. Matilda schrieb einen offenen Brief, in dem sie den Hinweisgeber bat, er möge mit weiteren Informationen zurückrufen. Sie versicherte ihm garantierte Verschwiegenheit. Sie sagte, alles, was sie bräuchten, sei ein wenig mehr Information darüber, wo sie suchen müssten. Sie bot die Belohnung von 10.000 Dollar an. Sie schrieb unter anderem:

„Ich weiß, dass es schwer ist, etwas zu wissen oder zu beobachten, an dem man nicht beteiligt sein wollte. Es wird härter für Sie sein, damit Ihr ganzes Leben lang zu leben; früher oder später wird die Wahrheit ans Licht kommen müssen. Sie werden sich von einer schweren Last befreit fühlen, wenn Sie mir und meiner Familie helfen können, Ramona zu finden – ich sage das nur ungern – tot oder lebendig. Ich will nicht, dass sie da draußen liegt, wenn jemand weiß, wo sie ist… Wenn sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, möchte die Familie nur, dass Sie uns den genauen Ort nennen, und wir werden von dort aus weitermachen. Bitte haben Sie keine Angst, denn Sie werden nicht in Ermittlung hineingezogen, solange Sie der RCMP die wichtigsten und spezifischen Einzelheiten nennen. Sie werden nie wieder belästigt werden.“71

Im Frühjahr 1995 fuhren zwei Teenager mit dem Geländewagen über eine schlammige Lichtung in der Nähe der Yellich Road. Die schmale, unbefestigte Straße biegt elf Kilometer westlich von Smithers vom Highway ab, führt an einigen Grundstücken vorbei, bevor sie am Nordrand der Flughafenlandebahn vorbeischrammt und dann um alte Rugbyfelder biegt, wo die Jugendlichen des Ortes gerne Partys feierten. Es war der 9. April. Es war immer noch kühl, als sich die ersten grünen Triebe in den Pappelhainen zeigten, die die Straße flankierten, und der Waldboden zeigte ein dumpfes Grau-Braun, das die Schneeschmelze hinterlassen hatte. Die Jungen blieben mit ihrem Fahrzeug stecken und gingen in den Wald, um einen Ast zu finden, den sie als Hebel verwenden konnten.

Stattdessen fanden sie am Waldrand eine Leiche, über die sich das Dickicht der Äste wie ein Baldachin spannte. Neben dem Leichnam lagen ein Stück leuchtend gelbes Seil und drei weiße Plastikkabelbinder. In der Nähe lagen verstreut einige Kleidungsstücke – Leggings und ein lila Sweatshirt.72

Das Telefon klingelte in Matildas Haus in der Railway Avenue. Ein Beamter erzählte ihr von den Überresten, die am Flughafen gefunden wurden, und sagte ihr, sie seien sich noch nicht sicher, wer es war. Doch da hatte Matilda dieses Gefühl, ihre Eingeweide verkrampften sich. Bald darauf rief die Polizei zurück. Sie hatten die Leiche anhand der zahnärztlichen Unterlagen identifiziert.

Matilda wurde auf die Polizeistation gerufen, um einige der bei ihrer Tochter gefundenen Gegenstände zu identifizieren. Die ganze Familie kam mit, nicht nur Ramonas Geschwister, sondern auch Tanten und Onkel, Cousins, Cousinen und Freunde. Kristal war da und ein Vertreter der High School. Die Gruppe drängte sich in die kleine RCMP-Wache. Es war heiß und stickig mit all den Leuten. Einige der Familienmitglieder wurden in einen kleinen Raum gebracht, in dem einige Kleidungsstücke ausgelegt waren. Der Beamte wollte wissen, ob dies Ramonas Kleidung war. Die Familie weinte, hielt sich gegenseitig fest. Ja, das sind Ramonas Kleider, sagte Matilda. Der Offizier markierte etwas auf seinem Klemmbrett.

„Wo sind ihre Schuhe?“ fragte Matilda. „Ich hatte ihr gerade Reeboks gekauft. Sie war so stolz auf sie, weil Spitzenathleten sie tragen.“ Die Polizei hatte keine Schuhe gefunden. Vielleicht hatte ein Tier sie weggeschleppt. Doch Matilda wollte sich mit der Antwort nicht zufriedengeben. Sie wollte, dass man die Schuhe fand. Am nächsten Tag fuhren sie mit Ramonas Onkel zur Yellich Road. Sie durchkämmten den Busch kilometerweit auf der Suche nach den weißen und rosafarbenen Reeboks, doch sie wurden nie gefunden. Die Polizei sagte, der Mord sei offensichtlich „sexuell motiviert“ gewesen und habe sich wahrscheinlich zehn Monate zuvor an dieser Stelle am Waldrand ereignet.73

Matilda begrub ihre jüngste Tochter auf dem Friedhof von Smithers, weniger als zwei Kilometer von dem Krankenhaus entfernt, in dem sie geboren wurde. Matilda, die gerade und aufrecht stand, erzählte einem Lokalreporter, sie habe eine Mitteilung für den Mann, der ihre Tochter ermordet hatte. „Ich möchte ihm eine Nachricht überbringen. Ich möchte ihm sagen, dass es einen Gott gibt. Und er wird für seine Tat auf die schlimmste Weise bezahlen. Diese Zeit wird für ihn kommen. Er muss nur warten. Niemand kommt mit Mord davon. Niemand.“

Dann brach Matilda zusammen. Sie ging nach Hause und quälte sich beim Gedanken daran, wie ihre Tochter gestorben war, wie diese letzten Momente gewesen waren, was Ramona dachte, als sie ihren letzten Atemzug tat. Matilda begann zu trinken, und sie dachte nicht, dass sie aufhören würde, bis auch sie tot war. Sie wollte an einen anderen Ort gehen, dorthin, wo Ramona jetzt war. Sie plante keinen Selbstmord. Sie trank einfach und wartete auf den Tod.

Es war Ende Mai oder vielleicht Anfang Juni, als Matilda eine Karte von ihrer ältesten Tochter erhielt. Brenda schrieb, sie und ihre Brüder würden leiden und wüssten nicht, was sie tun sollten. Sie bräuchten ihre Mutter. Ohne sie würden auch sie sterben. Sie müsse zu ihnen zurückkommen. Und Matilda, die ihre Kinder mehr als alles andere liebte, kehrte tatsächlich zurück.

Am zweiten Wochenende im Juni 1995 führte Matilda zum ersten Mal den „Ramona-Wilson-Gedächtnismarsch“ vom Highway 16 zur Yelich Road an. Seitdem hat sie dies jedes Jahr getan. Im Laufe der Jahrzehnte hat er sich verändert. Er führt nicht mehr die elf Kilometer von Smithers bis zu dem Ort, an dem Ramona gefunden wurde, denn viele Läufer, darunter auch Matilda, sind zu alt geworden, um diese Strecke zurückzulegen. Andere Teilnehmer, die so viele Jahre lang jedes Jahr kamen, sind inzwischen verstorben. Und bei dem Gedenkmarsch geht es nicht mehr nur um Ramona. Es geht um all die Mädchen und Frauen, die am „Highway of Tears“ verschwunden sind. Einige, wie Ramona, wurden tot aufgefunden. Andere wie Delphine sind einfach verschwunden.

Matilda läuft für sie alle.

Highway der Tränen

Подняться наверх