Читать книгу Immer ist alles schön - Júlia Wéber - Страница 6

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Bruno und ich betrachten das Sonnenlicht, das in der Küche in der Form des Fensters über den Tisch wandert und über den Beton des Balkons. Wir nennen es das schleichende Licht. Wir zupfen Haare und Staubbällchen von unseren Socken, lassen Staubbällchen und Haare zu Boden segeln. Wir schließen Wetten ab, wo sie landen werden, und pusten, um sie dorthin fliegen zu lassen. Wir ziehen mit dem Finger die Milchhaut von der Milch, streichen sie an der Unterseite der Sitzfläche unserer Stühle ab. Wir spucken vom Balkon. Wir denken darüber nach, dass es in uns warm ist, dass es in uns warm ist und wir dennoch frieren. Wir denken darüber nach, dass man nicht mehr weiß, wo der eigene Körper beginnt, wenn das Außen gleich warm ist wie man selbst. Wir halten zum Beweis unsere Hände in lauwarmes Wasser und finden die richtige Temperatur nicht. Wir stellen fest, dass ich innen wärmer bin als Bruno. Wir suchen nach fremden Orten, wir sitzen auf dem Balkon und zählen die Kaugummis an der Reckstange im Hof: 197.

Dann steht Mutter nackt im Flur. Ihr Oberkörper wankt, als wäre sie ein Baum und als gäbe es Wind in der Baumspitze. Hinter ihr die Bilder an der Wand. Hinter ihr sie selber noch einmal nackt, hinter ihr die Wolke in Tassenform, hinter ihr ein Fahrrad mit winzigen Rädern. Ich erinnere mich, wie Mutter mit dem Bild vom Fahrrad nach Hause kam, wie sie es unter ihrem leuchtend roten Pullover hervorgenommen hat, wie sie gesagt hat, es regnet.

Das weiß ich noch, weil von Mutter das Wasser auf den Boden tropfte, und sie hat uns angesehen, dann auf das Bild, dann wieder uns, wieder das Bild, als hätte unser Dasein etwas mit den Proportionen des Fahrrads zu tun. Das Wasser tropfte von ihrer Nase und den Schultern, den Armen zu Boden und bildete dort kleine Lachen, es lief auch in die Rillen des Bodens hinein. Mutter war aufgeweicht und sah Bruno und mich an, wie wir im Schlafanzug vor ihr standen. Sie hat das Bild vorsichtig auf den Boden gelegt und uns dann gefragt, ob wir vielleicht kurz zu ihr kommen könnten, dann hat sie uns lange umarmt, ich erinnere mich an das langsame Nasswerden meiner Brust, des Bauches und der Arme. Ich erinnere mich, dass es gar nicht unangenehm war, nass zu werden.

Jetzt liegen ihre Haare als Vorhang vor dem Gesicht, und sie atmet durch den Mund. Sie legt Arm und Kopf an den Türrahmen. Durch ihr Haar hindurch blickt sie irgendwo in die Küche oder in irgendeine Küche hinein.

Hallo Tierchen, sagt sie, neben ihrem Gesicht klebt ein halb ab­gekratzter Pferdekopf, und dann geht sie ins Bad.

Später nimmt der Wind das Vogelbrot vom Balkongeländer. Später lässt der Wind Werbeprospekte durch den Innenhof fliegen. Später ist Mutter noch immer unter der Dusche, und auf Brunos Schlafanzug ist noch immer das Monster mit den vielen Beinen. Ich stehe vor dem Bad.

Alles gut?, frage ich und klopfe an die Tür.

Mutter antwortet nicht.

Alles gut?, frage ich.

Das Wasser fällt.

Geht es dir gut?

Nur das Geräusch vom Wasser, das auf Mutter und in die Wanne fällt. Das Plätschern, durch das ich weiß, dass sie steht. Ich frage Bruno, was ich tun soll, setze mich auf den Boden, weil ich zu unruhig zum Stehen bin, stehe auf, weil ich nicht sitzen kann, setze mich, weil ich nicht stehen kann. Bruno weiß es nicht, obwohl er viel weiß. Bruno weiß, wie hoch die höchste Brücke der Stadt und wo der tiefste Punkt des Meeres ist.

Ich gehe zurück. Ich schlage die Faust gegen die Tür, bewege die Türklinke auf und ab. Drinnen das Plätschern.

Es wächst draußen am Himmel eine fantastische Wolke, sie wächst in den Himmel hinein, ist hinten schiefergrau und vorne weiß. Und Frau Wendeburgs weiche Katze sitzt auf den Briefkästen, in ihrem Fell spielt der Wind. Und draußen geht Frau Wendeburg in ihrem grünen Wollmantel durch den Hof. Sie hält sich selbst im Arm, und sie schaut nach oben, an die Fassaden der Häuser. Sie sieht aus, als wäre sie allein auf der Welt, und würde ich hinausgehen und sie grüßen, könnte es sein, dass sie erstaunt wäre darüber, dass es mich gibt. Und neben ihr im Hof steht der Baum allein und hinter ihm sein Schatten.

An Frau Wendeburgs Arm tanzt der Leinenbeutel im Wind.

Als das Plätschern endlich endet, höre ich den Duschvorhang, der zur Seite geschoben wird, höre Mutter den Spiegelschrank öffnen und schließen, ich höre Bruno, wie er sich ankleidet, wie er sein Taschenmesser von der Kiste neben dem Bett nimmt und es in der Hand dreht, dann am Hosenbund befestigt, seine Hand auf den Fuchs legt. Ich sehe ihn, wie er einmal über das Fell des Fuchses streicht. Der Fuchs, der innen kalt ist, den Mutter uns mitgebracht hat, der neben unserem Hochbett steht, um uns zu beschützen, wie Mutter sagte. Der Fuchs, dem ein Auge aus dem Kopf gefallen ist und dessen Beine krumm sind, weil Bruno sie verbogen hat, als er noch nicht reden konnte und nichts verstanden hat.

Bruno sagt, er könne sich nur schwer vorstellen, einmal sprachlos gewesen zu sein. Er könne sich mich aber gut als Säugling vorstellen. Ich schlage Bruno daraufhin die Brille vom Gesicht. So ist Bruno vorübergehend blind und flucht über mich, dann schreit Mutter im Bad, dass sie genug habe von diesen Stimmen immer, diesen Menschen ständig um sie herum und den Stimmen und dem Jammern, und immer wolle jemand etwas von ihr. Ich stehe erschrocken neben dem Fuchs und rufe, dass wir von niemandem überhaupt nichts wollen.

Dass wir bloß streiten, weil wir Kinder sind, ruft Bruno.

Der kleine Bruno dreht mir den Rücken zu, ich sehe seine Magerkeit, hebe die Brille auf, schiebe ihm die Bügel hinter die Ohren. Er schaut hoch zu mir.

Was ist mit Liebe?, frage ich.

Das Fell des Fuchses ist trocken, und unter dem Fell ist der Fuchs hart.

Keine Zeit, sagt Bruno und will davon, aber ich halte ihn am Hosenbund fest. Er dreht sich um.

Bruno mit dem tiefseeblauen Klebeband am Brillenrand.

Bruno mit dem ausgefransten Ausschnitt des Pullovers, den er beim Denken in den Mund nimmt, bis der Stoff verschwindet.

Bruno mit den dicken Brillengläsern und den vom Wissen vergrößerten Augen dahinter.

Ich habe bei Bruno einen Zettel gefunden.

Liebe Anita,

ich habe bemerken müssen, dass du in Geografie nicht sehr gut bist, um ehrlich zu sein, fand ich es schockierend, dass du die Hauptstadt Lettlands nicht kennst.

(Riga, 699 203 Einwohner, 7 m ü.M., größte Stadt des Baltikums.)

Ich könnte dir helfen. Ich könnte zu dir nach Hause kommen, und wir würden zusammen die Landkarte betrachten, und ich würde dich abfragen.

Lieber Gruß

Bruno

Bruno ist in Anita verliebt, und ich denke manchmal an Peter.

Das ist das Leben, sagte Mutter, das ist ganz normal.

Sie sagte, jetzt wirst du bald mein Rouge haben wollen und wirst sehr große Busen bekommen und deine Tage auch. Dann willst du eine Tätowierung und rote Lackstiefel haben wollen, Glitzerhemden, Kondome, alles.

Das will ich überhaupt nicht, sagte ich.

Du wirst schon sehen, sagte Mutter.

Wirklich nicht, sagte ich.

Doch, doch, sagte sie.

Mutter kommt aus der Dusche. Sie trägt ihren Kopf auf einem langen Hals, auf dem die Muttermale oberhalb des Schlüsselbeins beinahe eine Perlenkette ergeben. Manchmal möchte ich ihren Hals berühren, die Muttermale, aber ich weiß nicht wie; ihre feinen blonden Härchen am Hals. Manchmal denke ich, dass Mutter zu groß, zu blond und zu lebendig ist, dann tut es mir leid. Manchmal wünsche ich mir eine Mutter mit mattem Haar, zerknitterter Schürze, sanften, müden Augen.

Manchmal vermisse ich Mutter, obwohl sie da ist, und manchmal habe ich das Gefühl, sie sitzt in mir drin.

Mutter sagte einmal, wenn man tanze, dann liebe man das Le­ben, und wenn man tanze, liebe einen das Leben auch. Das weiß ich noch, weil sie, als sie das sagte, einem Huhn ein Bein abtrennte, ich erinnere mich an das Messer im Huhn.

Wenn sie hingegen Tee trinke, sagte sie, dann werde sie krank. Das sei wegen des Geschmacks, da reagierten die Zellen drauf, die reagierten auf den Geschmack von Tee mit Krankheit.

Also ist Tee das Gegenteil von Tanz, sagte Mutter.

Blödsinn, flüsterte Bruno. Das weiß ich noch, weil, als Bruno das sagte, Mutter mit dem Messer auf ihn zeigte. Ich erinnere mich an die Lichtreflexion auf dem Messer.

Wind schlägt die Fensterläden gegen die Wand. Tack, tack.

Mutter sitzt auf ihrem unendlichen Bett und lächelt.

Zu mir kommen, sagt sie mit den Fingern.

Wir legen uns auf sie, und sie sagt, es ist gut.

Die Tropfen kleben als Perlen an der Scheibe. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, und der Rauch steigt als Faden vor ihren Augen an die Decke. Wir liegen in ihrer seidenen Gold­bettwä­sche. Im Kleiderschrankspiegel und den drei Spiegeln hinter Mutters Bett sehe ich uns unendlich oft auf dem Bett sitzen. Unendlich viele Rauchfäden steigen an die Decke, unendlich viele Brunos haben ihren Kopf auf Mutters Beine gelegt, unendlich viele Ichs schauen mich an, und unendlich viele Mutterkörper sind von ihren Kindern halb bedeckt.

Ist gut?, frage ich.

Ja, ist gut, sagt sie.

Was ist gut?, fragt Bruno.

Alles, sagt sie.

Alles ist gut?, frage ich.

Ja, sagt Mutter, alles gut.

Dann kratzt sie Eingetrocknetes vom Nachttisch und schaut sich selbst dabei zu.

Also wirklich alles gut, sage ich und umarme Mutters Rücken. Ich lege mein Gesicht an ihr Schulterblatt, das von der Kratzbewegung ihrer Finger auf und ab geht. Ihr Hemd ist aus einem feinen Stoff.

Und als Mutter aus ihrem Schweigen auftaucht, beginnt sie, von Freundinnen zu reden. Sie hätte Freundinnen gehabt, früher, sagt sie, mit denen sie auch so gesessen und gelegen habe, manchmal, und sie hätten über dies und das und Träume und Männer und Vorstellungen und Begegnungen und Bewegungen geredet. Und irgendwann hätte sie aber bemerkt, wie es immer weniger Bewegungen, Begegnungen und Vorstellungen wurden. Immer weniger Wahrheit in den Begegnungen, sagt sie. Bis sie irgendwann ihren Freundinnen so fremd geworden sei, dass sie sich gewünscht habe, ihnen fiele der Mond auf den Kopf.

Warum der Mond?, fragt Bruno.

Ja, der Mond, sagt Mutter.

Und dann saßen wir nie mehr zusammen und auch sonst nirgends mehr, und jetzt bin ich mit euch hier. Ihr seid jetzt meine Freundinnen, sagt Mutter.

Wir sind deine Kinder, sagt Bruno.

Noch schöner, sagt sie, und dann singt sie ein Lied, aber kann den Text nicht, also summt sie, aber weil das Summen nicht Singen ist, verstummt sie. Und dann schweigen wir. Es ist ein gutes Schweigen. Bruno schweigt am stillsten. Mutter eher emotional.

Immer ist alles schön

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