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DIE BESPRECHUNG

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»Hallo Bianca!« Kriminalkommissar Lukas Glattner steht in der Tür und rührt vorsichtig in seiner Kaffeetasse.

»Guten Morgen Lukas, wir haben einen Mord, hast du schon gehört?« Bianca Obermeier wirkt aufgekratzt. Für die frischgebackene Kriminalkommissarin ist dies erst ihr zweiter Mordfall.

»Mhm, wir sind ja auch die Mordkommission«, brummelt Lukas in seine Tasse hinein.

»Jedenfalls treffen wir uns um neun mit dem Chef zur Lagebesprechung«, sagt Bianca mit einem Strahlen im Gesicht.

Sie gehört seit drei Monaten zu der kleinen Truppe. Mit ihren 26 Jahren ist sie eine der jüngsten weiblichen Kriminalkommissare in Baden-Württemberg. Nach dem Abitur hat sie sich zum Leidwesen ihrer Eltern sofort und voller Begeisterung bei der Polizei beworben. Auch jetzt ist sie mit Elan dabei, obwohl sie inzwischen erkannt hat, dass der Berufsalltag weit weniger aufregend ist, als sie sich das vorgestellt hat.

Bianca ist eine schlanke und sportliche junge Frau, die sich trotz mancher Abscheulichkeiten, die sie durch ihren Beruf erleben muss, ein großes Maß an kindlicher Naivität erhalten hat – jedenfalls bis jetzt.

»Okay, dann bis gleich.«

Lukas verschwindet aus der Tür, um sich erst einmal ganz seinem frischen Kaffee zu widmen. Der große, gutaussehende Mittdreißiger, der sich entspannt auf seinem Bürostuhl niederlässt, gilt als die rechte Hand des Chefs. Die beiden Männer verstehen sich ausgezeichnet, wobei Lukas die Erfahrung und Weitsichtigkeit seines Vorgesetzten bewundert, während Jürgens die feinsinnige Intelligenz und unbedingte Einsatzbereitschaft seines jungen Kollegen besonders schätzt. Eine Tür weiter sitzt Wladimir, ein hagerer junger Mann mit abenteuerlicher Mähne und dazu passendem, wilden Vollbart halb versteckt hinter zwei riesigen Monitoren am Schreibtisch.

Wladimir Kozhanov ergänzt das Team um Jürgens als Kriminalassistent und Mädchen für alles. Sein Geschick mit dem Computer lässt seine Kollegen regelmäßig staunen. Jede Information hat er innerhalb kürzester Zeit verfügbar und sein ganzer Ehrgeiz besteht darin, alle Verbindungen und Geheimnisse des Internets zu kennen. Deshalb wird gemunkelt, er habe ehemals der russischen Hackerszene angehört und sei dort in Ungnade gefallen. Das ist eher unwahrscheinlich, jedenfalls wird das Gerücht vom Chef stets als Unsinn abgetan.

Zwanzig Minuten nach dem Gespräch auf dem Gang trifft sich Jürgens mit seinen drei Mitarbeitern in dem kleinen, fensterlosen Raum, der eigentlich für Verhöre gedacht ist, aber aus Platzmangel für Besprechungen genutzt wird.

Im Allgemeinen finden Befragungen in einem der Büros statt, solange es sich um Zeugen und Personen handelt, von denen keine gewalttätigen Aktionen zu erwarten sind. Insgesamt besteht die Mordkommission aus vier, etwa gleich großen Büros, die jeweils durch Zwischentüren miteinander verbunden sind, und aus dem Verhörraum. In dem großen Gebäude in der Hertzstrasse sind noch andere Dezernate untergebracht und jedes einzelne klagt über einen Mangel an Räumlichkeiten.

»Alles Gute zum Geburtstag, nachträglich!«

Jürgens sieht überrascht auf und Bianca streckt ihm einen bunten Blumenstrauß entgegen, während Lukas eine Flasche Rotwein zum Vorschein bringt, die er zuvor hinter seinem Rücken versteckt gehalten hat.

»Oh, ah, dass ihr daran gedacht habt, vielen Dank!« Der Chef ist gerührt und leicht verlegen.

»Auch von mir alles Gute und viel Glück im neuen Lebensjahr.« Wladimir überreicht Jürgens ein säuberlich in Geschenkpapier eingepacktes Päckchen mit Schleife. Obwohl sein Deutsch inzwischen recht gut ist, hat Wladi, wie er von seinen Kollegen liebevoll genannt wird, noch immer keine Chance, seinen russischen Akzent zu verbergen. Um keinen Fehler bei der Wortwahl zu machen, hatte er sich die Formulierung seiner Geburtstagsgratulation schon seit Tagen zurechtgelegt. Durch seine harte Aussprache klingen seine Äußerungen teilweise etwas schroff, manchmal aber auch eher lustig. Die Geburtstagswünsche klangen aber auf jeden Fall herzlich und ehrlich.

»Danke, Wladimir, vielen Dank euch allen, aber das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen …«

Nachdem die Blumen in einer Vase provisorisch versorgt und der Rotwein begutachtet wurde, will Jürgens endlich auf den aktuellen Fall zu sprechen kommen, muss aber zuvor der Forderung der drei nachkommen, und Wladimirs Geschenk auspacken. Zum Vorschein kommt ein edler Korkenzieher im Holzkästchen.

»Jetzt steht einem anständigen Besäufnis nichts mehr im Wege«, meint Jürgens mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, um sich danach ein letztes Mal überschwänglich bei allen zu bedanken.

Dann wird er wieder ernst und beginnt mit seiner Zusammenfassung der Situation:

»Gestern Morgen wurde Doktor Paul Retzig, 37, Facharzt für Orthopädie in eigener Praxis, auf einer Brücke über der A5 zwischen Karlsruhe und Bruchsal durch einen Kopfschuss getötet.«

Auf dem großen Videobildschirm an der Wand erscheint ein Bild der Leiche, nachdem Jürgens mit einem Tastendruck den Ruhemodus seines Laptops beendet hat.

»Wir haben kein Projektil gefunden. Deshalb ist unklar, mit welcher Art von Waffe der Schuss abgefeuert wurde, es könnte sich bei der Tatwaffe also sowohl um ein Gewehr als auch um eine Pistole, oder einen Revolver handeln.«

Jürgens deutet mit der Fernbedienung, die auch als Laserpointer dient, auf das Einschussloch in der Stirn des Opfers auf der Videoprojektion.

»Der Mann wurde direkt auf der Brücke erschossen?« Lukas, der sich inzwischen rittlings auf einen für ihn viel zu kleinen Stuhl gesetzt hat, sieht seinen Chef fragend an. Der nickt kurz.

»Und von wo wurde geschossen?«

»Tja, das ist hier die Gretchenfrage, Lukas.« Nachdem Jürgens das Team über das Fehlen jeglicher Informationen zu Richtung und Entfernung des Schützen und über die Tatzeit informiert hat, herrscht nachdenkliches Schweigen in der Gruppe.

»Und niemand hat den Schuss gehört?«, unterbricht Bianca das Grübeln. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl und schreibt ständig Notizen in ein sehr kleines Büchlein.

»Nein, nach dem vorläufigen Stand der Ermittlungen hat niemand den Schuss gehört. Auch das Rentnerehepaar, das die Leiche beim Morgenspaziergang entdeckte, hat nichts gehört.«

»Wir haben also nichts, nur die Leiche in Joggingbekleidung und die ungefähre Tatzeit?«

»Leider ja. Wie bereits gesagt, könnte der Schuss von überall abgegeben worden sein, sogar aus einem fahrenden Auto heraus.« An dieser Stelle macht Jürgens eine kleine Pause.

»Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.«

Fragende Blicke. Jürgens blickt in die Runde, dabei zieht er die Augenbrauen hoch und formt die Lippen zu einem süffisanten Grinsen ehe er fortfährt.

»Interessanterweise wurde nämlich vor ziemlich genau zwei Wochen ein Jugendlicher auf einer anderen Autobahnbrücke über der A5 bei Kronau erschossen. Dieser Tatort ist nur etwa 20 Kilometer entfernt vom Fundort der Leiche gestern. Die Tat damals hatte etwa 15 Minuten nach einer Verkehrsdurchsage stattgefunden, in der vor Steinewerfern auf der betreffenden Brücke gewarnt worden war.« Jetzt schauen alle drei überrascht zu ihrem Chef, der sich einen Stuhl heranzieht und dann mit seiner Erzählung fortfährt.

»Insgesamt standen vier Jugendliche auf der Brücke, als das passierte. Die drei Überlebenden waren sich sicher, dass der tödliche Schuss aus einem auf der Autobahn in Richtung Norden fahrenden PKW abgefeuert worden war. Da weder das Kennzeichen des Fahrzeuges noch die Marke bekannt ist, gestaltete sich die Fahndung bis jetzt erfolglos.«

»Für mich sieht das nach ein und demselben Täter aus«, kommentiert Bianca, die inzwischen ihr Notizbüchlein zur Seite gelegt hat und jetzt eifrig an ihrem Handy herumdrückt. Das Schreiben mit der Hand auf Papier geht ihr offenbar nicht schnell genug. »Der hat es vielleicht auf Steinewerfer abgesehen und war gerade in der Nähe. Das war dann seine Stunde.«

Jürgens ist auf diesen Einwand vorbereitet und nickt. »Okay, aber warum dann Doktor Retzig – der hatte doch keine Steine geworfen, jedenfalls ist nichts Derartiges bekannt?«

Abermals folgt ein kurzes Schweigen, während jeder die Fakten abwägt.

»Könnte es sein, dass der Mörder einfach auf den Geschmack gekommen ist und jetzt auf Verdacht Menschen auf Autobahnbrücken erschießt, nachdem es beim ersten Mal geklappt hat?«, versucht Bianca ihre Hypothese zu verteidigen.

»Die Ähnlichkeit der beiden Fälle drängt sich natürlich auf«, pflichtet Jürgens ihr bei, »wenngleich es beim zweiten Mal nicht dieselbe Brücke, sondern eine in der Nähe war. Das ändert aber grundsätzlich nichts.«

Jetzt meldet sich auch Wladimir zu Wort, indem er förmlich die Hand hebt, worauf sein Chef ihn mit einem »Ja bitte« zum Reden auffordert.

»Sie sagten, es wurde kurz vor der Tat im Radio vor Steinewerfern auf genau dieser Brücke gewarnt.«

Jürgens bestätigt mit einem kurzen Nicken.

»Bianca«, dabei dreht er sich ihr zu, «du denkst, der Täter könnte jemand mit einem besonderen Hass auf Steinewerfer sein?«

»Ja. Vielleicht jemand, der durch einen Steinewerfer verletzt wurde, oder jemand aus seiner Familie, oder ein Freund, oder eine Freundin.«

»Okay, das kann ich nachvollziehen, aber fünfzehn Minuten nach der Durchsage, das ist sehr wenig Zeit«, gibt Wladimir zu bedenken.

»Aber es ist nicht unmöglich«, verteidigt sich Bianca.

»Na ja, aber wäre es nicht auch möglich, dass ein Durchgeknallter auf der Autobahn unterwegs ist und ziemlich wahllos auf Menschen schießt, die sich auf Autobahnbrücken aufhalten? Immerhin gab es beim gestrigen Mord keine vorangegangene Warnung vor Steinewerfern im Radio.«

Lukas schüttelt bedächtig den Kopf.

»Kann mir mal jemand erklären, wie das gehen soll: bei voller Fahrt einen gezielten Schuss abgeben und auch noch treffen? Selbst wenn der Schütze Linkshänder ist, kann ich mir das nicht vorstellen.«

»Stopp, einen Moment bitte«, unterbricht Jürgens, der inzwischen in einigen Unterlagen geblättert hat, die Diskussion. »Ich habe soeben noch einmal die Zeugenaussagen im ersten Mordfall, also dem tödlichen Schuss vor zwei Wochen, gelesen: die Jungs auf der Brücke haben eindeutig eine Hand mit einer Waffe gesehen, aber auf der rechten Seite des Wagens.«

Ein Raunen geht durch das Team. Das wird ja immer sonderbarer. Nach einer kurzen Pause nimmt Lukas die Diskussion wieder auf. »Dann sind es also zwei, oder zumindest hat der Schütze einen Fahrer, der bei der Sache mitmacht. Ansonsten bliebe als Erklärung nur noch ein Wagen mit Rechtslenkung.«

Jürgens zuckt ratlos mit den Schultern. »Es sieht wirklich danach aus, dass es jemand auf Menschen auf Autobahnbrücken abgesehen hat und dass es zwei Täter sind. Aber trotzdem müssen wir auch alle anderen Möglichkeiten in Betracht ziehen und somit das berufliche und das private Umfeld des Opfers überprüfen, wie immer.«

Er steht auf und deutet auf die Übersichtsaufnahme vom gestrigen Tatort, die jetzt auf dem Videobildschirm zu sehen ist. »Falls der Schuss nicht von der Autobahn aus abgefeuert wurde, wie das offenbar vor zwei Wochen der Fall war, dann müsste er aus dem Waldgebiet rechts oder links der Autobahn, oder möglicherweise auch direkt von dem Weg, auf dem das Opfer seine Sonntagmorgenrunde drehte, gekommen sein.«

Jürgens schaltet den Bildschirm aus und legt die Fernbedienung auf den Tisch.

»Ich werde mich auf jeden Fall mit dem zuständigen Revierförster und dem Jagdpächter des Gebietes in Verbindung setzen. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist, dass hier jemand am frühen Morgen verbotenerweise herumgeballert hat und dass eine verirrte Kugel das Opfer getötet hat. Möglicherweise hat auch jemand den Schuss gehört und den Förster verständigt.

Was das Umfeld des Opfers anbelangt: Doktor Retzig war unverheiratet und bewohnte seine Wohnung am Geigersberg allein, aber er hatte eine Freundin, wie wir von dieser selbst wissen. Sie hat nämlich gestern versucht, ihn auf dem sichergestellten Handy zu erreichen, nachdem er überfällig war.«

»Aha, da haben wir ja womöglich schon eine Verdächtige?« Jürgens lässt Biancas Frage unbeantwortet und fährt fort.

»Sie heißt …«, er sucht in seinen Notizen und fährt dann fort, »also ihr Name ist Rebekka Weis. Sie hat uns unter anderem auch die Adresse und Telefonnummer von Doktor Retzigs Praxis in der Kaiserallee gegeben.«

An Wladimir gewandt gibt er die Anweisung: »Bitte rufen Sie dort an und informieren das Praxisteam dahingehend, dass der Doktor nicht kommt, dafür aber jemand von uns innerhalb der nächsten Stunde.«

Wladimir nickt und Jürgens fährt fort: »Ich erwarte den vorläufigen Obduktionsbericht und den Bericht der KTU im Laufe des Tages. Sobald ich etwas habe, sage ich Bescheid.« Jürgens legt den Ordner, den er gehalten hat, vor Wladimir auf den Tisch. »Bianca und Wladimir, ihr fahrt zur Praxis von Doktor Retzig und sprecht mit den Angestellten. Uns interessieren Streitigkeiten mit Patienten und Kollegen, außergewöhnliche Vorkommnisse in der Praxis oder mit Pharmavertretern oder -firmen, Probleme mit Angestellten, auch mit ehemaligen.«

Sein Team ist bereits in Aufbruchsstimmung. Bianca ist als erste an der Tür, bereit endlich mit der Untersuchung zu beginnen.

»Und seht zu, was ihr über sein Privatleben herausfinden könnt.«

»Alles klar, Chef, ich weiß Bescheid«, winkt Bianca ab, doch sie bleibt stehen, um das Ende der Unterhaltung abzuwarten. »Danach fahrt in seine Wohnung – hier sind diverse Schlüssel aus dem Auto des Opfers, einer davon müsste passen – und schaut euch dort um.« Jürgens wirft ihr einen kleinen Schlüsselbund zu, den sie geschickt auffängt.

»Den richterlichen Beschluss besorge ich, ihr könnt ihn auf dem Rückweg von der Praxis bei mir abholen. Und vergesst nicht, die Wohnung zu versiegeln, wenn ihr fertig seid. Bei Fragen, Problemen, Besonderheiten bitte anrufen.«

»Jawoll, Papa«, antwortet Bianca mit einem schelmischen Grinsen und hält den rechten Daumen nach oben. Jürgens wirft ihr einen ebenso schelmischen Blick zu und hebt mahnend einen Zeigefinger, aber da ist Bianca bereits draußen.

»Chef, hat eigentlich die Spurensuche am Tatort noch irgendetwas ergeben?«, wirft Lukas ein, um den Fokus wieder auf wichtige Dinge zu lenken.

»Nein, da war leider nichts Verwertbares zu finden. Das Suchgebiet war eigentlich für die paar Leute zu groß und der Suchhund hatte entweder keine Lust oder es gab tatsächlich überhaupt nichts.«

Nach einer kurzen Pause fährt er fort. »Lukas, du fährst zu dieser Frau Weis, sie wohnt in Weiherfeld und ist zu Hause erreichbar. Auch von ihr wollen wir so viel wie möglich über das Umfeld des Opfers erfahren, du kennst das ja.«

»Geht in Ordnung, hoffentlich hat sie den Schock einigermaßen verkraftet. Wissen wir schon, was sie beruflich macht, auch etwas Medizinisches, oder?«

»Sie sagte, sie sei Farb- und Stilberaterin«, Jürgens streckt in einer hilflosen Geste seine Arme seitlich aus und zieht beide Schultern hoch, »was auch immer das sein mag.«

»Hm«, mehr ist von Lukas nicht zu hören.

»Inzwischen werde ich mich um die Behörden kümmern: Ärztekammer, Finanzamt, Ordnungsamt und um die Bankangelegenheiten des Opfers. Gut, geh’n wir‘s an.« Der Chef wendet sich zur Tür und verlässt den Raum.

Steiniger Tod

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