Читать книгу Kommissar Aschoka rächt seinen Tod - Joachim Kunst - Страница 10
Kapitel 8: Die Angehörigen Aschokas
ОглавлениеDie Untersuchung der Leiche hat Grachus zwar keine konkrete Spur aufgezeigt, bestenfalls so etwas wie kleine Hinweise. Trotzdem hat sie ihm zweierlei bestätigt: Ein natürlicher Tod scheidet so gut wie aus. Sonst hätte Dr. Koshiba Anzeichen einer Krankheit finden müssen, eigentlich sogar die konkrete Todesursache. Weiterhin: Ein Selbstmord hinterlässt in aller Regel Spuren. Da keine aufgefunden wurden, kann man Selbstmord ebenfalls weitgehend ausschließen, insbesondere, da die Lebensverhältnisse, besonders das eigene Verhalten des Toten, nicht auf einen Selbstmord hindeuten sondern eher auf eine aktive Zukunftsgestaltung. Zwangsläufig drängt sich Grachus die dritte Alternative auf: ein unnatürlicher Tod, also Mord.Damit ist er wieder an den Punkt zurückgekehrt, der für ihn – allerdings intuitiv – der Ausgangspunkt war: ein rätselhafter Tod, hinter dem sich ein Mord verbergen kann.
Doch wo mit der Aufklärung beginnen? Aus Erfahrung weiß Grachus, dass er bei dem beruflichen und familiären Umfeld des Toten beginnen muss. Nach dem Tod von Tochter und Ehefrau stand Aschoka seine Enkelin Roxane am nächsten. Er weiß aus Bemerkungen Aschokas, dass dieser an seiner Enkelin hing und sie an ihrem Opa. Aschoka hatte seiner Enkelin schon manche Reise finanziert, die sein Schwiegersohn Timo Beil nicht hätte bezahlen können. Diese Reisen hatten sie zu dritt gemacht, oder auch seine Enkelin mit ihrem Vater.
Einige Male hatten diese Reisen auch nach Indien oder in die nähere Umgebung von Indien geführt. Der Grund dafür waren das große Interesse Aschokas für dieses Land, insbesondere die Geschichte dieses Landes mit dem großen Maurya-Kaiser Ashoka und seiner Liebe zu seinem Volk und seinen Gesetzen, von denen er viele in Stein gemeißelt über sein ganzes Riesenreich verstreut hatte. Der Gerechtigkeitssinn dieses großen Gesetzgebers hatte Aschoka fasziniert,und er hatte Grachus, wenn er in der entsprechenden Stimmung war, des öfteren davon berichtet.
Auch über die verstorbenen Angehörigen Aschokas macht sich Grachus Gedanken. Zwar kommen sie nicht als Mörder in Frage. Trotzdem interessieren sie Grachus, da er sich ein Bild vom Leben seines Kollegen machen will. Da ist zunächst Amália, die Ehefrau Aschokas. Von Beruf Rechtsprofessorin, hat sie schon früh ihren Beruf aufgegeben, um sich ganz ihrer Familie zu widmen. Er weiß von seinem Kollegen Aschoka, dass ihre Gesundheit angegriffen war durch ein Asthmaleiden, das sie von Kindheit an hat. Sie geht ganz in ihrem Beruf auf und macht sich viel Gedanken über die Entwicklung des Rechts in den westlichen Ländern. Sie glaubt, einen Rückgang des Gerechtigkeitsgedankens wahrzunehmen und zieht Vergleiche mit antiken Rechtssystemen, u.a. mit dem indischen. Aus der indischen Literatur, mit der sie sich ausgiebig beschäftigt hat, weiß sie auch, dass zwischen der Gerechtigkeitsvorstellung von Kaiser Ashoka und dem friedlichen und toleranten Gerechtigkeitsideal von Mahatma Gandhi viele Verbindungen bestehen. Und sie weiß auch, dass Ashoka für Gandhi Vorbild und Leitidol war.
Sie weiß aber auch, dass die Rechtsvorstellungen des indischen Kaisers in seinen religiösen buddhistischen Vorstellungen wurzelt und dass es nicht zuletzt das Bemühen Ashokas war, das Rechtsgefühl seines Volkes aus den alten Fesseln hinduistischer Mystik zu befreien. Diese hinduistische Mystik, die sich im unbarmherzigen Kastendenken bis auf den heutigen Tag manifestiert, predigt höchste Intoleranz gegenüber Mitgliedern einer anderen Kaste. Das ging so weit, dass Mitglieder einer niedrigeren Kaste, die Dinge tun – vielleicht sogar nur denken – die einer höheren Kaste zu tun oder denken vorbehalten sind, dies „Verbrechen“ mit allerschwersten Strafen sühnen müssen: Veda-Lesungen zum Beispiel durften nur von höheren Kasten gehört werden. Wenn ein Angehöriger einer zu niedrigen Kaste zuhörte – und infolgedessen auch mitdachte -, wurden seine Ohren mit geschmolzenem Zinn gefüllt. Spricht er einen Veda-Vers nach, soll ihm die Zunge herausgeschnitten werden. Solche Vorstellungen, die in der Zeit des indischen Kaisers Ashoka grassierten, wollte der Kaiser überwinden, indem er Toleranz und Liebe zu seinen Mitmenschen predigte. Der Buddhismus, der zu seiner Zeit erst zwei- bis dreihundert Jahre alt war, erschien ihm dafür der richtige Weg. Amália quälte auch der Gedanke, ob das Christentum der richtige Weg zu mehr Gerechtigkeit im Rechtssystem der Völker in unserer Zeit ist, wo zunehmende Globalisierung und die ungeheure Finanzmacht weniger Superreicher die Gerechtigkeit immer stärker in Frage stellen. Ein System, aus dem wenige Nutzen ziehen, ohne sich angemessen an den Kosten zu beteiligen, durch die dieser Nutzen erst ermöglicht wird. Es sieht nicht so aus, als ob das Christentum Lösungen anbietet, die sich auch durchsetzen können im Denken und Handeln der Menschen. Ob da der Buddhismus mehr leisten könnte, indem er Materialismus und Selbstsucht stärker anprangert?
Für Amália versuchen die Christen zu oft, das hässliche Gesicht der Ungerechtigkeit hinter der Maske der Barmherzigkeit zu verstecken. Die Barmherzigkeit der echten Christen ist für sie gut und notwendig.Doch Gerechtigkeit ist höher zu bewerten und auch notwendiger. Mit Barmherzigkeit und Mitleid kann man – so glaubt sie – Wunden, die Not und Ungerechtigkeit schlagen, zwar verdecken, vielleicht auch ein bisschen kurieren, man kann aber nicht die Krankheit heilen, von der diese Wunden stammen.
Einmal hatte Aschoka seinen Kollegen Grachus eingeladen, an einem Essen teilzunehmen, das er gab und anlässlich dessen eine Diskussion über moderne Rechtssysteme und ihre Wurzeln in der Geschichte stattgefunden hat. Eingeladen war auch der Freund der Familie, Professor Wessels. Grachus glaubt, dass Aschoka ihn als seinen engsten Mitarbeiter einfach einmal in diese Dinge einführen wollte. Tatsächlich macht sich Grachus seit dieser Einladung mehr Gedanken über juristische Aspekte im Zusammenhang mit seiner eigenen Tätigkeit als Kriminalist. Wie Aschoka und auch seine Frau Amália dachten und ihre tiefe Verehrung für den indischen Kaiser sind ihm damals so richtig klar geworden.